Bernhard Springer: Klaus Kanzog als GANZTAGSWALLENSTEIN, 2007, 70 x 100 cm, Acryl und Sprühlack auf Leinwand
Bewusst sehen – mit Neugier, Liebe und Verstand!
In memoriam Klaus Kanzog
Im Januar 2025 starb in Alter von 99 Jahren Klaus Kanzog, eine Gründerfigur der deutschen Film- und Medienwissenschaft. Sein Tod hat in der Fach-Öffentlichkeit bisher nur vereinzelt ein Echo gefunden. Dabei war sein Einfluss groß und seine Arbeit prägend. Er hat Wege erschlossen und Spuren hinterlassen: nicht nur in der Forschung, sondern auch im Leben seiner Studierenden und Wegbegleiter. Sie kommen hier zu Wort: 15 Kanzogianerinnen und Kanzogianer erinnern an einen Meister seines Fachs – und an einen besonderen Menschen.
Der Professor als Mensch
Erinnerungen an Klaus Kanzog
Nach langer Zeit treffen sich alte Weggefährten und Kolleginnen bei der Beerdigung eines lieben Menschen wieder und lassen dabei alte Erinnerungen lebendig werden. Beim Abschied nehmen sie sich fest vor, sich bald wieder zu sehen, doch am Ende ist der Anlass wieder ein neuerlicher Todesfall.
Der Literaturprofessor, Editionsphilologe und Begründer der Münchner Filmphilologie Klaus Kanzog hat am 4. Januar 2025 ein reiches Forscherleben beendet. Auch bei seiner Beerdigung und Gedächtnisfeier haben seine zahlreich anwesenden ehemaligen Studentinnen und Studenten Erinnerungen ausgetauscht. Aber dabei wird es nicht bleiben. Sie haben ihm bereits zuvor zu seinen reichlichen Geburtstagsjubiläen rege Veranstaltungen mit Musik, Kabarett, Kunst und Film ausgerichtet und werden es wieder zu seinem 100. Geburtstag am 23. November 2026 tun. Das hat etwas mit der Persönlichkeit Klaus Kanzogs zu tun und ist in seinem studentennahen Wirken als Hochschullehrer begründet.
Michael Schaudig, gleichfalls Kanzog-Schüler und Mitbegründer des Verlages diskurs film, hat Klaus Kanzogs Gelehrtenleben und -schaffen in seinem Nachruf auf der Website des Germanistischen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität kenntnisreich ausgebreitet. Das gilt auch für den Nachruf von Bernhard Schemmel auf der Homepage der E.T.A Hoffmann-Gesellschaft.
Aber Kanzog war nicht nur wegen seines hohen Anspruchs als Literaturwissenschaftler geschätzt. Er war neben seinen Tugenden als Preuße und Humanist vor allem als Professor geschätzt, der sich verantwortlich für seine Zöglinge zeigte und sich dementsprechend aufmerksam und arbeitsintensiv um sie kümmerte. Er hat auch außerhalb des wissenschaftlichen Betriebes den Kontakt zu seinen Absolvent*innen im persönlichen Kontakt aufrechterhalten.
In diesem Zusammenhang habe ich deshalb die Kanzogianer gebeten, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Es ist eine große Erzählung geworden. Sie reicht von Kanzogs Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft bis zu seinen letzten Tagen im Krankenhaus Neuwittelsbach. Dazwischen erscheint Klaus Kanzog zum einen als großartiger Gelehrter und für die insbesondere hier versammelten Zeitzeugen als wegweisender Begründer der Münchner Filmphilologie. Zum anderen spiegeln die verschiedenen Ichs der Erinnernden einen Klaus Kanzog in ganz unterschiedlichen Facetten. Am Ende wird aus den Mosaiksteinchen der verehrte Professor als ganzer Mensch lebendig.
Bernhard Springer
Zwei Tempi
Erinnerungen an meinen Anfang mit Professor Dr. Klaus Kanzog
Er war klein, untersetzt, in dicken, schweren, dunklen Stoffen und in mehreren Schichten gekleidet, am Hals durch eine (rote!) Krawatte zugeschnürt: Den Mantel stets zugeknöpft, lief er nicht nur im Winter, sondern auch im brütenden Hochsommer mit Brille und dunkelblauer oder schwarzer Baskenmütze herum. Diese trug er zu allem Überfluss nicht etwa schräg am Kopf, wie es die Franzosen machen, wenn sie ihrem Kopf ein verwegenes Aussehen geben wollen, sondern gerade, was bei seiner kleinen Gestalt statt des intendierten universitären Baretts ein kleines bisserl wie ein Topfdeckel wirkte und eines seiner Alleinstellungsmerkmale bildete. Das waren seine Mittel der Distanzierung. Man kam am Anfang an den Herrn Professor schlecht heran. Auch hatte er es immer eilig: Er bewegte sich stets hastig durch die schlecht ausgeleuchteten engen Gänge des Germanistischen Instituts, so dass man Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten, wenn man etwas von ihm wollte.
Der Subtext dieses Auftretens war die unmissverständliche Botschaft: „Sprich mich nicht an, und wenn es unbedingt sein muss, dann fasse dich so kurz wie möglich und stiehl mir nicht meine kostbare Zeit!“ Das galt auch fürs Telefon: Wählte man mit schon vorher zitternden Fingern die bewusste Nummer, so meldete er sich – ganz Berliner – ohne Gruß und Hallo nur mit seinem Namen „Kánzokkk“ mit Betonung auf der ersten kurz und beinahe militärisch knapp (aber deutlich) ausgesprochenen Silbe und einem „-zokkk“, bei dem das „o“ kaum kürzer hätte sein können und von den gefühlt mindestens drei „k“s am Ende abgehackt war. Das war nun wenig ermutigend für die Äußerung irgendeines Anliegens, bei dem schon der Anfang: „Guten Abend, Herr Professor Kanzog, hier spricht Hildegard Lorenz. Ich hoffe, ich störe Sie nicht, aber…“ über Sprachmelodie und Sprechfülle (meine Familie kommt aus Österreich!) das Ungleichgewicht zwischen dem Mächtigen und dem unerwünschten Bittsteller verdeutlichte.
Zudem verlangte er noch von jedem ‚Neuen‘, der sich für sein Hauptseminar anmeldete, nicht etwa die Einschreibung in eine Liste, die bei Frau Janz im Sekretariat auslag, nein, er wollte den persönlichen Besuch jedes seiner Studenten in seiner Anmeldesprechstunde – und zwar nicht gruppenweise: In diesem Fall hätte man sich ja bequem hinter den übrigen verstecken können: Nein, allein, Student für Student, Aug‘ in Auge mit der Autoritätsperson. Ganze 15 Minuten waren hier pro Aspiranten vorgesehen. 15 Minuten unter dem Damoklesschwert. Da saß man nun mit dem unbekannten Professor allein im Sprechzimmer und wurde schon vor Beginn des Seminars auf Herz und Nieren geprüft und begutachtet.
Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung war natürlich von seiner Seite her die Abwehr der Massen. Er wollte sich von Anfang an vor einem Zustrom von schweigenden, trägen, desinteressierten Studierenden schützen und die Zahl ‚seiner‘ Studenten auf diejenigen beschränken, die sich zu ihm hintrauten, möglichst schon die in den „Erläuterungen“ (= dem kommentierten Vorlesungsverzeichnis der Germanisten) angekündigten Texte gelesen hatten und sich in diesen 15 Minuten nicht allzu sehr blamierten.
Zudem ging es um ein kompliziertes Thema, nämlich um „Werkimmanente Poetik“. Von den Texten, deren Ausgangspunkt Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten mit dem „Märchen“ sein sollten, hatte ich natürlich wenig Ahnung. Ich war eigentlich im Grunde genommen ziemlich schlecht vorbereitet, und der Gedanke an eine weitere Aufnahmeprüfung lag mir so schwer im Magen wie mindestens fünf Pfund Gefrierfleisch – unaufgetaut.
Als ich ihm schließlich allein im Sprechzimmer gegenüber saß, versuchte ich, die Unterhaltung auf Horazens De arte poetica zu lenken, – die ich gut im Kopf hatte, die jedoch in den „Erläuterungen“ natürlich nicht genannt war (Latein gehört eben nicht zur Germanistik!); doch Kanzog griff den Gedanken auf und erklärte mir, dass bei Horaz eine offene Poetik vorliege, die in der Verkleidung der künstlerischen Form der Epistel auftrete, während er „echte“ literarische Texte nach den poetischen Regeln abklopfen wolle, die klar aus der Gestaltung dieser poetischen Texte hervorträten und gleichsam in ihnen versteckt seien – und plötzlich waren wir im Gespräch. Die 15 Minuten vergingen im Fluge. Ich war aufgenommen und wurde einer seiner Studenten.
Was ich vorher als Schikane empfunden hatte, erwies sich aus der Rückschau als kluge Strategie: Man fand unter den Seminarteilnehmern schnell Freunde, weil wir an einem Strick zogen, das Gleiche dachten, am Stoff interessiert waren. Und kaum war man unter den Auserwählten, so erwies sich der Lehrer als zugänglich: Die Gespräche mit ihm – vor allem auf dem Flur des Instituts – wurden lang und länger – es redete zwar in der Regel nur einer – , doch, wenn man ihn irgendwie durch leichte Einwürfe zum Lachen brachte, so scholl sein typisches Gelächter weithin durchs ganze Institut. Manchmal höre ich es noch im Treppenhaus, wenn ich mich dorthin verirre…
Klaus Kanzog hat einmal zu mir gesagt, er habe in seinem Leben am meisten von seinen Studenten gelernt. Das ehrt ihn. Es gibt nur sehr wenige Professoren, die das auch sagen würden. Ich sage, ich habe sehr viel von ihm gelernt, aber auch viel aus den Beiträgen der Kommilitonen in seinen Seminaren. Ich glaube, ein größeres Lob kann man ihm nicht aussprechen. Chapeau, Herr Professor!
Hildegard Lorenz,
geboren 1955, promovierte Literaturwissenschaftlerin, langjährige Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilians-Universität für Neuere Deutsche Literatur und Latinumskurse, Deutsche Dialogbearbeitung bei Satellit-Film, Gymnasiallehrerin für Latein, Deutsch, Ethik und Philosophie, Verfasserin von zahlreichen Veröffentlichungen zur bayerischen Statistik und Freie Journalistin. Lebt in München.
Das Alte und das Neue
Eigentlich dachte ich, der Aufsatz wäre schnell geschrieben, als mir Klaus Kanzog 1983 anbot, für die Neuauflage des Reallexikons der Deutschen Literaturgeschichte den Artikel „Witz“ zu übernehmen. Ich hatte bei ihm im Wintersemester 1974/75 das Seminar „Erzählmaterialien des Kinderfunks“ besucht und dort eine Arbeit über den kindgerechten Witz angefertigt. Ich kannte also die Klassiker – Freud, Jolles, Bausinger und wie sie alle heißen – und war guter Dinge. Doch dann entdeckte ich, dass während des Epochenwechsels vom Barock zur Aufklärung der Witz neben dem Esprit ein zentrales poetisches Prinzip in ganz Europa war. So saß also ich im Lesesaal der Münchner Staatsbibliothek: Vor mir eine ledergebundene Ausgabe der Entretiens d’Ariste et Eugène von Dominque Bohours aus dem Jahre 1671, durch die ich mich hindurchkämpfte und wobei ich mich immer tiefer im Dickicht der Querelle des Anciens et des Modernes verlor. An sich hätte mir das aber alles bestens bekannt sein müssen. Denn auf der anderen Seite der Ludwigstraße fand an der Uni gerade eine Neuauflage dieses Streits zwischen dem Alten und dem Neuen statt. (Übrigens: Das Reallexikon dokumentiert die Konfliktlinien sehr genau, vergleicht man die ersten Bände mit dem von Kanzog und Maser herausgegeben vierten Band.)
Natürlich war im Institut für Deutsche Philologie Kanzogs Kinderfunk-Seminar nicht unbemerkt geblieben. Dass er dort und auch noch in seiner Vorlesung neben Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten die Radiosendungen von Meister Eder und seinem Pumuckl behandelte, sorgte bei den älteren Vertretern des Faches, die dem Guten, Wahren, Schönen zugetan waren, für Irritationen. Waren doch erst vor kurzem die Ansichten einer künftigen Germanistik und dann noch die Neuen Ansichten erschienen, zwei Programmschriften, die beide eine Öffnung der deutschen Literaturwissenschaft für neue Fragestellungen und neue Gegenstände forderten.
Pumuckl als Leitfigur
Man braucht halt einen ‚Meister Eder‘, um Wissen zu erlangen. Ellis Kauts enervierender Kobold Pumuckl, der am Leimtopf des Münchner Schreinermeisters Franz Eder kleben geblieben war, wurde zur Leitfigur des Eigensinns und eines spielerischen Lernens. Ich verschaffte ihm in der Ludwig-Maximilians-Universität Gehör. (…) Häufig findet man in den biographischen Würdigungen namhafter Persönlichkeiten den beflügelnden Hinweis wessen „Schüler“ sie als Gefolgsleute waren. Doch sind Studierende keine „Schüler“, sondern Lehrlinge gemäß dem vorgezeichneten Ausbildungsweg im Handwerk: Lehrling, Geselle, Meister. Mein Doktorvater Wilhelm Wissmann hatte mir dargelegt, worauf es da ankam: Man muss das Potenzial der Studierenden erkennen, deren Anlagen fördern und ihnen Freiheiten gewähren, aber die wissenschaftlichen Standards vermitteln und deren Einhaltung fordern.
Klaus Kanzog
aus: 1982. Lernprozesse. In: Mediensysteme 1964/2024. Festschrift für Oliver Jahraus. Hg. von Rabea Conrad, Margit Dirscherl und Tanja Prokić unter Mitarbeit von Franziska Merk und Linus Henrichs. Sonderausgabe der Zeitschrift Medienobservationen https://www.medienobservationen.de/2024/1113-kanzog/, 13. November 2024
Diese Irritationen wurden nicht geringer, als Kanzog im Sommersemester 1976 das Seminar „Der Film als literatur- und rezeptionsgeschichtliches Problem“ anbot. Darauf war die Münchner Germanistik gar nicht eingestellt. Es gab im Institut keine Möglichkeiten, Filme zu sichten, noch gab es Mittel, um Filme anzuschaffen. Kanzog hatte daher als Arbeitsgrundlage für dieses Seminar selbst eine 16 mm-Kopie von George Moorse‘ Kleistverfilmung Der Findling gekauft, die Sichtung des Films fand in einem angemieteten Schneideraum statt. Das erste, was uns Seminarteilnehmern dort auffiel, war, dass der Ton des Films um mehrere Sekunden zeitversetzt war, was zu intensiven Diskussionen führte, wie dies zu interpretieren sei. Bis der Vermieter zufällig im Schneideraum vorbeikam und die Tonwiedergabe von Magnet- auf Lichtton umstellte, wodurch der Film schlagartig synchron lief und unsere Interpretationen verstummten.
Auch das Seminar nahm eine ganz andere Richtung als erwartetet. Kanzog erklärte als erstes, dass wir den Film zunächst einmal protokollieren müssten, bevor wir ihn interpretieren könnten. Er war eben nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern durch und durch auch Editionsphilologe. Nicht nur dass er stundenlang über die Varianten in den Handschriften von Kleist diskutieren konnte, er achtete auch sonst auf jede Textkorrektur, und war es nur die Änderung eines Satzzeichens. Folgerichtig war für ihn auch beim Film „die Frage nach dem Text“ der Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Herangehensweise. So begannen wir also mit der mühseligen Arbeit des Protokollierens: Wir erfassten die Dauer jeder Einstellung, transkribierten die Dialoge, registrierten die Kameraführung und beschrieben alles, was im Bild zu sehen war, wobei wir uns auf Kanzogs Rat hin an der altbewährten Suchformel der Rhetorik orientierten: „Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?“
Faustregeln
Der Begriff „Faustregel“ ist umgangssprachlicher Natur. In der Praxis erwies er sich als zweckmäßig, weil er eine schnelle Verständigung über den gewählten Gegenstand erlaubt. (…) Für die Redekunst hat Mathieu de Vendôme (gest.1286) eine solche, bis heute gültige, in einen Hexameter gefasste Faustregel formuliert, die für die Analyse einer Rede zugleich als Suchformel gilt: quis quid ubi quibus auxiliis cur quomodo quando. Sie umfasst ein Redekonzept, das jeder Sprecher in einer auf Wirkung zielenden Rede als Ordnungsprinzip im Kopf haben sollte: Wer, was wo, / mit welchen Mitteln, / wozu, weshalb, warum, / auf welche Weise, / wann. Mit dieser Suchformel ist schon bei der einfachen Betrachtung eines Films en passant eine tragfähige Analyse möglich. Im Zuge dieses bewussten Sehens, d.h. einer schrittweisen Verifizierung der einzelnen rhetorischen Aspekte, erfolgt deren Verankerung im eigenen Wahrnehmungsprozess. Auf diese Weise sind rhetorische Strategien nachzuvollziehen, Beobachtungen zu präzisieren und Manipulationen kritisch zu bewerten.
Klaus Kanzog
aus: Filmrhetorik. Faustregeln für eine Filmrhetorik, hier für die Analyse von Orson Welles‘ Citizen Kane. In: Tanja Prokić und Oliver Jahraus (Hg.): Orson Welles‘ „Citizen Kane“ und die Filmtheorie. 16 Modellanalysen. Ditzingen: Reclams Universal-Bibliothek, 2017
Nein, das Neue ist nicht von selbst der Feind des Alten, und das Alte muss nicht der Feind des Neuen sein. Vorausgesetzt, man ist dazu in der Lage, beides richtig einzuordnen. Klaus Kanzog war es.
Karl N. Renner,
Dr., Prof. em., geboren 1949 in Ruhpolding, von 1973 bis 1978 Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Linguistik und Wissenschaftstheorie an der LMU München. 1978 Magister. 1981 Promotion bei Klaus Kanzog mit der Dissertation Der Findling. Eine Erzählung von Heinrich v. Kleist und ein Film von George Moorse. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der DFG-Forschergruppe „Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770-1900”. Von 1985 bis 1995 freier Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk. Von 1995 bis 2016 Professor für Fernsehjournalismus am Journalistischen Seminar des Instituts für Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Klaus Kanzog – Wegweiser und Kritiker
Meine Leidenschaft für Filmphilologie und Erzähltheorie verdanke ich Klaus Kanzog. Ihn lernte ich während meines Magisterstudiums als Dozenten kennen – und schätzen. Seine Filmbeispiele mögen heute aus der Zeit gefallen wirken, doch sie öffneten mir den Blick für ein Kino der besonderen Art. Durch ihn entdeckte ich meine Vorliebe für narrative Theoretiker – ein Interesse, das ich heute an meine Studierenden weitergebe. Dass ich meine Promotion zu einem damals in der Germanistik unkonventionellen Thema schreiben durfte – Filmnarratologie: Eine Einführung in die Interpretation von Werbespots –, verdanke ich seiner mutigen Unterstützung.
Zwei Begegnungen mit ihm sind mir besonders präsent. Die erste ereignete sich in seiner Sprechstunde. Ich hatte mich übernommen, zwei Seminararbeiten gleichzeitig schreiben wollen. Kanzog durchschaute mein Vorhaben sofort. Mit seiner typischen Direktheit sagte er: „Frau Grimm, eins nach dem anderen. Schreiben Sie erst die eine Arbeit – dann kommen Sie im nächsten Semester wieder.“ Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, prägt mich bis heute – als Arbeitsmaxime, die ich auch meinen Studierenden mitgebe.
Die zweite Begegnung war ein kurzer, aber prägender Moment. Wochen nach Abgabe meiner Dissertation trafen wir uns zufällig an der Kreuzung Schellingstraße/Luitpoldstraße. Er blieb stehen und ich überquert die Straße. Zugleich begann er sein Urteil zu meiner Arbeit zu skizzieren – knapp und prägnant. Dass er sich Zeit nahm, jedes Detail meiner Arbeit zu kommentieren – und wo nötig zu kritisieren –, zeigte mir: Er nahm meine Arbeit ernst. Diese Genauigkeit und sein bescheidenes Engagement prägten mich nachhaltig.
Bei späteren zufälligen Begegnungen war er nie um ein Wort verlegen. Er begann sofort von seinen neuesten Projekten zu erzählen. Ich habe ihn immer voller Begeisterung, Neugier und ungebremster Energie erlebt.
Klaus Kanzog war mehr als mein Doktorvater. Er war ein Mentor, der im richtigen Moment die richtigen Impulse gab – und mir vorlebte, was wissenschaftliche Arbeit ausmacht: Klarheit, Konsequenz und Leidenschaft.
Petra Grimm
Dr., ist seit 1998 Professorin für Medienforschung und Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der Medien (Stuttgart). Zudem ist sie Leiterin des Instituts für Digitale Ethik (IDE) und Ethikbeauftragte der Hochschule der Medien.
Quattro Stagioni
Einmal hat mich KK zum Mittagessen ins Stop in die Türkenstraße eingeladen; von Israelis betrieben, war es eine gewöhnliche Pizzeria. Mitarbeiter der LMU hatten damals Essensgutscheine, die in langen Schlangen ausgegeben wurden und wie Kinobillette aussahen. Ich bestellte „4 Stagioni“, KK hüstelte und korrigierte: Herr Honickel, er betonte meinen Namen immer auf dem O, das heißt „Quattro Stagioni“.
Nichts war KK aber fremder als Besserwisserei, er war ein hervorragender Pädagoge, sah mit seinem klaren hellen Blick in der Regel sofort das Potenzial – oder die Handicaps? – des Studenten; nie hat er da gebohrt, sondern einem stets eine Brücke gebaut. Er hat einen ernst genommen. Hat man ihn in der Stabi getroffen, hatte er stets ein Bündel von Karteikarten in der Hand, weil er beim Bibliographieren war. Seine charakteristische Handschrift en miniature (jeder Buchstabe extra gemalt) verriet immer noch die Gewissenhaftigkeit des ehemaligen Bibliothekars. Er erkundigte sich stets nach der Situation des Gegenüber. Erst als er genau zugehört hatte und vielleicht einen Rat gegeben, legte er selbst los. Das ging, immer wieder unterbrochen von seinem schallenden Lachen, nie kurz ab. Beim Erzählen kniff er gerne die Augen zu, als ob er etwas von ganz hinten aus dem Echoraum seines Gehirns hervorholen wollte. Typischer Fall von Denkste! war eine seiner Lieblingsfloskeln.
Einmal hat er in einem Vortrag über die frühen Kurzfilme von Wim Wenders tatsächlich den Text von Jimi Hendrix‘ Gitarrenorgie All along the watchtower rezitiert, auf Englisch, das er nicht richtig beherrschte: „There must be some way out of here, said the joker to the thief“. Das war komisch, aber vielleicht will ein Student wenigstens einmal seinen Professor belächeln. Wo doch seine Ernsthaftigkeit durchaus mit Grazie gepaart war. Er hat seinen Mann gestanden vor jedem noch so großen Publikum und konnte durchaus einen kämpferischen Blick in den Raum lenken. Dann ging ein Zucken durch seine Backen, als wäre er für jeden Angriff bereit. Bei einer Vorlesung an der LMU über den Kriminalroman ließ er das Licht löschen und kam, bewaffnet mit einer wackeligen Taschenlampe, langsam hinter dem Rednerpult hervor. Er genoss seinen Auftritt, die Regiearbeit war ihm, der während des Krieges in Berlin noch Gründgens am Berliner Staatstheater erlebt hatte, ein nie ganz zu entschlüsselndes Faszinosum. Mehrfach hat er mir erzählt, dass er einem staunenden deutschen Regisseur erklärt hatte, Kleists Käthchen von Heilbronn sei „wie die Kaltenburger Ritterspiele“ zu inszenieren. Kontakte zu Kreativen der Branche erfüllten ihn mit Stolz. KK schien alles zu wissen und alles zu erinnern; was man auch sagte, er hakte sofort ein. Man sah dabei auf ihn herab, weil er nicht groß war, aber man traf auf seinen entschlossenen Blick, auf diese aufmerksamen Augen über den ewigen Tränensäcken.
KK hatte zwei Ehefrauen überlebt, aber er machte einfach weiter. Er war wie ein Wiesel. Es gab immer neue Projekte; war er emeritiert, lockte ihn ein Gastsemester nach Halifax. Hatte er ein letztes Buch geplant, gab es dennoch ein nächstes und nun wirklich letztes. Doch Hermann Barth riet ihm dann noch zu einem „hinterletzten“.
KK liebte seine Studenten, er behandelte sie wie Kollegen und war an ihrem weiteren Lebenslauf echt interessiert. Vor der Magisterprüfung gab er mir den vielleicht einzig richtigen Rat: Herr Honickel, Sie dürfen die Bücher – ich hatte auf Bildungsroman für die Magisterprüfung optiert – nicht auswendig lernen. Sie müssen in ihnen leben! Deswegen war ihm auch nichts Schräges fremd, er konnte sich in alles einfühlen und hatte stets ein sicheres Urteil. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, aber seine Berliner Herkunft und die Arbeit als Luftwaffenhelfer müssen eine nicht unwichtige Rolle dabei gespielt haben. Er hatte wirklich Humor, und nichts konnte ihn so leicht umwerfen. Vielleicht hat er wie kein anderer Literaturwissenschaftler seiner Generation im Innersten gespürt, dass die Liebe, die er seinen Studenten gegeben hatte, stets zu ihm zurückkam. Er war wie der Vater einer großen Gemeinde. Leben hieß für ihn denken, und in seinem Falle war das schier endlose Leben ein Triumph des Geistes über den Körper.
Thomas Honickel,
Jahrgang 1954, studierte Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaften. Magisterarbeit 1981 bei KK. Zweitstudium an der HFF München, danach rund 30 Dokumentationen für ARD und ARTE. Während des Studiums Arbeit als Filmjournalist, ab 2000 Mitarbeiter der Zeitschrift PHOTONEWS. Berufenes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie.
K. K. in memoriam
Klaus Kanzog hat mich, frisch habilitiert, aber ohne Arbeitsplatz, in sein Büro Schelling 3 Vordergebäude ohne Zögern aufgenommen und mir einen Schreibtisch abgetreten. So konnte ich ihm über die Schulter schauen bei der Anfertigung seiner minutiösen Korrekturen und Gutachten.
Die Arbeiten umfassten bei dem Filmphilologen meist zwei Bände: Text und Filmprotokoll; doppelte Arbeit! K. K. war ein multimediales Genie, Oper mit Libretti, Theater, Konzerte, (Eis-)Tanz, Film. Mit unglaublicher Energie warf er sich in den Torso des Reallexikons (2. Auflage), führte das fast gescheiterte Unternehmen zu einem guten Ende, nicht ohne noch einen vorbildlichen Registerband beizusteuern. In der alten Staatsbibliothek gab es hinter der Ausleihe den sogenannten Dienstkatalog. In der Mitte thronte der oft noch handschriftliche Quart-Kartenkatalog, umgeben von einer stupenden Sammlung mit Referenzwerken. Dort traf man K. K., wie er stöhnend die fürs Reallexikon eingesandten Artikel und Bibliographien der Kollegen überprüfte, oft blieb wenig von der Vorlage. Die Münchner Filmphilologie hat K. K., zusammen mit Enno Patalas vom Filmmuseum München und den ARRI-Filmstudios in der Türkenstraße, aus dem Nichts geschaffen, und er stieß damit auf wenig Gegenliebe bei den Ordinarien.
K. K. war auch ein Redegenie. Ich erinnere mich an ein gepflegtes Abendessen zu zweit in dem edlen, aber eng bestuhlten Halali in der Schönfeldstraße. Der Nebentisch räumte angesichts Kanzogs Suada alsbald das Feld. Unvergessen, wie K. K. seine beiden verstorbenen Frauen Eva und Dorothea abratend, mahnend und aufmunternd im Ohr hatte.
Ich verdanke K. K. dank seines blendenden Gedächtnisses einen stets kritischen Überblick über 50 Jahre Fachgeschichte, der bis in die Berliner Anfänge zurückreichte und die Gegenwart nicht ausschloss. Auf meinem Schreibtisch steht eine von ihm selbst gebastelte emblematische Karte zum Jahreswechsel 2023/24 mit der Subscriptio:
Durch ein Fenster schauen und den Frieden sehen – dann wäre Weihnachten wirklich wunderschön.
Volker Hoffmann,
geb. 1940, Dr., Prof. em. für Deutsche Literatur, Kollege von Klaus Kanzog seit den Siebziger Jahren am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Gute Wege
Er hatte darauf bestanden, in den Newsletter für meine Veranstaltungen aufgenommen zu werden. Kanzog etwas ausschlagen? Ich jedenfalls nicht.
Bis zur Lesung am 6. April 2017 in der Buchhandlung am Münchner Partnachplatz kam nach jeder Aussendung an den Verteiler eine lange Rückmeldung – offenbar hatte er für kurze Antworten keine Zeit:
„Lieber Su Turhan, ja, ich bin noch da und lese stets mit Vergnügen Ihre Einladungen.“ Darauf folgten gute Gründe, warum er nicht kommen konnte: Bin in Kanada oder Berlin, schreibe einen Artikel oder redigiere.
Offen gestanden hatte ich nicht damit gerechnet, Klaus Kanzog je als Gast bei einer meiner Lesungen begrüßen zu dürfen. Doch er kam. Allein. Spitzbübisch lächelnd und rundum glücklich, als ich auf ihn zustürmte, um ihm die Hand zu geben.
„Vom Meister-Mathis-Weg ist es nicht weit, Herr Turhan.“
Wie eine Tochter oder ein Sohn ein Leben lang Kind seiner Eltern bleibt, bleiben Studierende stets Studentin oder Student des Professors, den sie gehört haben. Das erlaube ich mir, im Hinblick auf Professor Kanzog zu behaupten.
Kurzum: Ich war nervös. Sogar sehr nervös. Was bei Lesungen sonst nicht vorkommt.
Da saß er in der hintersten Reihe und zog die Aufmerksamkeit auf sich, nachdem ich dem Publikum erzählt hatte, dass er mitverantwortlich dafür war, dass ich Kriminalromane schreibe.
Er war es, der mir die Welt von Friedrich Glauser und Raymond Chandler eröffnet hatte. Merksätze aus seinen Vorlesungen schwirrten mir durch den Kopf. Ich fragte mich – begleitet von viel zu vielen Versprechern beim Vortragen –, ob ich im Roman auf eine saubere Informationsverteilung geachtet hatte, ob die Erzählperspektive stimmig war, bis hin zur Frage, wie ich mir anmaßen konnte, in der Gegenwart meines Professors eine Kriminalgeschichte zum Besten zu geben.
Nach den ersten Seiten wagte ich es, den starren Blick vom Lesemanuskript zu lösen. Zum Glück.
Denn da war Kanzogs aufmunterndes Nicken. Er zupfte an der Brille. Ich hörte sein manchmal dunkles, hin und wieder helles Lachen, das Räuspern bei weniger gelungenen Formulierungen, das zustimmende Klatschen am Ende der Lesung – wie ein Vater, der seinem Sohn zu verstehen gibt, dass er auf einem guten Weg ist.
Diese Art von Erfahrung, bin ich überzeugt, haben andere Absolventinnen und Absolventen von Professor Kanzog auch gemacht.
Su (Süleman) Turhan,
geb. 1966 in Istanbul, kam mit seiner Familie als Kind nach Deutschland. Studium an den LMU München mit M.A. in Filmphilologie bei Klaus Kanzog. Seit 1998 als Autodidakt Filmregisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller, Gründung der eigenen Produktionsfirma GetpiX. Populär werden seine Kommissar Pascha-Romane und -Verfilmungen. Zahlreiche Filme, Roman-, Kurzgeschichten- und Hörspielveröffentlichungen sowie Auszeichnungen. Lebt und arbeitet in München.
Ein Berliner in München
Als 1995 Karsten Witte von der FU Berlin gestorben war, suchte man für das im Institut für Theaterwissenschaft angesiedelte Fach Filmwissenschaft interimsweise einen Gastprofessor. Man einigte sich auf Prof. Dr. Klaus Kanzog.
Nach dem oder noch während des Auswahlverfahrens erhielt ich von einem der dortigen Filmwissenschaftler eine telefonische Anfrage, wer Kanzog denn so sei. Ohne dass dies direkt angesprochen wurde, entnahm ich dem Telefonat die dringende Sorge, dass jetzt tatsächlich ein bayrischer Münchner in Berlin das Regime übernehmen sollte. Ich wies deshalb ausdrücklich darauf hin, dass KK, wie sich Klaus Kanzog in seinen Briefen und Mails gelegentlich nannte, gebürtiger Berliner sei.
Das wirkte in Berlin sehr beruhigend. KK übernahm im Sommersemester 1996 die Professur in seiner Heimatstadt, konnte sich jedoch mit den dortigen institutionellen Gepflogenheiten nie so recht anfreunden, obwohl man ihm eine zweijährige Verlängerung angeboten hatte. Zusätzlich trieb ihn damals die Sorge um die Gesundheit seiner Frau zurück ins zweitheimatliche München.
KK hat für sich in Anspruch genommen, die unter dem Deckmantel des germanistisch verordneten Hochdeutsch schlummernden regionalen Dialektlegierungen seiner bayrischen Studenten heraushören zu können, ob sie nun aus dem Pfaffenwinkel oder Oberallgäu oder der Oberpfalz stammten. Er hatte ein gutes Ohr für solche Sachen. Aber obwohl er weit mehr als sein halbes Leben nur in München gewohnt hat, ist er doch nie ein Münchner, geschweige denn ein Bayer geworden.
KK war Berliner. Mehr noch: Er war Preuße.
Es ist schwierig, im Detail zu definieren, was ein Preuße ist.
Ich denke, dass es eine manchmal exzessiv betriebene Ordnungsliebe war, die bis ins letzte Detail reichte, auch ein in den Untertanenstaat führendes militärstrategisches Kalkül, das eiserne, bis zur Selbstauslöschung führende Disziplin einforderte, das es dem einst randständig gelegenen Kurfürstentum ermöglicht hatte, sich im Lauf der vergangenen Jahrhunderte zu einer politischen Weltmacht zu erheben. Dieses Ordnungsdenken steckte auch im Ostpreußen Immanuel Kant, der mit den Kapiteln, Unter-Kapiteln und Unter-Unter-Kapiteln seiner Werke den deutschen Idealismus wesentlich beeinflusste. Und um 1900 war das preußisch beeinflusste Deutschland so sehr zur weltweit führenden Wissenschaftsmacht aufgestiegen, dass sogar im Fernen Osten die deutsche Sprache zur Fremdsprache Nummer eins avanciert war.
1945 war Preußen als staatliche Einheit am Ende.
Preußens Geist lebt immer noch weiter. Im Ausland wird ganz Deutschland in Ineinssetzung mit Preußen als absolut ordnungs- und detail-liebend eingeschätzt. Spätestens wenn sich die aus aller Welt stammenden Touristen dann in einen Reisezug der Deutschen Bundesbahn setzen, sehen sie aber ein, dass sie einer groben Fehleinschätzung aufgesessen sind. Übrigens sind dafür drei Verkehrsminister verantwortlich, die in Folge die Geschicke der DB bestimmten. Die stammten alle aus Bayern.
KK begründete die sogenannte Münchner Filmphilologie. Sein besonderes Anliegen war die Anfertigung von Filmprotokollen, auf deren Basis ein korrekter wissenschaftlicher Zugang zum Film möglich ist. Er forderte die möglichst penible Beschreibung aller Bildelemente ein, wie er auch in seiner übergeordneten Arbeit als Philologe deutscher Literatur immer einen klaren Blick für die im Detail verborgenen Zusammenhänge hatte.
Philologie – Filmphilologie
Die Junggrammatiker und Positivisten bezeichneten mit dem Begriff „Philologie“ die „Wissenschaft vom richtigen Text, von seiner sachgerechten Ermittlung und von seinem sprachgerechten Verständnis“. Versteht man unter dem „richtigen Film“ die jeweils authentische Fassung eines Filmwerks, unter der „sachgerechten Ermittlung“ spezifische Verfahren des Erkennens und unter dem „sprachgerechten Verständnis“ primär ‚kinematographisches Verständnis’, dann ist es auch erlaubt, von einer „Filmphilologie“ zu sprechen. Nun war es zwar stets eine vordringliche Aufgabe der Philologie, Überlieferungsträger zu sichern, zu beschreiben und für die Interpretation bereitzustellen, doch werfen die optisch-akustisch strukturierten Überlieferungsträger weitaus kompliziertere Fragen als die Edition und Interpretation von schriftlich fixierten literarischen Texten auf; bereits die sachgemäße Protokollierung eines Films ist eine große Herausforderung. Die Grundeinstellung dem Gegenstand gegenüber ist die gleiche. Die Philologie schafft die elementaren Voraussetzungen für die ‚Rede’ über den Gegenstand und die Verifizierung ihrer Argumente.
Klaus Kanzog
aus : Mit Auge und Ohr – Studien zur komplementären Wahrnehmung. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz, 2013
Man kann in diesem Wissenschaftsverständnis einen Einfluss regionaler und geschichtlicher Faktoren erkennen – man muss es nicht. Auch war der Unterrichtsstil von KK wohltuend meilenweit weg vom preußischen Kasernen-Ton, dem Heinrich Mann und später Wolfgang Staudte im Untertan ein bleibendes Denkmal gesetzt haben.
Prof. Dr. Klaus Kanzog war nie Bayer und wollte und konnte es auch nie sein.
Reinhold Rauh
wurde von Klaus Kanzog mit einer Arbeit zu Sprache im Film. Die Kombination von Wort und Bild im Spielfilm promoviert. Danach Lehrbeauftragter an der LMU und berufliche Tätigkeiten bei Medien-Instituten wie ZDF-Medienforschung, dctp und JFF. Autor diverser Bücher zur Filmgeschichte und bayrischen Geschichte. 1996-2017 Professor für Germanistik an der Chosun-Universität, Gwangju, in Süd-Korea.
Memento KK
Zuerst war es nur ein Gerücht. Es klang zu schön, um wahr zu sein: Da gibt es einen Professor an der LMU, der zeigt Filme und spricht darüber, wo andere ihre Studierenden auf die harte Tour Prosa, Lyrik und Dramen analysieren lassen. Mitte der 1980er hatte es der Name Klaus Kanzog bis in die Bavaria Filmstudios am Geiselgasteig vor München geschafft, wo ich einem gutbezahlten Studentenjob nachging. Ich sah darin zunächst nur eine Chance, mein angefangenes Studium, das sich immer länger hinzog, doch noch abzuschließen und erkannte erst später, dass es sich eigentlich umgekehrt verhielt; ich sollte erst jetzt wirklich beginnen zu studieren.
Der Ansturm war groß, man hatte sich bei ihm in seinem kleinen Büro an der lauten Schellingstraße persönlich vorzustellen. Das war keine bloße Formsache. Irgendwie schaffte ich es auf die Teilnehmerliste und war aufgenommen. In den Jahren darauf lernte ich nicht nur wissenschaftliches Arbeiten von Grund auf, ich lernte auch zu sehen, das richtige Sehen von Filmen, und zwar auf eine neue, die einzig wahre Art und Weise: unvoreingenommen, mit Neugier, Liebe und Verstand.
Bewusst sehen!
Gesellschaftliche Kommunikation vollzieht sich nicht allein in Worten, sondern in zunehmendem Maße auch in Bildern. Wir suchten daher nach Methoden, um die Funktionsweisen und das Zusammenwirken von Worten und Bildern zu verstehen.
Meine Forderung „Bewußt sehen!“ richtete sich an ‚Hörer aller Fakultäten’. Sie bezog sich auf die Dynamik der Wechselwirkung von Sehen und Erkenntnisinteresse und im weiteren auf die von Max Imdahl für die Bildbetrachtung getroffene Unterscheidung zwischen dem „formalen, sehenden Sehen“ und dem „wiedererkennenden Gegenstandssehen“. Das „formale, sehende Sehen“ geschieht „im Zuge des wiedererkennenden Gegenstandssehens, indem es zugleich über dieses hinaus das Gegenständliche in die selbstgesetzliche Notwendigkeitsevidenz der bildbezogenen Relationen einbezieht. Jede Anschauungsweise, sowohl die des formalen, sehenden Sehens als auch die des wiedererkennenden Gegenstandssehens, wird durch die je andere sowohl provoziert als auch legitimiert“. Doch erfolgt dieses Sehen unter jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen.
Jede individuelle Bildbetrachtung ist eine ‚Probe aufs Exempel’. Welches Wissen kann der Betrachter abrufen? Ist er des kreativen Sehens mächtig oder überwuchern Assoziationen das Beobachtete? Gelangt er zu einer geordneten Rede über den Gegenstand?
Klaus Kanzog
aus : Mit Auge und Ohr – Studien zur komplementären Wahrnehmung. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz, 2013
Wir lernten, Nanook of the North genauso zu schätzen, wie Deutschland im Herbst, Kurosawas Rashomon oder Trenkers Der verlorene Sohn. Zu meinem persönlichen Highlight wurde, als ich für das Seminar eines anderen Professors Tobe Hoopers Film The Texas Chainsaw Massacre als Thema wählen konnte. Kanzogs Forschung und Methode, von der Fachwelt anfangs belächelt oder ignoriert, war angekommen.
Dabei war es beileibe nicht so, dass es bei Kanzog immer nur um Filme ging. Seine Art, uns zum genauen Hinsehen anzuleiten, zeigte sich nirgendwo deutlicher als bei Fragen der Editionsphilologie. Einmal, gegen Ende meines Studiums, kam Kanzog in einer seiner Vorlesungen vor Beginn zu mir an die Bankreihe, um eine aus einem Seminar noch offene Frage zu Ernst Jüngers sich verändernder Tanzmetaphorik und Kriegsrhetorik zu besprechen. Mir war aufgefallen, dass Jünger bei jeder Neuauflage seiner Texte ganze Passagen veränderte, ohne das zu kennzeichnen; je nach Zeitgeist und Geschmack. Und Kanzog – entschuldigte sich bei mir über die ihm unterlaufene Ungenauigkeit in der Kennzeichnung der verwendeten Fassung! Ich war fertig – fix und fertig.
Seine Schüler lagen ihm sehr am Herzen. Ein tragischer Fall war Michael, der mit uns das Hauptseminar der Magisterkandidaten Jahrgang 1992 belegte. Vor Semesterende blieb Michael plötzlich weg. Kurz darauf bekam jeder von uns einen Brief von Kanzog:
„Erst heute erreicht mich die Nachricht, dass Michael am 31. Juli an einem ‚plötzlichen Kreislaufkollaps‘ gestorben ist, fünf Tage nach unserem gemeinsamen Zusammensein in der Wirtschaft der Max-Emanuel-Brauerei; er wirkte an diesem Abend besonders ‚gelöst‘, aber vielleicht haben wir die ‚Signale‘ nicht verstanden. Behalten Sie Ihren Kommilitonen, den Sie vielleicht noch besser kannten, als ich, in guter Erinnerung.“
Nein, wir werden i h n, unseren Lehrer Professor Klaus Kanzog in bester Erinnerung behalten!
Friedrich Steinhardt,
studierte Germanistik, Philosophie und Politologie an der LMU München. Während seines Studiums arbeitete er als Regieassistent, Produktionsleiter und Autor. Seit 1995 ist Friedrich Steinhardt Teil der Münchner Caligari Entertainment Film und leitet dort seit 1999 den Geschäftsbereich Dokumentarfilm. Er lebt in der Nähe von Wasserburg.
Literaturwissenschaft – Medienwissenschaft
Der Konflikt zwischen Literatur- und Medienwissenschaft entzündete sich, als Spielfilme literarische Vorlagen ausbeuteten und damit zur Bewusstseinsbildung breiter Bevölkerungsschichten beitrugen. Die Verteidiger des traditionellen Textbegriffs sahen darin, ungeachtet der Tatsache, dass selbst renommierte Schriftsteller, wie Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler ihre Texte dem Film auslieferten, eine Bedrohung und behaupteten, jede Transformation „verfälsche“ die gewählte Vorlage. Die notorisch gestellte Frage, ob der auf einer literarischen Vorlage beruhende Film als „adäquate Umsetzung“ dieser Vorlage anzusehen sei, übersah die Verschiedenartigkeit der literarischen und filmischen Ausdrucksmittel, ließ die unterschiedlichen Diskurse und Kodierungen außer Acht und führte damit am zentralen Problem der Transformation von Texten vorbei. Film und literarische Vorlage sind jeweils Werke eigenen Rechts und medienspezifischer Qualität. Beide ‚Werke’ müssen komplementär gesehen und gelesen werden.
Klaus Kanzog
aus : Mit Auge und Ohr – Studien zur komplementären Wahrnehmung. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz, 2013
Literaturverfilmung
Ab 1976 hatte ich mit Kommilitoninnen und Kommilitonen an einem Schnittplatz im ARRI den Film Falsche Bewegung von Wim Wenders nach dem Buch von Peter Handke protokolliert. Dafür hatte Klaus Kanzog uns eine Filmkopie vom Institut Francais mit französischen Untertiteln besorgt. Im Vor-Video-Zeitalter musste man nehmen, was man kriegen konnte. Ich hatte mir für meine Dissertation vorgenommen, anhand von Falsche Bewegung ein universelles Erzählmodell für alle Arten von Texten zu entwickeln, das damit auch auf audiovisuelle Medien anwendbar war und Bild und Text respektive Ton gleichermaßen berücksichtigte. In Titzmann- und Wünsch-Seminaren als Semiotiker und Strukturalist geschult, gab es für mich keinen Unterschied in den und für die verschiedenen Textsorten.
Sechs Jahre später: Im Sommersemester 1982 stellten in Klaus Kanzogs Oberseminar mit dem Titel „Aktuelle filmphilologische Probleme“ die Doktorant*innen ihre Dissertationsprojekte vor: Elfi Ledig ihren Golem und Karl N. Renner seinen Findling, in dem er Lotmans Raummodell auf ein Stegmüller-Niveau modifizierte. Die angeregten Debatten drehten sich wieder einmal vornehmlich darum, wie eine adäquate Literaturverfilmung auszusehen hätte.
Als ich meinen Ansatz für ein universelles Modell des Erzählens vorstellte, ließ ich mich zu der unbedachten Bemerkung hinreißen, dass wir das Thema Literaturverfilmung endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen und uns mehr den audiovisuellen Strukturen des Mediums Film widmen sollten. Mit gerunzelter Stirn rief Professor Kanzog aus: „Aber Herr Springer!“ Eine höhere Form der Missbilligung oder Kritik gab es bei Kanzog gar nicht. Ich hatte vergessen, dass „Literaturverfilmung“ die Brücke, das Vehikel, das einzig anerkannte Argument war, mit dem die Germanistik an der LMU München die Beschäftigung mit Film gerade mal eben so zuließ.
Damals konnte ich zudem noch nicht absehen, dass mir die Beschäftigung mit Literaturverfilmungen später bei meiner Tätigkeit als Filmkritiker und Lektor von Drehbüchern sehr zugutekommen würde. Da musste ich feststellen, wie die deutsche Filmlandschaft bei Literaturverfilmungen versucht war, ganze Romane eins zu eins in Verfilmungen zu pressen – mit mäßigem Erfolg für die Filme, so sie denn daraus entstanden. Die akribische, tagelange Protokollarbeit am Schneidetisch allerdings wusste ich dagegen schnell zu schätzen. Sie brachte mir bei meiner Tätigkeit als Produzent von Trailern und Making-Ofs im Schnitt einen unschätzbaren Vorteil.
Ein anderer Kreis schloss sich zum Ende von Klaus Kanzogs Leben. Als mein Vater mit 91 Jahren zu uns nach München zog, lernten er und Kanzog sich auf meinen Ausstellungsveranstaltungen kennen und schätzen. Dabei stellten sie fest, dass sie – ohne sich begegnet zu sein – am gleichen Tag, am 15. Juni 1945, in Ebersberg aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen und im selben Güterzug nach Thüringen gefahren worden waren. Mein Vater blieb dort auf einem Bauernhof und studierte im Anschluss in Jena. Kanzog fuhr sogleich direkt nach Berlin weiter, wo er später das Studium der Germanistik, Älteren Nordistik und Philosophie an der Humboldt-Universität aufnahm.
Bernhard Springer
geb. 1955 in Hannover, Studium der Germanistik, Theologie, Analytischen Philosophie, promovierte über ein universelles Modell der Narrativik am Beispiel des Films Falsche Bewegung von Wim Wenders und Peter Handke. Praktizierender bildender Künstler und Künstlerkurator seit 1979. Diverse Filme, Bücher, Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland. Verheiratet, drei Kinder, lebt und arbeitet in München.
Mit Klaus Kanzog im Kino
Am Abend des 17. November 1991, gegen Ende eines kühlen, nebeligen Tages, ging ich mit Klaus Kanzog ins Kino. Auf dem Programm stand die Premiere von Werner Schroeters Film Malina (D, 1991), bei dem ich selbst mitgewirkt hatte und den ich als Grundlage meiner Magisterarbeit nehmen durfte, um ihn filmphilologisch zu analysieren. Kanzog freute sich über die Einladung und stand dem ganzen Unternehmen sehr positiv gegenüber. Mir selbst wurde immer banger ums Gemüt, als wir uns den damaligen Kuchenreuther Filmstudios im Leopold-Kino in Schwabing näherten, denn ich hatte eine Unmenge an Befürchtungen:
Wie würde Herr Kanzog auf die ausladende, pathetische Bildsprache Werner Schroeters reagieren, auf dessen Hang zu Übertreibungen, auf Isabelle Hupperts tränenüberströmtes Gesicht in den vielen Großaufnahmen, auf die getragene, manchmal fast salbungsvolle Filmmusik von Giacomo Manzoni und die Belcanto-Einlagen, auf die teilweise unerträglich langen Einstellungen von Juliane Lorenz, der ehemaligen Lebensgefährtin R.W. Fassbinders, oder auf die unterkühlte Miene Mathieu Carrières, der sich in der letzten Sequenz, ohne mit der Wimper zu zucken, langsam durch die brennenden Kulissen bewegt, um einen Brief von dem brennenden Schreibtisch der weiblichen Hauptfigur mitzunehmen? – Ja, Schroeter hatte tatsächlich am letzten Drehtag die Kulissen anzünden lassen, und in den Bavaria Filmstudios standen die Feuerwehrautos Schlange vor unserem Set. Da konnte keine Klappe mehr wiederholt werden, und ähnlich irrsinnig war im Grunde die ganze Arbeit verlaufen.
Unter damaligen Cineasten war der Film teilweise als ästhetische Zumutung empfunden worden, obwohl er den Bayerischen und den Deutschen Filmpreis erhielt. Auch die Zuschauer waren damals, 1991, noch nicht an eine derartig manieristische Künstlichkeit gewöhnt, die die Grenze zum Kitsch manches Mal überschritt. Dementsprechend wurde Malina in den deutschen Kinos zum Flop anstatt zum Kassenschlager, und Thomas Kuchenreuther, der den Film sogar selbst produzierte, hatte damit einen Teil des Familienerbes in den Sand gesetzt. Alles ungute Vorzeichen, dachte ich.
Meine damalige Ängstlichkeit als wissenschaftliche Anfängerin, ein solch ungezähmtes Untersuchungsobjekt ausgesucht zu haben und dies gerade einem Literatur- und Filmwissenschaftler unterzujubeln, der sich auf Affektkontrollen, Untersuchungen von Normvorstellungen und eine geordnete Rede über den Gegenstand Film spezialisiert hatte, wuchs während der Vorstellung von Minute zu Minute. Welches Handlungsschema war in Malina zu erkennen? – Kaum eines. Schroeter hatte sich zwar grob an das Drehbuch von Elfriede Jelinek gehalten, jedoch sprachliche Zusammenhänge zerschnitten und unkenntlich gemacht. Die literarische Vorlage, Ingeborg Bachmanns gleichnamiger Roman, wurde nur am Rande berücksichtigt. Welche Argumente wurden vorgebracht? – Gar keine. Die drei Hauptfiguren, gespielt von Huppert (die Frau), Carriére (Malina) und Can Togay (Ivan), bewegten sich traumwandlerisch und sprachen wenig oder aneinander vorbei. Fiktionalität und Außenrealität vermischten sich permanent, objektive Wahrnehmung, Imagination und Halluzination glitten konturlos ineinander, und zwischen Ereignis und Handlung konnte ohnehin nicht mehr unterschieden werden. Auch ein Raumordnungsverfahren war nur mit Mühe erkennbar aufgrund der spiegelbesetzten Innenraumausstattung, bei der nie klar war, wo die Wohnung der beiden Hauptfiguren mit den Rissen in den Wänden und stets lodernden Feuerquellen aufhört und das Treppenhaus anfängt. Und die Stadt Wien spielte als Lokalisationsort eine nur untergeordnete Rolle. Alle filmanalytischen Paradigmen, die ich in Kanzogs Seminaren gelernt hatte, verschwammen in diesem Moment vor meinem geistigen Auge und wandelten sich zu schier unnützen Werkzeugen, die im Falle dieser Literaturverfilmung nicht zu taugen schienen.
Dies erzähle ich aus heutiger Perspektive, fast 35 Jahre später. Natürlich wusste der Meister, der regungslos neben mir im Kinosessel saß und sich nichts anmerken ließ, eine Lösung: Die Zeichen! „Konzentrieren Sie sich auf die bildlichen Zeichen, auf den Zeichenstatus des Films!“ Und während die Zuschauer applaudierten und Schroeter mit seiner Crew diskussionsbereit vor die Kinoleinwand trat, wurde ich in Kurzform über Peirce und de Saussure instruiert, mit dem Angebot, dies in einer der nächsten Sprechstunden zu vertiefen. Was ich selbstverständlich tat. Dank Kanzogs Hilfe fand ich sogar den point-of-view des Films heraus, spezialisierte mich auf Elfi Mikeschs Kamerahandlung und untersuchte Mise en scène und Montage, nicht ohne vorher ein Sequenzprotokoll sowie ein ausführliches post shooting script erstellt zu haben. Somit hatte ich viele Jahre mit diesem Film zu tun, mehr, als mir manchmal lieb war. Am Ende bescheinigte mir der Rezensent Werner Barg, ich hätte anhand der Malina-Filmanalyse ganz en passant die wichtigsten Grundlagen der Theorie und Methodik filmsemiotischer Forschung vermittelt. Welch ein Glück!
Ute Seiderer,
Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in München, Berlin und Zürich. Promotion an der HU Berlin. Berufliche Stationen als Regieassistentin, Redakteurin von Reiseführern, Journalistin, Wissenschaftslektorin und Hochschullehrerin. Lehraufträge und Gastdozenturen an der HU Berlin, TU Dresden, BTU Cottbus-Senftenberg, Universität Potsdam und Université de la Manouba, Tunis. Diverse wissenschaftliche Veröffentlichungen. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Gleichschwebende Aufmerksamkeit
Im Kern der Sache geht es um die Bereitschaft, sich auf die Informationen und den Rhythmus des Films einzulassen, seinen Wahrnehmungsvorgaben sukzessiv zu folgen, und um die Fähigkeit, die gewonnenen Eindrücke zu ordnen und zu speichern.
‚Springender Punkt‘ ist der Grad der kognitiven Aufmerksamkeit. Die ausgelösten Affekte bewirken Selektion, und wer von vorneherein mit bestimmten Suchbildern an den Film herangeht, hat bereits ein Vorurteil getroffen. Hilfreich sind hier Sigmund Freuds „Ratschläge für den Arzt bei der psychiatrischen Behandlung“. Freud empfiehlt dem Diagnostiker eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“, bei der das Interesse sich nicht zu früh auf die Selektion von Einzelheiten richten und an keiner vorgefaßten Meinung orientieren darf. Der sog. ‚klinische Blick‘, ein Zusammenwirken von Fakten, Erfahrung und Intuition, führt dann zu jenem Punkt, von dem aus die Phänomene eingeordnet und gedeutet, allerdings auch ‚verfehlt‘ werden können.
Klaus Kanzog
aus: Elfriede Ledig, Michael Schaudig (Hg.): Grundkurs Filmsemiotik, diskurs film Verlag, München 2007 (= diskurs film – Münchner Beiträge zur Filmphilologie Band 10)
Ich erinnere mich …
… an die Faszination, die das Prosagedicht Alles kurz und klein. Erinnerungen von Uli Becker (Zürich 1990) bei mir auslöste: Mit Miniaturen, die alle mit diesen drei Worten begannen und deren Methode ich mir hier erlaube, fortzuführen.
… an die allerersten filmwissenschaftlichen Veranstaltungen, die Klaus Kanzog für und mit uns im Münchner Filmmuseum durchführte. Die faszinierende ‚geschützte‘ Filmwelt mit historischen Funden, mit tiefgreifenden Fragestellungen und interessanten Querverbindungen, mit Einführungen, aber ohne Popcorn und Werbung, hat mich wirklich geprägt. Dort, unter Gleichgesinnten und Begeisterungsfähigen, habe ich auch die Scheu vor dem Sprechen in der Öffentlichkeit bald abgelegt. Es wurde mein Münchner Kino-Zuhause, samt vielen Freundschaften, Filmzentrumsarbeit, selbst live eingesprochenen (!) Untertiteln, sogar mit eigenen Retrospektiven.
… an die Art, wie Kanzog in winziger Schrift mit verschiedenfarbiger Tinte unsere Arbeiten korrigierte: immer präzise, nie kleinlich, immer zutreffend. Und wenn – ganz selten – am Rand mal ein „gut!“ oder „richtig“ stand, durfte man tatsächlich auf einen Fund, eine These oder eine wirklich neue Erkenntnis stolz sein.
… an diverse Zufallsbegegnungen an der Straßenbahnhaltestelle. Wir hatten einen ähnlichen Nachhauseweg. Dabei stellte Klaus Kanzog ganz gezielt Fragen, übernahm aber dann nach ein paar meiner Bemerkungen eigentlich die Beantwortung selbst. Es verging immer mindestens eine halbe Stunde an der Stelle, wo uns die Wege trennten. Und ich habe – bei jedem Wetter gerne ausharrend – sehr viel über die Fakultät, über Opern, Berlin, immer wieder allerletzte Buchprojekte und vieles andere gelernt. Und über mich selbst.
… an den Hinweis in einer seiner Lehrveranstaltungen, dass sehr wohl zwischen „Erzählen“ und „Berichten“, zwischen Fiktionalem und Faktischem exakt und kategorisch zu unterscheiden sei. Diese rote Linie bei der Formulierung habe ich immer beachtet. Und ich korrigiere seit 40 Jahren Aussagen in Presse, Funk und Fernsehen im Stillen, in denen es inzwischen nur noch Storys und Erzählungen gibt. Oder Shows, selbst wenn Dokumentationen gemeint sind.
… an einige Uni-Sprechstunden, in denen Klaus Kanzog mit ein paar knappen, klaren Hinweisen zu Referats- oder Prüfungsthemen oder mit zusätzlichen Lektürevorschlägen und aufmunterndem, lautem Lachen mein akademisches Leben gelenkt hat. Danach musste ich immer über die Filme berichten, an denen ich gerade arbeitete oder davon, welches Buch ich gerade las (Kommentar: „Arno Schmidt? Aber nur aus beruflichen Gründen, oder?“) Vieles fand sich dann postum auf meiner Karteikarte wieder, auf der er meine Laufbahn knapp festgehalten hatte.
… an Klaus Kanzogs Art, Lob oder Komplimente ‚über die Bande‘ zu spielen: „Meine verstorbene erste Frau hat schon gesagt, dass aus Ihnen … würde.“
… seine Ermahnung, mitten auf der Münchner Ludwigsstraße, bei einer zufälligen Begegnung kurz nach der Promotion: „Seien Sie sich bewusst, dass Sie mit diesem Titel eine Verantwortung für die Gesellschaft übertragen bekommen haben. Werden Sie ihr gerecht.“ Wie ich da innerlich etwas zusammenzuckte, seitdem aber in wichtigen Momenten meines Lebens, die gar nichts mit dem Studium oder dem akademischen Grad zu tun hatten, immer an diesen Maßstab denken muss.
In Dankbarkeit für diese Erinnerungen
Alexander Schwarz,
promovierte bei Klaus Kanzog über Stummfilm-Drehbücher, drehte eine Reihe literarischer TV-Dokumentationen, arbeitete als TV-Redakteur in München und London und ist seit 2005 als freier Übersetzer fremdsprachiger Dokumentarfilme tätig, zudem als Kurator von Filmprogrammen und als Filmhistoriker.
Doku Meets Fiction
Wie ich bei Klaus Kanzog beinahe zum Filmwissenschaftler geworden wäre
Mein einschneidendstes Studienerlebnis bei Klaus Kanzog hatte ich im Wintersemester 1989/90 an der LMU München. Ein Jahr zuvor war ich von einer längeren Studienunterbrechung aus Belfast zurückkehrt, hatte dort im Rahmen eines internationalen Friedensdienstes meine erste Doku mit nordirischen Jugendlichen gemacht. Kanzog bot nun in München ein Hauptseminar über „Dokumentarisches in Literatur und Film“ an. Für mich war es so, als hätte er dieses Seminar genau für mich konzipiert. Ich hatte Kanzog bereits zuvor an der Uni als Filmphilologen und Kleist-Spezialisten kennen und schätzen gelernt, hatte bei ihm zur Fassungsproblematik von Wielands Agathon gearbeitet.
Aber nun: Die ‚Stuttgarter Schule‘, Roman Brodman, Dieter Ertel! Ich brannte für Dokumentarfilm. Aus meiner Seminararbeit über Ironie und Wertung in der Fernsehdoku Schützenfest in Bahnhofsnähe entwickelten sich in den folgenden Jahren organisch meine Magisterarbeit und meine Dissertation zu Dokumentarfilm und Authentizität. Das wirkt auf den ersten Blick ganz weit weg von germanistischen Forschungsarbeiten über Kleist oder Literaturverfilmungen. Aber das war es natürlich nicht. Ich hatte schlicht einen Lehrer gefunden, der mich weit über den eigenen Tellerrand hinaus in meiner eigenen wissenschaftlichen Forschung unterstützt hat, Anfang der 1990er Jahre in München, einem Ort, den man sich nicht unbedingt als Mekka der Filmwissenschaft vorstellen würde. Zumal es diese Disziplin damals im eigentlichen Wortsinn in Deutschland noch gar nicht gab.
Kanzogs Vorlesungen und Seminare waren genau das für mich: Augen- und Türöffner. Hielten manche Kanzog am ehrwürdigen Germanistischen Seminar der LMU für einen Nestbeschmutzer, so wurde er von anderen vermeintlich progressiven Universitäten der Bundesrepublik aus gerne als Pedant belächelt. Filmprotokolle! Philologie! Das ‚Abzählen von Schnitten und Messen von emotionalen Reaktionen‘ wurde gerne als irgendwie kleinkariert und dem Gegenstand Film nicht angemessen betrachtet.
Dabei war Klaus Kanzog alles andere als das. Er war ein Pionier! Seine Kritiker haben seinen preußischen Arbeitseifer und seine wissenschaftliche Genauigkeit schlicht mit Kleingeisterei verwechselt. Ein fataler Irrtum. Zumal sich Kanzogs wissenschaftliches Gewicht und Wirkung als langlebig erwies. Und das, was der Germanist als Alterswerk hingelegt hat, hat viele – und auch mich – staunen lassen. Ausdauer hat einen Namen: Klaus Kanzog.
Ich bin dann doch Redakteur beim Fernsehen geworden und nicht Filmwissenschaftler. Auch das Abbiegen in eine andere Richtung hatte mir Klaus Kanzog auf seine Weise in seiner beruflichen Vita bereits vorgemacht: Es gibt eben nicht nur die EINE Leidenschaft, es können auch mehrere sein. Über ‚Fiction‘ und ‚Non Fiction‘, aber auch über vieles andere bin ich mit meinem verehrten Lehrer mehr als 30 Jahre in regelmäßiger Korrespondenz verbunden geblieben, der räumlichen Distanz zwischen Baden-Baden und München zum Trotz. Zu manchen Filmpremieren, die ich beim SWR verantworten durfte, konnte ich Klaus Kanzog beim Filmfest München einladen.
Über Ansatz und Durchführung von fiktionalen SWR-Produktionen wie Rommel (Niki Stein) oder Diplomatie (Volker Schlöndorff) waren wir uns nicht immer einig. Da war Klaus Kanzog dann am Telefon oder in seinen Briefen sehr deutlich: „Wir sind in Sachen Faktizität, Kunstfreiheit, Rhetorik im Rückblick auf Volker Schlöndorffs ‚Diplomatie‘ unterschiedlicher Auffassung. Aber ich musste mir die Argumentation von der Seele schreiben“. Oder: „Als Zeitzeuge ist unsereiner da der Sache doch näher als die Internet-Generation.“ Unserer Beziehung über den Altersunterschied hinweg haben diese Auseinandersetzungen keinerlei Abbruch getan. Kanzogs Rat und Kanzogs Kritik waren für mich wichtig. Bei einem gemeinsamen Frühstück in seiner Wohnung durfte ich vor einigen Jahren noch einmal ganz direkt erleben, wie sich der gebürtige Berliner seine Frotzeleien und seinen trockenen Humor bis zum Schluss erhalten hat.
Schicksalsschläge wie den Tod seiner zweiten Frau Dorothea im Jahr 1999 hat Klaus Kanzog nicht einfach ‚weggesteckt‘. In seiner Lehr- und Forschungstätigkeit hat er Kraftquellen gefunden, die ihn immer wieder angetrieben haben. So gab er in seinem 84. Lebensjahr noch einmal ein sechswöchiges Kompaktseminar am German Department der Dalhousie University in Halifax, Novia Scotia, Kanada. „Man hatte kurzfristig Sondermittel freigegeben, die bis Ende Dezember 2009 ausgegeben werden mussten.“ Sechs Bahnen schaffte er da noch in der „wunderbaren Dalplex Schwimmhalle“.
In seinen Briefen hat Kanzog in den letzten Jahren in gewisser Regelmäßigkeit fast schon kokettierend von seinem jeweils „letztem Buch“ gesprochen. Aber es folgten noch viele Bücher und viele Aufsätze zu Lebensthemen wie E.T.A. Hoffmann und Kleist, aber auch Unerwartetes wie ein sehr persönlicher Text zu Zeitzünder Schiller. Mir bedeutet Kanzogs Buch Kontemplatives Lesen, Meditation und Dichtung von 2009 besonders viel. Es ist die Summe seiner beiden Vorlesungen von 1973/74 und 1991 zum Thema. Letztere Vorlesung konnte ich als Tutor begleiten, als ich gerade von Recherchen für meine Dissertation aus Paris zurückgekommen war.
Am 9. November 2024 signierte Kanzog dann seine Publikation zu Kurt Loewenstein und Thomas Mann mit den Worten „Dies ist mein Abschied von der Wissenschaft“. Es waren die selbstbestimmten Worte eines Mannes, der sein Lebensende kommen spürte. An seinem 98. Geburtstag haben wir ein letztes Mal telefoniert. Das innere Gespräch mit ihm werde ich fortsetzen.
Manfred Hattendorf
Dr., geb. 1963, studierte Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft in München und Heidelberg. 1993 Dissertation über Dokumentarfilm und Authentizität. Seit 1994 in unterschiedlichen Funktionen beim SWR in Baden-Baden tätig. Seit 2005 Leiter der Abteilung Film und Planung im SWR. Seit 2012 außerdem Vorsitzender im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart.
Denn er war unser!
Wenn ich in meinem Büro um mich schaue, auf die Bücher, die da in den Regalen stehen, sind auch ein paar neue dabei: Sie stammen aus der Bibliothek meines Doktorvaters, Professor Klaus Kanzog. Sein Tod am 4. Januar 2025 war so nicht das Ende all des Wissens, das er mir schenkte. Seine Seminare und Vorlesungen an der LMU machten mich mit dem Begriff „Filmphilologie“ überhaupt erst bekannt. Er war Kleist- und E.T.A. Hoffmann-Experte, aber eben auch ein Dozent, der uns zeigte, wie man Propaganda-Filme analysieren kann; Fontane (ich schrieb meine erste Seminararbeit bei ihm über die damals vier Effi Briest-Verfilmungen) liebte er ebenso wie Marius Müller-Westernhagen. Meinen ersten Feuchtwanger-Roman las ich ebenfalls in einem seiner Seminare, und er war es, der mir sagte, Feuchtwanger sei zu gut für eine Magisterarbeit, ich sollte mir das Thema für die Doktorarbeit aufheben – was ich tat. Als ich ihm letztes Jahr bei einer der Feuchtwanger-Veranstaltungen des Wilhelmsgymnasiums noch einmal begegnen durfte, schloss sich ein Kreis.
Tanja Kinkel mit Klaus Kanzog, 2024
Er neigte mehr zur Romantik als zur Klassik, aber ich borge mir trotzdem ein paar Verse von Goethe über Schiller aus, um Lebewohl zu sagen:
Denn er war unser! Wie bequem, gesellig Den hohen Mann der gute Tag gezeigt, Wie bald sein Ernst, anschließend, wohlgefällig, Zur Wechselrede heiter sich geneigt, Bald raschgewandt, geistreich und sicherstellig Der Lebensplane tiefen Sinn erzeugt, Und fruchtbar sich in Rat und Tat ergossen; Das haben wir erfahren und genossen.
Tanja Kinkel,
Dr., geboren 1969 in Bamberg, studierte Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaft und erhielt diverse Literaturpreise, Stipendien in Rom, Los Angeles. Sie ist PEN-Deutschland Mitglied, Präsidentin der Internationalen Feuchtwanger Gesellschaft sowie Gastdozentin an Hochschulen und Universitäten im In- und Ausland. Als Schriftstellerin veröffentlichte sie bis 2025 vierundzwanzig Romane, die in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt sind.
Erinnerungen an Professor Dr. Klaus Kanzog
Wenn ich an meinen Doktorvater denke, kommen mir nur gute Gedanken und schöne Erinnerungen in den Sinn: Das erste Mal traf ich ihn bei einem Aufnahmegespräch zu einem Seminar über die Verfilmung literarischer Werke. Mir fiel auf, dass er sich alles einzeln und genau notierte. Am Ende unseres Gesprächs machte ich eine unschuldige Bemerkung. Ich meinte, bei der Benotung und Beurteilung des Seminars müsse er dann schon ausreichend berücksichtigen, dass ich erst im dritten Semester sei und deshalb nicht so viel wissen könne wie die anderen, die schon im 9. oder 10. Semester sind. Da begann er lauthals und schallend zu lachen, irgendetwas tief in seiner Seele war getroffen. Dann sagte Professor Kanzog etwas, das ich nicht vergessen kann: „Ach, wissen Sie, wir Professoren wissen auch nur ganz wenig und auch nicht mehr als die übrigen Menschen.“
Er war eben nicht ein typischer Professor und Akademiker, der sich anderen überlegen fühlte, sondern er war ein Mensch, der sich für den anderen interessierte, sich auf gleiche Stufe stellte. Und er war einer, der gerne lachte. So war es und so blieb es bis zuletzt. Er versuchte, jeden Studenten und jede Studentin darin zu unterstützen, das zu entwickeln, was sie oder er selbst will, und nicht das zu verlangen, was der Professor will.
Zu seinem 80. Geburtstag lud er 80 (oder 100) seiner ehemaligen Schülerinnen und Schüler in ein Münchner Gasthaus ein, dessen Wirt ebenfalls ein Ehemaliger von ihm war. Bescheiden wie es seine Art war, stellte er bei der Feier nicht sich selbst in den Mittelpunkt, sondern ergriff nur zweimal kurz das Wort. Zwei Sachen, die er dort sagte, sind mir im Gedächtnis geblieben. Das eine, was er sagte, war: Wir lernen nur aus unseren oder aus den Fehlern der anderen. Und das andere, was er sagte — er, der Professor, der so viele Bücher geschrieben und zahlreiche Aufsätze verfasst hat —, war: „Das, was am Ende bleiben wird, was von uns bleiben wird, ist die persönliche Begegnung.“
Und wenn ich am Grab von Klaus Kanzog stehe und mich an ihn erinnere, bleibt die Frage: Woher kam diese unglaublich positive Energie und Motivation, andere Menschen auf ihrem Lebensweg zu unterstützen? Woher kam diese seine Freude? Vielleicht zeigt es sein Grabstein: Hier liegen seine erste Frau Eva, die schon mit 44 Jahren sterben musste, und auch seine zweite Frau, die er vor der Zeit verlor. Immer wieder ging sein Lebensglück zu Ende, starb seine Hoffnung, mit einer Frau und in einer Familie glücklich bis an sein Ende zu leben. Vielleicht gab ihm das Schicksal diese Botschaft mit auf den Weg: fröhlich und frohen Mutes, mit Humor und Gelassenheit durchs Leben zu gehen und Menschen zu begleiten, damit sie ihren Weg machen können.
All die Jahre nach dem Studium hat Professor Kanzog bei jedem Gespräch und jedem Telefonat immer gefragt: Wie geht’s der Frau? Wie geht’s dem Kind? Immer war die Grundlage seines Lebens der Wunsch, dass es allen gut gehen möge. Er hatte eine so außergewöhnlich positive Ausstrahlung und ein so ausgeprägtes Wohlwollen, wie man es nicht so leicht findet. Was für ein Mensch.
Hans Mayer,
Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie an der LMU und UCLA. Promotion über den Emil Jannings-Film Der zerbrochene Krug 1987. Betreiber einer Privatschule für berufliche Fortbildung (1992 bis 2004). Gründer und Inhaber des LILIOM Verlags Waging am See (seit 1990).
Bloß kein Theater!
Dieser Text ist keine wissenschaftliche oder literarische Ausführung. Als Patensohn von Klaus Kanzog und als seine Münchner ‚Familie‘ möchte ich nicht den Professor, sondern nur den Menschen Klaus in den Mittelpunkt stellen.
Ich finde, dass ihn vier Eigenschaften wirklich herausheben:
1.) Klaus war selbstbestimmt, diszipliniert und stur.
2.) Er war superklug und hatte ein Gedächtnis bis zum Himmel und zurück.
3.) Er war durch und durch Wissenschaftler: detailversessen, durchaus nerdig und stets neugierig. Er hat die Bedeutung seiner Disziplin niemals unterschätzt. Fachtypisch hatte er eine latente Logorrhoe. (Dank an Dirk Heisserer für dieses Wort).
4.) Klaus war ein guter Mensch, humorvoll, und er hatte immer eine Geschichte mehr als alle anderen.
Diese vier Eigenschaften kann man wie unter einem Brennglas an seinen letzten Wochen illustrieren:
Klaus hat sich am 19. Dezember selber mit dem Taxi im Krankenhaus Neuwittelsbach eingeliefert, alles sauber gepackt, inkl. all seiner Unterlagen.
In der Klinik erklärt er: Ich möchte sterben und keinesfalls wieder nach Hause zurück. Die Ärzte beraten, lehnen ab und schicken erstmal einen Pfarrer, der aber erschöpft nach 2,5 h aufgibt.
Klaus bleibt in der Klinik, hört das Essen auf und setzt alle Medikamente ab.
Klaus ist superklar im Kopf und stur, wir besuchen ihn jeden Tag, es ist ja Weihnachtszeit. Wir erörtern Fragen wie: „Hast Du eigentlich Angst vor dem Tod?“ Antwort: „Nein, wieso, das ist doch spannend, was da dann passiert.“
Am Neujahrsmorgen – also nach 12 Tagen – ruft er bei uns an und fragt: „Könnt Ihr mir ein ‚Gösser Radler‘ vorbeibringen?“ Er trinkt die Radler-Halbe, kippt einen Eierlikör nach und erklärt: „Jetzt hör ich auch mit dem Trinken auf.“
Am 3. Januar fahre ich mit einer Frageliste meiner Kinder zu Klaus: Wie war das im Krieg, woran erkannte man die Menschen, denen man trauen konnte, wie war das in der Bekennenden Kirche? Jede Frage wird klar und überlegt beantwortet.
Am 4. Januar morgens rasiert sich Klaus, legt sich hin und stirbt. Unsere Tochter Kerstin findet ihn.
Aber so kann dieser Text nicht enden, das hätte Klaus nicht gewollt. Deshalb eine letzte Geschichte:
Wenige Tage vor seinem Tod besuchen wir ihn und sagen spaßeshalber am Schluss: „Sag Bescheid, bevor Du stirbst, dann kommen wir nochmal zum Verabschieden vorbei.“ Daraufhin Klaus: „Ach was Abschied! Bloß kein Theater!“
So wollen wir Klaus Kanzog in Erinnerung halten!
Thomas Zachau
Nach einem abgebrochenen Theologie- und einem Wirtschaftsstudium mit Promotion hat Thomas Zachau die H&Z Unternehmensberatung gegründet. Heute ist er als Social Entrepreneur, Investor und immer noch als Unternehmensberater tätig. Er ist verheiratet und hat vier erwachsene Kinder.
Kanzog revisited
Vorab: Ich bin kein Kanzogianer und kannte Klaus Kanzog nicht persönlich. Ich kenne ihn nur indirekt, als Leser seiner Schriften. Und diese meine Lektüre – ich muss es gestehen – kam verspätet.
Vor 40 Jahren kämpfte ich mit meiner Magisterarbeit im Fach Neuere Deutsche Literatur, sie trug den Titel Filmisches Wahrnehmen im Werk von Peter Handke. Dreierlei machte einem damals zu schaffen. Zunächst einmal musste, wer im Rahmen der Germanistik über Film schreiben wollte, sich ein Literatur-Alibi besorgen: Film als solcher war kein Thema, es musste schon etwas Gedrucktes sein, das dann in zweiter Linie durchaus auch irgendwie mit Film etwas zu tun haben durfte. Nur so konnte man den Film contra bannum in die damalige Germanistik hineinschmuggeln. Dazu benötigte man zweitens einen großzügigen, aufgeschlossenen, neugierigen Professor als Komplizen. Den hatte ich an der Uni Mainz in Gestalt von Dieter Kafitz gefunden – reine Glückssache, denn wäre da nicht zufällig dieser Literaturprofessor gewesen, ich hätte mir für meine Magisterarbeit etwas anderes ausdenken müssen.
Drittes Problem: das filmwissenschaftliche Handwerkszeug. Nicht, dass es da gar nichts gegeben hätte, aber es war nicht besonders viel. Die deutsche Filmwissenschaft war eben erst dabei, sich aus ihren Gastgeber-Disziplinen (Philologie, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte…) herauszuwinden. Sie stand noch längst nicht auf eigenen Füßen und hatte gewissermaßen noch keine Adresse. Verstreutes, Fragmentarisches musste man sich selber zusammensuchen. Etwas war im Entstehen, aber noch nicht recht vorhanden. Gleichwohl begann dieses Etwas, so langsam Fahrt aufzunehmen. Meine Magisterarbeit war schon fast fertig, als das Buch Die Formen des filmischen Blicks: Wenders – Die frühen Filme von Norbert Grob herauskam – absolut brauchbar für mein Thema! Kein filmtheoretisches Grundlagenwerk, aber vielleicht ein Buch, das dazu einige Bausteine liefern könnte. Und vor allem eines, das nicht allein dem Lesen von Texten, sondern ganz entschieden dem Sehen von Filmen entsprungen und verpflichtet war. Eigentlich hätte ich meine Arbeit daraufhin umschreiben müssen, aber das ging dann nur noch notdürftig. Ich wollte mein Examen machen und konnte damit nicht warten, bis sich die deutsche Filmwissenschaft irgendwann einmal vollständig konsolidiert haben würde. Es sollte dann auch noch 18 Jahre dauern, bis Norbert Grob in Mainz ankam: als Professor für Mediendramaturgie. Ein Fach, das sich selbst erst noch erfinden musste.
Und die Münchner Filmphilologie? Ob ich damals, als ich über meiner Arbeit saß, Kanzogs an entlegener Stelle (Tagungsbeiträge eines Symposiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung) erschienenen Aufsatz mit dem einschüchternden Bandwurmtitel Die Standpunkte des Erzählers und der Kamera. Peter Handke und Wim Wenders: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Point-of-view-Probleme im Film und in der Text-Verfilmung (1981) nicht gekannt oder ihn souverän ignoriert habe, kann ich heute nicht mehr sagen. Jedenfalls habe ich ihn nicht für meine Arbeit verwendet. Stattdessen habe ich mich mehr auf die Franzosen verlassen und mir für mein Theoriefundament einen wilden Mix aus Roland Barthes, Maurice Merleau-Ponty und André Bazin zusammengebastelt. Und am Ende habe ich dann doch mehr über Handke und sein Gedrucktes geschrieben als über Film und Kino.
Im Nachhinein denke ich, dass ich vor 40 Jahren die Münchner Filmphilologie, wenn es sie da schon in ihrer späteren Form gegeben hätte, ganz gut hätte gebrauchen können. Nicht nur wegen dem, was sie zu sagen hatte, sondern auch und vor allem wegen der Art und Weise, wie sie es tat.
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Mutwillig gelesen und ‚studiert’ habe ich die Schriften von KK erst in jüngster Zeit, nach einer langen Latenzphase und sozusagen als eine nachträgliche Fortbildungsmaßnahme. Und aus einem archäologischen Interesse heraus: Ich wollte Genaueres über die Frühgeschichte der deutschen Film- und Medienwissenschaft erfahren. Was ist da eigentlich passiert? Wer meinte was und wenn ja, warum nicht? Wer hatte wann das Sagen, was hatte Bestand, was blieb auf der Strecke? Welche Wege und Irrwege wurden begangen? Und wie ist am Ende dieses wunderliche Patchwork-Gesamtkunstwerk (euphemistisch: Methodenpluralismus!) zustande gekommen, als das sich das Fach uns heute präsentiert und in dem man sich so herrlich verlaufen kann? So kam ich ganz natürlich wieder auf Kanzog zurück.
Beim Durchsehen der heute nur noch antiquarisch zu beziehenden diskurs film-Bände (Münchner Beiträge zur Filmphilologie 1-11, 1987 ff.) kam mir spontan ein Wort in den Sinn: Mühsal. Auf Biegen oder Brechen wurde versucht, mit dem damals zur Verfügung stehenden Instrumentarium (Editionsphilologie, klassische Rhetorik und Narratologie, Lotmansche Kultursemiologie…) dem Reden und Schreiben über Film eine ‚seriöse‘ wissenschaftlich-empirische Basis zu verschaffen, also mit bereits etablierten Mitteln einen noch nicht etablierten Gegenstand in den Griff zu kriegen – immer auch mit dem festen Vorsatz, ihm damit die höheren akademischen Weihen zukommen zu lassen, die er noch nicht hatte. Es war ein regelrechtes Ringen: streng, angestrengt – und für den Leser, zumal den heutigen, meist auch anstrengend. Ich habe zuweilen mitgelitten an den begriffstechnischen Verrenkungen, die da unternommen wurden, an der gewollten Trockenheit des Tons, den man zur Erfüllung des Auftrags für unbedingt notwendig hielt, war aber auch tief beeindruckt und, ja, innerlich gerührt von dem Beharrungsvermögen und der Ernsthaftigkeit, mit der Kanzog und seine Schülerinnen und Schüler bei dieser kleinteiligen Pionierarbeit zu Werke gingen. Und von ihrer Uneigennützigkeit: Die Mühsal sollte ja schließlich dem ganzen Fach zugutekommen. Es ging darum, die Werkstatt ordentlich einzurichten, bevor man ans Werkeln ging; und einen Arbeitsplatz zu schaffen, der auch andere in den Stand versetzen sollte, dort später auch noch ganz andere und vielleicht sogar bessere Stücke herstellen zu können. Die Münchner waren sich dafür nicht zu schade.
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Weiterhin fiel mir auf – und imponierte mir sehr –, wie Kanzog selbst seine Rolle als Werkstattleiter begriff: Offenkundig verstand er sich in diesem Job nicht als der große Meisterdenker, sondern in erster Linie als Dienstleister, der seinen Lehrlingen zur Hand geht. Seine typische Geste ist die Handreichung, seine bevorzugte Textsorte das Handbuch – und im Kleinen die notorisch gewordene „Faustregel“. Wer bei ihm lernen wollte, sollte zunächst einmal mit dem Nötigsten versorgt werden: mit systematisiertem Basiswissen, Standardverfahren, Anwendungsregeln, Leitfäden, einfachen Suchformeln, praktischen Anleitungen – mit einem starter kit, das man braucht, um überhaupt ins Thema und zur Sache zu kommen. Grundkurs Filmrhetorik (diskurs film 9), Grundkurs Filmsemiotik (diskurs film 10): die Buchtitel sprechen für sich.
Heißt auch: Hier werden keine essayistischen Feuerwerke abgebrannt. Die Kanzogsche Wissenschaftsprosa ist ausgesprochen funktional, nüchtern, ja spröde. Sein Grundkurs Filmrhetorik ist selbst nicht rhetorisch. Seine Einführung zu Begriff und Geschichte des Erotikfilms (diskursfilm 3) ist selbst nicht sexy. Seine prägnanten Kurz-Analysen von nervenaufreibenden Filmen wie Hitchcocks Psycho (diskurs film 10) und von verwirrenden Filmen wie David Lynchs Lost Highway (ebd.) sind selbst nicht nervenaufreibend oder verwirrend. Sie halten einen kühlen Abstand zu ihrem Gegenstand und lassen sich stilistisch nicht von ihm infizieren. So als wollte der Professor seinen Studierenden einen auch sprachlich abgesicherten Distanz- oder Schutzraum schaffen, aus dem heraus sich die betreffenden Filme leichter, besser, störungsfreier und vor allem: genauer studieren lassen…
Kurz gesagt: Kanzog der Pädagoge ist in seinen Schriften als Schutz- und Schirmherr immer präsent. Kanzog der fantasievolle, geistreiche, originelle Denker, der er auf jeden Fall auch war, tritt dahinter mitunter bereitwillig zurück. Auch das fällt in die Tugend-Kategorie der Uneigennützigkeit. Das springt ins Auge, das ist faszinierend zu verfolgen, und darauf ist Bedacht zu nehmen, will man seine Texte heute mit der Achtung lesen, die ihnen gebührt.
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Heute, wo man ganz anders über Filme spricht, schreibt und forscht. Wo man Filme möglicherweise sogar ganz anders sieht als früher… – Filmphilologie, Filmrhetorik, Filmsemiotik: Klingt das mittlerweile nicht arg überholt? Ist das noch auf Augenhöhe mit seinem Gegenstand? Oder gehört es nicht längst ins Museum der akademischen Kuriositäten? Und war es vielleicht sogar von Anfang an eine theoretische Sackgasse, ein methodischer Holzweg?
Man könnte auf diesen Gedanken kommen. In dem in meinem Besitz befindlichen, 571 Seiten starken Handbuch Medienwissenschaft (Ausgabe 2014) fällt der Name Kanzog nur an einer einzigen Stelle, en passant, in einem Nebensatz. Und die Zahl der anlässlich seines Todes erschienenen Nachrufe aus der akademischen Szene war, nun ja, übersichtlich. KK: von der Medienwissenschaft vergessen, und zwar zurecht, weil er schon früher von gestern war?
1992 schrieb Thomas Koebner – 15 Jahre jünger als Kanzog – in der Zeitschrift medienwissenschaft:rezensionen eine Rezension zu Kanzogs Einführung in die Filmphilologie (diskurs film 4). Es war eine zwar die Form wahrende, in der Sache aber vernichtende Kritik. O-Ton Koebner:
„Mich beunruhigt, daß Kanzog glaubt, erst das Abzählen von Schnitten und das Messen emotionaler Reaktionen würde Aufschluß über die Wirkungsweise eines Films geben. (…) Das Verstehen eines Films (wie das Verstehen von Kunst überhaupt) gelingt auch durch das ‚Zusammensehen’ von Merkmalen, die Gestalt oder Struktur bezeichnen, längst bevor man jede einzelne Einstellung beziffert, ihre Dauer festhält, Statistiken anlegt usw. (…) Jedenfalls kenne ich keine Untersuchung, die aufgrund eines Protokolls nach dieser Millimeter-Methode zu überraschend neuen Einsichten gekommen wäre. Hinter dieser Leidenschaft, das Flüchtige ‚dingfest‘ zu machen, steckt, wenn ich es sagen darf, ein wenig Ängstlichkeit. Diese Ängstlichkeit rührt vielleicht aus mangelnder Erfahrung mit künstlerischer Arbeit und ihrer Technik, rührt vielleicht auch aus der Unfähigkeit, die vom Film erregten Gefühle zuzulassen oder in ihrer Vielschichtigkeit zu beschreiben. (…) Wer wollte denn dagegen sein, daß man sich über Begriffe verständigt – aber zu glauben, daß nur Aussagen in konventionalisierten Termini zugelassen seien, kastriert sozusagen das denkbare Spektrum an Erkenntnissen. (…) Der Chor der Wissenschaften mag mit dieser Disziplin, so schwerfällig und gravitätisch, wie sie wirkt, zufrieden sein. Die Entfremdung der Wissenschaft von der Filmkultur und der wirklichen Diskussion über Filme wird die Filmphilologie nicht aufheben können.“
Hatte Koebner recht? Ich würde sagen: ja und nein.
Tatsache ist, dass die Filmphilologie von den diversen turns (spatial, iconic, emotional/affective, body, performative turn…), die seit den 1980er Jahren in immer schnellerer Abfolge die Geisteswissenschaften heimgesucht haben, förmlich überrollt wurde. Diese Kurswechsel-Kaskade hat das „denkbare Spektrum an Erkenntnissen“ erweitert, aber auch Methodenkonzepte, welche die jeweils fällige Blickwende nicht mit vollziehen konnten oder wollten, ins Abseits befördert: Sie galten fürderhin als nicht mehr ‚anschlussfähig‘. Koebners Kritik ist ein Indikator, der ahnen lässt, was damals diskursmäßig in der filmwissenschaftlichen Szene in Bewegung geraten war. Nur ein paar Stichworte: 1989/91 waren die Kino Bücher von Gilles Deleuze (Das Bewegungs-Bild, Das Zeit-Bild), die das herkömmliche Filmesehen gleichsam auf den Kopf stellten, erstmals auf Deutsch erschienen; 1992 erschien in den USA Vivian Sobchacks The Address of the Eye – Anstoß für eine feministisch inspirierte Filmphänomenologie und Abkehr von den strukturalistischen und semiologischen Theorie-Tools, mit denen auch die Münchner bislang hantiert hatten; und auch in der Abteilung Cultural Studies interessierte man sich nun nicht mehr für den Kleinkram des ‚filmischen Texts‘, sondern verschob den Fokus auf die ‚Kinoerfahrung‘ als soziale und ästhetische Praxis, auf das Rezeptionsverhalten des empirischen Publikums und auf die Zusammenhänge zwischen Mediengebrauch, Macht, Identität etc. …
All das stand bei Koebners Intervention und seiner Rede von der „wirklichen Diskussion über Filme“ mutmaßlich im Hintergrund. Da mochten die „Millimeter-Methode“ von KK & Co. und ihr eisernes Festhalten an den überkommenen Standards wissenschaftlicher Rationalität in der Tat „schwerfällig und gravitätisch“ anmuten. Just zu dem Zeitpunkt, da die Filmphilologie erstmals ihr Programm in Buchform ausformuliert hatte, schien der Zeitgeist über sie hinweggaloppiert.
Dabei hatten die Münchner die wissenschaftlichen Standards doch vor allem deswegen quasi übererfüllt, um im Kollegenkreis gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, in der Filmwissenschaft werde nur diffus herumschwadroniert. Oder, schlimmer noch, bei Kanzog mache man sich lediglich ein paar schöne Stunden im Kino. Es ging ihnen darum, den Film als Forschungsobjekt akademisch hoffähig zu machen. Dass ihnen genau das jetzt angekreidet wurde, war natürlich ungerecht.
Trotzdem traf Koebner auch hier, wie mir scheint, einen Punkt. Vielleicht waren solche Strategien der Selbstlegitimation inzwischen, Anfang der 1990er, gar nicht mehr unbedingt vonnöten. Schon bald nämlich sollte die Filmwissenschaft auch offiziell als Vollmitglied in den „Chor der Wissenschaften“ aufgenommen werden: 1993 wurde an der Uni Mainz das erste Institut für Filmwissenschaft der Bundesrepublik eingerichtet, mit einem grundständigen Hauptfachstudiengang und mit eigener Fachprofessur. Erster Lehrstuhlinhaber wurde – Pointe am Rande – Thomas Koebner.
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Ein wunderliches Patchwork-Gesamtkunstwerk: So habe ich das Gebilde genannt, als das sich die deutsche Film- und Medienwissenschaft uns heute präsentiert. Ein treffliches Bild dieses Gebildes liefert das 2017 erschienene Reclam-Bändchen Orson Welles‘ „Citizen Kane“ und die Filmtheorie – 16 Modellanalysen. Der Kino-Klassiker wird darin aus 16 verschiedenen Theorie-Perspektiven methodenpluralistisch betrachtet, vom Neoformalismus über Körper- und Bildtheorie, Psychoanalyse und Semiopragmatik bis hin zu Gender Studies und Technikgeschichte. Wobei übrigens auch etliche der oben erwähnten turns mit abgebildet sind.
Klaus Kanzog hat dazu einen Beitrag zur Filmrhetorik geliefert. Darin kommt er auch auf das berühmte Schlüsselwort Rosebud zu sprechen: „Zur opinio communis über dessen Bedeutung gehört die psychoanalytische Lesart. Hier steht Kanes narzisstische Liebesunfähigkeit zur Debatte, der zurückgelassene Schlitten als Zeichen für dessen verlorene Jugend und die Trennung von der Mutter als traumatischem Verlust des idealisierten Objekts. (…) Die rhetorische Beweisführung bleibt dagegen ergebnisoffen. Aus phänomenologischer Sicht gilt zunächst nur das, was gezeigt und durch interne Figurenrede vermittelt wird.“ Das Schild No Trespassing am Anfang und Ende des Films signalisiere, so Kanzog, „die Warnung, spontan Lesarten auf den Film zu projizieren.“
Wenn ich darüber nachdenke, wo denn der Kern des Kanzogschen Anliegens liegt, was zu den Essentials seiner Arbeit gehört und was als Bleibendes aus ihr mitzunehmen wäre, dann scheint es mir hier noch einmal komprimiert auf den Punkt gebracht.
Interessant ist, dass Kanzog die psychoanalytische Lesart als opinio communis bezeichnet. Er hat sich diese kleine Spitze offenbar nicht verkneifen können. Denn in der klassischen Rhetorik steht die opinio communis für das, was man so gemeinhin meint; für eine herrschende, weil mehrheitsfähige Ansicht, semantisch nicht weit weg von Konvention, Gemeinplatz, Mainstream. Es sind jene gewohnten Deutungs-Schemata, bei denen wir unvermittelt Zuflucht suchen, wenn uns etwas Ungewohntes unter die Augen kommt; ein vorzeitiges Bescheidwissen, das im Kopf einrastet, bevor wir noch den Gegenstand gründlich genug in Augenschein genommen haben.
Was nicht gegen diese Deutungs-Schemata als solche spricht – die psychoanalytische Lesart hat genauso ihre Plausibilität und Berechtigung wie alle anderen in dem Reclam-Band versammelten. Kanzogs Spitze ist kein Werturteil. Den Lesarten wird nichts abgesprochen, nichts bestritten; sie stehen allesamt „zur Debatte“. Wer die Debatte führen will – nur zu! Rosebud ist vielfältig deutbar, es gibt keine Interpretationsverbote. Aber: Wer interpretieren will, sollte möglichst nicht vergessen, vorher die Augen aufzumachen. Es geht schlicht und einfach darum, die Reihenfolge einzuhalten, die auch im normalen Alltag nützlich ist: erst sehen, dann beschreiben, dann deuten.
Das gilt auch dann, wenn sich Sehen, Beschreiben und Deuten nicht sauber voneinander trennen lassen – also für den Regelfall. Denn nicht obwohl, sondern gerade weil die Grenzen zwischen Empirie und Semantik so schwer zu bestimmen sind, ist es umso wichtiger, dass wir nicht das eine mit dem anderen verwechseln. Sofern wir denn ein reflektiertes Filmesehen (sprich: Filmwissenschaft) betreiben wollen.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger meint Kanzogs Mantra vom „klinischen Blick“ und der „geordneten Redeweise“. So steht es auch auf dem No Trespassing-Schild geschrieben, das Kanzog seinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen hier noch einmal vor die Augen und in den Weg stellt, als Handreichung für ein gedeihliches Werkeln im geisteswissenschaftlichen Betrieb.
Dem Werkstattmeister wird es eine späte Genugtuung gewesen sein, dass er sich als Mitwirkender an diesem Sammelband nicht bloß in den Chor der Filmwissenschaften, sondern nun, mit 91 Jahren, auch in deren Kanon aufgenommen fühlen durfte.
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Im Sommer habe ich mir den Spaß erlaubt und eine Künstliche Intelligenz gebeten, mir was zu KK zu schreiben. Prompt: „Wer war Klaus Kanzog?“ Die Maschine hat sich mächtig Mühe gegeben und ein 17seitiges Papier ausgespuckt:
Allerdings hat sie sich dabei nur auf eine schmale Quellenbasis stützen können: Sie hat nur den Wikipedia-Artikel zu KK und den Nachruf der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft verarbeitet. Mehr hat sie anscheinend nicht gefunden. Es wäre sicher spannend, die Prozedur jetzt nochmal zu wiederholen – jetzt, da so viel neues Erinnerungs-Material zu Klaus Kanzog zusammengekommen ist und im Netz zur Verfügung steht.
Künstliche und natürliche Intelligenzen dürfen sich freuen. Den KanzogianerInnen sei Dank.
Manfred Etten
Gespenster der Freiheit
Kinoerlebnis – Filmanalyse
Kinoerlebnis und Filmanalyse schließen einander aus: In unterschiedlichen Situationen werden Filme jeweils auf andere Weise wahrgenommen. Den „schönen Stunden“, die die Filmwerbung dem Kinobesucher in Aussicht stellt, steht die Mühe entgegen, die dem Analytiker am Schneidetisch oder am Videorecorder-gespeisten Monitor abverlangt wird, und es ist leichter, spontan Meinungen auszutauschen, als die gewonnenen Eindrücke präzis zu formulieren. Das Kino gilt als ‚Ort der Gefühle‘, bei der nüchternen Filmbetrachtung dagegen droht die menschliche Nähe zum Erlebten verlorenzugehen. Doch das Gefühl kann täuschen; schon kurze Zeit nach einem stark affektbesetzten Kinoerlebnis können auch die Affekte verbraucht sein, die den dargestellten Situationen und Ereignissen ‚Bedeutungen‘ gaben und die Identifizierung mit einem ‚Helden‘ oder anderen Figuren bewirkten. War man ursprünglich seines Urteils sicher, so drängen sich nunmehr Alternativen auf. Der zum ‚Kultfilm‘ gewordene Film dient der Bewahrung der eigenen Erlebniswelt, während die Filmanalyse den Affekten auf die Spur zu kommen versucht, die diese Erlebniswelt erzeugten. Wie kaum ein anderes Thema ist die ‚Liebe‘ solchen Affekten unterworfen, d.h. von den Augenblicken des Erlebens abhängig. Wer sich seiner eigenen Reaktionen vergewissern will und wer Zeit- und Geschmackswandel wahrnimmt, wird da jene Wirkungsmechanismen verstehen wollen, die in den filmischen Zeichen enthalten sind, und schließlich den ‚archimedischen Punkt‘ suchen, von dem aus das Kinoerlebnis noch einmal, aber mit einem anderen Bewusstsein nachvollzogen werden kann. In der Filmgeschichte sind dann Kinoerlebnis und Filmanalyse nicht voneinander zu trennen.
Klaus Kanzog
aus: Der erotische Diskurs. Begriff, Geschichte, Phänomene. In: Klaus Kanzog (Hg.): Der erotische Diskurs – Filmische Zeichen und Argumente. (= diskurs film – Münchener Beiträge zur Filmphilologie 9) München: Verlegergemeinschaft Schaudig/Bauer/Ledig, 1989
Klaus Kanzog hat auf seinem Computer einen Roman hinterlassen – entdeckt, herausgegeben und kommentiert von dem Literaturwissenschaftler und Kanzog-Schüler Dirk Heißerer.
Was willst du in Berlin?
Ein Reiseprotokoll
LILIOM Verlag: Waging am See 2025, 180 Seiten, 24,00 €
Die Todesanzeige einer alten Freundin aus Berlin erreicht den deutsch-kanadischen Frauenarzt Dr. Bernhard E. Smith an einem Wintertag in Halifax. Der Brief ohne Absender rührt an ein altes Geheimnis und wird ihm zum Anlass zu einer Reise nach Berlin und zugleich durch ein Jahrhundert deutscher Geschichte…