Dieter Wellershoff 2014

Brücken zwischen Mensch und Welt

Dieter Wellershoff zum 100. Geburtstag

Ein reiches Leben, ein fulminantes Werk. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff, der 2018 starb, wäre am 3. November 2025 100 Jahre alt geworden. Mit unerschrockener Neugierde und mit seinem eigenen Blick hat er die Welt und das Menschsein für sich und seine Leser so grundsätzlich erkundet, dass er mit seinem weit gespannten Schaffen, mit seinen Romanen, Essays, Gedichten, Hörspielen, literaturtheoretischen und autobiografischen Schriften zu den bedeutendsten Literaten der Bundesrepublik Deutschland zählt.

Ein Werk, das in vielen Facetten schillert. Herzstück unserer Wellershoff-Würdigung sind die Texte und Bilder der Ausstellung „Das Ich und seine Augenblicke“, die Irene Wellershoff und Bodo Witzke, Tochter und Schwiegersohn von Dieter Wellershoff, vom 24. bis 28. Oktober 2025 in der Kölner Galerie Smend präsentiert haben.

Die Teile dieser Geburtstags-Collage stammen durchweg aus dem Familienkreis und aus der persönlichen Begegnung, aus enger Vertrautheit und großer Nähe. Diese Nähe teilt sich im Gesamtbild, in der Summe der Facetten, auch den Betrachterinnen und Betrachtern mit.

Dieter Wellershoff: Brücken zwischen Mensch und Welt basiert auf der Einführungsrede von Bodo Witzke zur Eröffnung der Kölner Ausstellung. Die Texte „Schockiert hat mich nichts, begeistert hat mich alles“, Ein größeres Risiko musst du wohl in deinem Leben nicht mehr bestehen… und „Ich hab‘ gedacht, es wird nicht langweilig mit Dir…“ sind Teil eines Gesprächs, das Bodo Witzke 2014 mit Dieter Wellershoff geführt hat. Sie und der Film Mein Arbeitszimmer, die handschriftlichen Fragmente (Autographen) sowie das Gedicht Musik der Windharfe sind hier erstmals in dieser Form publiziert. Die Fotos stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Familienbesitz.

Danke an Irene Wellershoff und Bodo Witzke.

Gespenster der Freiheit

Dezember 2025

„Das Ich und seine Augenblicke“, Galerie Smend 2025

Dieter Wellershoff: Brücken zwischen Mensch und Welt

von Bodo Witzke

Wie war es eigentlich mit ihm? Immer spannend! Am Frühstückstisch, in seinem Arbeitszimmer, beim Spaziergang am Rhein. Seine Bereitschaft, über die Entschlüsselung der Welt zu sprechen und in der Welt zu lesen wie in einem Buch, ohne sich dabei in Beliebigkeiten zu verlieren … die Versuche, unser Menschsein zu erkennen, die Fallstricke, die Illusionen … heiter dabei.

Gerne sitzen wir auch heute in seinem Arbeitszimmer, spüren die ruhige, warme Atmosphäre. Dieter hat über sein Arbeitszimmer geschrieben, fast wie über einen Teil von sich. Es war mir ein Bedürfnis, es zu fotografieren, der Versuch, zumindest etwas festzuhalten und beim Fotografieren ganz genau hinzuschauen, auf die Komposition des Zimmers, seinen Klang.

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Mein Arbeitszimmer: Ein Foto-Video von Bodo Witzke – Musikversion in Kooperation mit Gespenster der Freiheit

Wichtig, so einen Ort zu haben für jemanden, dessen Weg der des Schreibens war, als Lebensform und als Erkenntnisweg. Geprägt wurde Dieter wesentlich durch das zufällige Überleben im Krieg. Ein taz-Autor beschrieb die Folgen für seine Bücher so: „Man meint die Granate, die den 19-jährigen Wellershoff im Oktober 1944 bei einem sinnlosen Gegenangriff auf die russischen Stellungen schwer verletzte (…) in allen seinen Büchern noch pfeifen zu hören. Sie kann gleichsam ständig einschlagen…“ Dieter hatte – vielleicht deshalb und in einer erstaunlichen Verarbeitung des Erlebten – einen unerschrockenen Blick auf Selbstillusionen, Krisen, die permanente Möglichkeit des Scheiterns.

Sich mit seiner Stadt beschäftigen, Anerkennung gewinnen, Familie gründen, zu sich selbst finden, schöpferisch sein. Auch das lese ich in seinem Werk und in seinem praktischen Tun, Lebensfreude, selbst wenn er sich mit Selbstironie als nächtliches Gespenst durch die Südstadt gehen lässt. Das unmittelbare und konkrete Interesse an seiner Umwelt. Er konnte sich an allem begeistern, an Erkenntnissen sowieso.

Für sich selbst und sein Schreiben hat er übrigens eine Zauberformel des Gelingens gefunden, denn ein Schriftsteller könne „die Irrtümer, Niederlagen und Verletzungen seines Lebens (schreibend) in eine Erfahrung der Kompetenz“ umwandeln. Ein mächtiger Schutz? Oder eher eine Selbstillusion? Ich würde sagen: Ein Weg zurecht zu kommen. Er hatte für sich gesorgt, mit einem gut temperierten Arbeitszimmer, mit Familie, Freunden, Kollegen, einem unstillbaren Erkenntnisdrang. Mit seiner geglückten Lebenspraxis wäre Dieter Wellershoff – nach meinem subjektiven Eindruck – dann doch kein idealer Wellershoff-Protagonist gewesen. Es kann eben auch Zeiten des Glücks und des Gelingens geben. Trotz aller Widrigkeiten etwas draus machen, meinte er sinngemäß.

Wobei er die Krisen für einen Schriftsteller schon ergiebiger fand. „Ich habe Erfolg mit dem Scheitern meiner Figuren“, hat er mir mit einem kleinen Lachen gesagt, wobei ein Hauch Ungläubigkeit und Staunen zu spüren war.

Eine seiner Handschriften will ich zitieren, er hat sie seiner Enkelin Marie, zufällig unsere Tochter, gewidmet: „Die Kunst ist eine schön geschwungene Brücke zwischen dem Menschen und der Welt.“

Solche Brücken zu bauen war seine Leidenschaft.

Dieter Wellershoff hat zahlreiche Autographen hinterlassen – mit markanter Handschrift aufs Papier gebracht, philosophisch, witzig, abgründig, surreal

Alltägliche Fragen

Stehlen Sie im Supermarkt?

Haben Sie aus Liebe geheiratet?

Schließen Sie manchmal im Regen die Augen?

Sammeln Sie Würfelzucker?

Haben Sie im Traum auf eine Maus getreten?

22.X.88 Dieter Wellershoff

„Schockiert hat mich nichts, begeistert hat mich alles“

Dieter Wellershoff über das Schreiben als Existenzmitteilung, glücksbringende Aha-Erlebnisse und den Weg durch den Urwald des Lebens

Ich habe ein schönes Zitat von dir gefunden, in einem Aufsatz, den du vor einiger Zeit über dein Leben geschrieben hast. Da hast du geschrieben: Ich wollte schreiben, um für mich und andere kenntlich zu werden.

Ja, natürlich. Das Schreiben ist eine Existenzmitteilung – jedenfalls so, wie ich das verstehe.

Hattest du Glücksmomente beim Schreiben?

Ja! Zweifellos!

Du lächelst.

Ja … Das ganze Schreiben ist ein Glücksmoment, wenn auch einer mit großen Anstrengungen. Es ist auch ein momentaner Glücksmoment, wenn es Aha-Erlebnisse gibt, plötzliche Einsichten, wenn man denkt: Das hast du bisher zu schematisch gesehen, das ist doch eigentlich anders. Oder wenn man denkt: Da musst du weitergehen, da könnte sich dir Neues zeigen. Ohne dieses Gefühl des Aha-Erlebnisses – ja, so ist es und nicht anders – würde das Schreiben sofort erlahmen. Es wird von der Vorstellung getrieben, dem Erkennbaren näher gekommen zu sein.

Das ganze Schreiben ist ein Glücksmoment, wenn auch einer mit großen Anstrengungen.

Muss man mutig sein?

Vielleicht muss man auch manchmal mutig sein, aber das Schreiben ist derartig reizvoll, dass man schon auch andere Motivationen hat. Man will es einfach machen, weil es ein Gewinn ist. Es ist eine Vertiefung der eigenen Existenz. Dazu braucht man eigentlich keinen Mut. … Vielleicht braucht man auch mal Mut, wenn man Dinge sagt, von denen man voraussehen kann, dass sie provozierend sind, dass sie erschreckend sind. Interessant ist zu sehen, dass die Mehrzahl der Menschen an ihren Erkenntnis- und Wahrnehmungsmöglichkeiten vorbei lebt, und sich mit Artefakten und Lebenslügen und Romantik und Propaganda begnügt. Das kann man verstehen, denn die Herausforderung zu leben, die für ein Tier selbstverständlich ist – das trägt einfach die Impulse und die Muster zum Leben mit sich –, die ist für den Menschen ganz etwas anderes. Der Mensch muss erkennen, dass er Dinge tun muss, die unangenehm sind, die von seinen Feinden nicht gewollt werden, die von anderen von ihm verlangt werden und die er nicht schaffen kann. Das heißt, das Leben steht quer zum Menschen. Und das muss er aushalten und muss sehen: Wie komme ich damit zurecht und kann ich aus dieser Erfahrung sogar einen Gewinn für mich ziehen.

Dieter Wellershoff in seinem Arbeitszimmer, 2006

Also der Grundgedanke meines Schreibens ist der, dass ich nicht in der Bahn des anerkannten, geglückten Lebens schreibe, sondern mehr wage zu sehen. Da muss auch ein Weg in den Urwald des Lebens begonnen sein. Ich glaube, dass das Schreiben schon eine Zumutung für den Leser ist: Stelle dich einer Wahrheit, der du dich bisher noch nicht gestellt hast. Ein Psychoanalytiker sagt einem Patienten auch: Du willst wissen wer du bist, na ja, dann werde ich dir aber einiges sagen müssen, was dich erschrecken wird. Ich schreibe auch über das Sterben, den Tod, über den Selbstbetrug – was auch immer im menschlichen Leben eine Rolle spielt. Über die existenziellen Fragen, die Geworfenheit des Menschen, würden die Existenzialisten sagen. Der Zufall, zum Beispiel. Die Zufälligkeit, dass ich lebe. Das ist eine erstaunliche Geschichte, dass ich lebe. Den Sinn für diese Wahrheiten und diese Erfahrungen zu wecken – auch wenn es erschütternde Erfahrungen sind –, das ist der Sinn der Literatur. Außerhalb dieser Ebene kannst du überhaupt nicht wissen, wer du bist.

Welche Erfahrung durchs Schreiben hat dich besonders schockiert?

Schockiert hat mich nichts, begeistert hat mich alles, auch wenn es schrecklich ist.

Möchtest du gerne Held in einem deiner Bücher sein?

Das bin ich. Ich habe auch viel von mir selbst dargestellt. Ich bin zum Beispiel Soldat gewesen, ich bin verwundet worden, ich habe das Sterben ringsum gesehen, und so weiter und so weiter. Aber das ist ja nur das Eine. Man macht alle möglichen komplizierten Erfahrungen, mit sich selbst, mit anderen Menschen. Keine diese Erfahrungen ist nutzlos gewesen, würde ich sagen. Nicht um in einem bestimmten Sinne ausgewertet zu werden, sondern für die existenzielle Lebensbestätigung: Ich lebe, ich bin berührt worden vom Leben.

„Ein größeres Risiko musst du wohl in deinem Leben nicht mehr bestehen…“

Dieter Wellershoff über seine Kriegserfahrungen

Deine Kriegserfahrungen, wie wirklich sind diese Erfahrungen denn noch, wenn du heute durch die heile Welt gehst?

Also die Kriegserfahrung ist für mich, für meine ganze Person, essentiell, wesentlich! Ich verdanke dem Krieg das Gefühl: Ich habe wahnsinniges Glück gehabt, dass ich noch lebe. Ich muss für dieses Glück dankbar sein und ich bin für dieses Glück dankbar. Ich erinnere die Momente, an denen ich nur zufällig überlebt habe – und das hat mir für mein ganzes Leben Schwung gegeben.

Die Formulierung: „Ich verdanke dem Krieg …“, die mögen manche kritisch sehen. Wie kann man dem Krieg etwas verdanken?

Ich persönlich verdanke ihm etwas. Aber ich will damit nicht sagen, dass wir einen Krieg brauchen, damit man solche Erlebnisse hat. Das sage ich ja damit nicht. Ich schildere den Krieg, wie nah ich daran gewesen bin, mein Leben zu verlieren, wie ich getroffen wurde, wie zufällig das war. Ich habe die Schreie von Kameraden geschildert, die einen Schuss in den Rücken bekommen haben und nach ihrer Mutter geschrien haben. Ich habe den Krieg in aller Drastik erlebt. Von meinem Jahrgang sind um die 40 Prozent umgekommen. Als ich nach Hause kam, da gab es nur noch wenige Klassenkameraden, die überlebt hatten.

Dieter Wellershoff 1941

Du schilderst das Treffen mit einem Freund, der einen Kopfschuss gekriegt hatte. Und den fragst du, was er in dem Moment gedacht hatte, als er getroffen wurde.

Und er hat eine mich verblüffende, aber absolut richtige Antwort gegeben: „Ich habe gedacht: Ach so ist das.“ Er hat damit die Antwort für die ganze Generation gegeben. Die eigentlich auch alle gedacht haben: Ach so ist das. Denn eine Zeit lang haben sie gedacht, Krieg ist das große Erlebnis. Wir ziehen los und wir werden Helden.

… die Mannwerdung …

Ja. Aber das haben unsere größten Dichter gesagt. Also Hölderlin:

Lebe droben, o Vaterland,
Und zähle nicht die Toten! Dir ist,
Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.

Wie viele Tote hast du gesehen?

Insgesamt? Tja, eine ganze Menge von Toten, die da rumlagen. Nicht nur bei dem Angriff.

Bei dem Sturmangriff? Als du verwundet wurdest?

Als ich verwundet wurde und wo mein MG-Schütze den Kopfschuss bekam. Von wo aus ich zurückkriechen musste, indem ich mein verwundetes Bein auf das gesunde legte und mich mit den Händen immer abgestützt habe und nach hinten, mit Blick zum Feind, mich weggeschoben habe, bis ich hinter einen Strohhaufen kam. Dann war ich erstmal gesichert. Da gingen keine Geschosse durch. Das war eine dicke, große Strohmiete.

Eure Einheit ist mit 180 Mann angetreten. Wie viele waren am Abend noch – sagen wir mal wehrfähig?

Es waren kaum 40. Es war ein Riesenartilleriefeuer. Dann kamen auch noch Flugzeuge, warfen Bomben ab. Es war furchtbar. Und überall lagen auch Sterbende.

(Längere Pause, schweres Atmen)

Ja, von diesem Massaker, dem Angriff, bei dem große Teile der Kompanie untergegangen sind, habe ich auch einen Eindruck schriftlich aufbewahrt, in Form eines Gedichtes. (Dieter Wellershoff liest:)

Der Schütze liegt in sich gerade

aber schräg zum Ziel

sagt der General.

Ich frage mich

wie die Toten liegen.

Der General sagt es nicht

die Dienstvorschrift weiß es nicht

aber die Toten liegen schön da

wie Teilnehmer einer Scharade

eines fanatischen Figurenwerfens.

Manche liegen auf dem Bauch

wie gestürzte Läufer

manche blicken zum Himmel

und breiten die Arme aus

manche schwimmen in Wassergräben

liegen am Fuß von Böschungen

zusammengerollt einer liegt

in einer Astgabel

mit herunterhängendem Arm.

Die Toten liegen schön da

überzeugende Darsteller

eines Augenblicks

und ohne Ziel.

(Pause)

Das kann man sehen, nicht?

(Pause)

Ist es mutig, an so einem Sturmangriff teilzunehmen, oder hat man nur einfach keine Chance, als es dann zu machen?

Das ist kein Mut. Du musst das machen. Du kannst nicht sagen, ich verweigere die Sache. Alle anderen sterben und ich nehme mir das Recht, nicht mitzumachen? Das gibt es nicht!

Wird es etwas Normales, zu sterben?

Ja. Jaja. Aber etwas Schreckliches ist es trotzdem.

Ein Satz, der sich vielleicht auch aufs Militär bezieht von Dir ist: „Das Kollektiv ist der Wahnsinn“. Was heißt das?

Das ist einfach eine Reaktion darauf, dass unendlich viele Menschen sich in einem großen Weltkrieg in Verhaltenszwänge hineinbegeben, die sie ihr Leben kosten, die nicht begründbar sind, die auch verbrecherisch sind.

Jedenfalls, … das alles überlebt zu haben, hat in mir ein solches Glücksgefühl ausgelöst, dass ich dachte: Was kann dir denn noch passieren? Es hat mir dieses Gefühl mitgegeben: Ein größeres Risiko musst du wohl in deinem Leben nicht mehr bestehen. Und das ist dir geschenkt worden, das ist doch grandios. Und jetzt? Jetzt kann ich sogar studieren. Das ist ja nicht zu glauben. Ich will was draus machen.

„Ich hab‘ gedacht, es wird nicht langweilig mit dir…“

Wie hast du deine Frau – Maria von Thadden – kennengelernt?

Ich habe sie zum ersten Mal bei einem Studentenfest auf der Honnefer Rheininsel gesehen. Da machten die Kunsthistoriker ein Fest. Ich hatte mich bei der Kunstgeschichte eingeschrieben, wurde auch eingeladen, und da war eine junge Frau, die Kostüme vorführte und Bilder nachstellte. Man musste dann erraten, welches Bild aus der Kunstgeschichte es ist. Die Frau, die das machte, das war Maria … und ich fand es wunderbar! Ich habe mich wahnsinnig in sie verliebt … aber es bestand nicht die geringste Möglichkeit, dass ich … Sie war dabei, ihren Doktor zu machen, hatte an mehreren Universitäten studiert, sie kam aus einer Adelsfamilie und so weiter… und ich war niemand! Absolut niemand!

Am Ende hat sie dich genommen. Warum?

Weil ich um sie geworben habe. Sie hat mir gesagt: Ich hab‘ gedacht, es wird nicht langweilig mit dir. Das fand ich eine gute Begründung, ja. Die Umgebung hat das kopfschüttelnd hingenommen. Wen hat die denn da? Wer ist denn das? Ich war ja eben eine Nullnummer, kann man sagen, gesellschaftlich gesehen.

Am Ende hat sie ihn genommen: Maria und Dieter Wellershoff bei ihrer Hochzeit, 1952

„Das Innerste meines Schreibens“

Gedichte aus dem Nachlass

An stillen Tagen durchforsche ich manchmal die nachgelassenen Manuskripte meines Vaters, die noch in Schränken, Kisten und Koffern ruhen, Zeugen seines umfangreichen und vielfältigen Schaffens. Fast alle Manuskripte sind in ihrer Endfassung veröffentlicht, mein Vater schrieb nicht für die Schublade, denn unsere Familie lebte von seiner Arbeit.

Seine Gedichte bildeten allerdings zunächst eine Ausnahme. Mein Vater schrieb sie nicht mit der Absicht, sie zu publizieren. Sie fühlten sich für ihn nicht wie Arbeit an, sondern waren privater: „Ich habe diese Gedichte ursprünglich nur für mich geschrieben. Es waren Meditationen über mein Leben,“ sagte er in einem Radiointerview.

Ich habe diese Gedichte ursprünglich nur für mich geschrieben. Es waren Meditationen über mein Leben.

Auch Freunden schenkte er gelegentlich ein Gedicht. Er zögerte lange, eine Auswahl seiner Gedichte zu veröffentlichen: „Ich denke, sie sind in gewisser Weise das Innerste meines Schreibens. Die Dynamik, die in den Gedichten steckt, das sind Erfahrungen, die ich vielleicht auch in Prosatexten beschrieben habe, aber dann auf andere Weise, in größeren Realzusammenhängen. In den Gedichten sind sie pur da.“

Groß war die Freude, als vor nicht so langer Zeit unerwartet ein uns unbekanntes und noch nicht veröffentlichtes Gedicht von ihm in der Post auftauchte. Gesendet von Eri Krippner, Malerin und Lebensgefährtin von Günter Haese, einem Kybernetik-Künstler, der filigrane und hochbewegliche Plastiken zu seinem Markenzeichen gemacht hatte. Mein Vater schrieb das Gedicht Musik der Windharfe zum 60. Geburtstag des Künstlers als persönliche Hommage an Haeses Plastiken. Das Gedicht erinnert mich an die Begeisterungsfähigkeit meines Vaters für Schönheit, Kunst und die Fülle sinnlicher Wahrnehmung.

Gedichte wie Das Ich und seine Augenblicke, dessen Titel wir für unsere Ausstellung übernommen haben, stehen für seinen illusionslosen Realismus, mit dem er auch auf die Welt geschaut hat. Dieser klare Blick hat ihm aber nicht die Liebe für die Welt und das Leben genommen. So markieren diese beiden Gedichte für mich zwei Pole seines Werks.

Irene Wellershoff

Musik der Windharfe, Typoskript, 1984
Günter Haese: Optimus II, 2006/2007
Dieter Wellershoff, Günter Haese 1992

Die Jahre kommen und gehen

und der, den wir „ich“ nennen,

wechselt seine Gestalten,

immer bemüht auszusehen,

als wäre er es: –

dieses kleine Kind, das eine Blume gepflückt hat,

und jener von der Sonne geblendete junge Mann,

der seine Augen zusammenkneift,

und der ältere in seinem Sessel,

vorgebeugt, lächelnd,

offenbar mitten im Gespräch.

Du glaubst sie alle gewesen zu sein,

jedenfalls für Augenblicke,

dort, inmitten von Verstorbenen,

in längst verlassenen Häusern,

auf längst verrotteten Gartenstühlen.

Aber ist da nicht ein Blinzeln,

ein verlegenes Beiseiteblicken?

Bin nicht der, den du meinst.

Wir sind nicht du.

Alle diese Augenblicke,

aufgefädelt zu einer Lebensgeschichte

– Seite für Seite

blätterst du die Zeit um:

damals damals damals –.

Du konntest die Zeit nicht festhalten,

ebenso wenig wie den Wind.

Dieter Wellershoff

für Karlheinz von Dahlen zum 50. Geburtstag, 1989

Die Textzitate stammen aus:

Ich hätte vieles werden können: Arzt, Psychotherapeut, Tanzlehrer, Philosophieprofessor, Architekt, Verbrecher, Kriminalbeamter, Geisteskranker, und vielleicht bin ich das auf mittelbare Weise alles geworden, indem ich Schriftsteller geworden bin.

Man macht alle möglichen komplizierten Erfahrungen, mit sich selbst, mit anderen Menschen. Keine diese Erfahrungen ist nutzlos gewesen, würde ich sagen. Nicht um in einem bestimmten Sinne ausgewertet zu werden, sondern für die existenzielle Lebensbestätigung: Ich lebe, ich bin berührt worden vom Leben.

Irene Wellershoff, promovierte Germanistin, ehemalige Redaktionsleiterin im ZDF, Erfinderin der Sendereihen Siebenstein und Märchenperlen, der Figur des ZDFchen und Kinderbuchautorin. Ihre Programme erhielten zahlreiche nationale und internationale Preise. Sie selbst wurde u.a. mit der Hanauer Bürgerdozentur ausgezeichnet.

Bodo Witzke, ehemaliger Redakteur beim ZDF. Er realisierte als Autor viele Reportagen und Dokumentationen zu gesellschafts-, entwicklungs- und umweltpolitischen Themen und erhielt zahlreiche Preise, wie den Journalistenpreis Entwicklungshilfe des Bundespräsidenten. Er publizierte Bücher zum Medium Fernsehen, zeichnete Cartoonbücher und veröffentlichte Fotobücher.

Bildquellen & Urheberrechte

Dieter Wellershoff 2014: © Bodow, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0> via Wikimedia Commons

Ausstellung „Das Ich und seine Augenblicke“ / Dieter Wellershoff in seinem Arbeitszimmer 2006 / Bildergalerie Pan und die Engel / Dieter Wellershoff 2006 mit Bodo Witzke / Dieter Wellershoff 2009 mit Tochter Irene / Dieter Wellershoff 2007 bei der Kino-Premiere: © Bodo Witzke

Dieter Wellershoff, Günter Haese: © Eri Krippner

Günter Haese: Optimus II: © Günter Haese, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Dieter Wellershoff 1977 / 1982: © Gerald Wellershoff

Dieter Wellershoff 1993: © Erhard Wesser

Filmplakat Der Liebeswunsch: © NFP Marketing & Distribution

Signatur Dieter Wellershoff: © Alfred Löhr, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Common

Irene Wellershoff & Bodo Witzke: © Christoph Fleischer

Alle anderen Abbildungen sowie alle hier erstmals publizierten Texte: Familienarchiv Wellershoff, veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis. Vervielfältigung und/oder Nutzung außerhalb von www.gespenster-der-freiheit.de nur nach vorheriger Rücksprache mit der Redaktion.

Der Fotofilm Mein Arbeitszimmer wurde in seiner ursprünglichen Fassung in der Ausstellung Dieter Wellershoff – Die Wahrnehmung des Lebens vertiefen vom 1. Oktober bis zum 22. Dezember 2018 in der Stadtbibliothek Köln erstmals gezeigt und für die Gespenster der Freiheit neu bearbeitet.

Buchtipps

Dieter Wellershoff

Der Liebeswunsch

Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000/2009

400 Seiten

E-Book 9,99 €

Marlene hat einst ihren Mann Leonhard verlassen, um mit seinem besten Freund Paul zusammen zu leben. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es ihnen, die Kränkungen zu überwinden und eine Balance in ihrer ungewöhnlichen Freundschaft zu finden. Als Leonhard, ein angesehener Richter, eine viel jüngere Studentin kennenlernt und bald darauf heiratet, scheint die Harmonie perfekt. Doch die Rituale der Freundschaft beginnen zu bröckeln.

„Ich habe selten erlebt – in unserer zeitgenössischen Literatur, dass Liebe so vergegenwärtigt wird… Mit 75 hat Dieter Wellershoff sein Meisterstück geschrieben!“ urteilte Marcel Reich-Ranicki über den Roman Der Liebeswunsch. Dieter Wellershoff feierte mit diesem Spätwerk nicht nur einen großen Erfolg bei der Kritik, sondern begeisterte auch viele Leserinnen und Leser.

2006 wurde Der Liebeswunsch unter der Regie von Torsten C. Fischer verfilmt. In den Hauptrollen: Jessica Schwarz, Ulrich Thomsen, Tobias Moretti und Barbara Auer.

Dieter Wellershoff 2007 bei der Kino-Premiere des Films Der Liebeswunsch nach seinem gleichnamigen Roman

Werner Jung (Hg.)

„Verborgene Texte des Lebens“

Dieter Wellershoff – ein Lesebuch

Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022

350 Seiten

kartoniert, 28,00 €

Das Buch versammelt autobiografische Texte, Aufsätze, Briefe und Fotos, die großenteils bis dahin unpubliziert waren. Mit einem Nachwort von Irene Wellershoff: „So resigniert bin ich nicht, dass ich Komödien schreibe“ – Erinnerungen an meinen Vater.

Gabriele Ewenz (Hg.)

Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch

Dieter Wellershoff – Ansichten von Köln

Düsseldorf: Lilienfeld Verlag, 2025

328 Seiten

gebunden, 24,00 €

Die Stadt und der Schriftsteller: Dieter Wellershoff durchstreift Köln als Lebens-, Schreib- und Kulturraum. Zusammen ergeben die Texte einen einzigartig persönlichen und zu eigenen Entdeckungen einladenden Blick auf seine Wahlheimat. Zu seinem 100. Geburtstag legt Gabriele Ewenz eine neue Zusammenstellung seiner Köln-Texte vor: das Panorama einer Großstadt, das Porträt eines Wohn- und Arbeitsortes und zugleich das eindrückliche Selbstzeugnis eines Künstlers.

Markus Schwering

Krise und Utopie

Dieter Wellershoff – Leben und Werk

Köln: Böhlau Verlag, 2025

419 Seiten

gebunden / E-Book 39,00 €

Dieter Wellershoff gilt heute – neben Heinrich Böll und Jürgen Becker – als maßgeblicher Vertreter der Kölner Literaturszene nach dem Zweiten Weltkrieg. Zentral in seinem Werk steht die Frage, ob und wie der Mensch der späten Moderne überhaupt noch ein glückendes Leben zu führen vermag – eine Frage, die nicht an Relevanz verloren hat. Markus Schwering nimmt den 100. Geburtstag des Autors zum Anlass für eine Gesamtdarstellung seines Lebens im engen Zusammenhang mit seinem Œuvre.

Peter Henning

Vom Leben berührt

Erinnerungen an Dieter Wellershoff

Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2025

112 Seiten

gebunden 16,00 € / E-Book 14,99 €

Ein bewegendes Memoir über einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts: Peter Henning gewährt einen intimen Einblick in seine tiefe Verbundenheit mit dem Kölner Autor Dieter Wellershoff. In ebenso persönlichen wie eindrücklichen Schilderungen lässt er uns an seiner Beziehung zu Wellershoff teilhaben, der für ihn Mentor, Berater und väterlicher Freund war.

Dieter Wellershoff im Netz

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Dieter Wellershoff Experte für Existenzkrisen
Einige schöne O-Töne von Wellershoff zu seiner Poetik, zum literarischen Selbstverständnis, seiner Weltsicht, dem Leben als Geschenk („ich habe zu viele Sterbende gesehen“), der Fragilität unserer Existenz, der Suche nach Glück. Ein guter, kompakter Überblick in etwa 4 Minuten. Audio, WDR 2 Kultur am Mittag, 2018, mit Transskript.

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Dieter Wellershoff im Gespräch mit Peter Henning
u.a. über die Werke Zikadengeschrei, Der Liebeswunsch, Was die Bilder erzählen. Faszinierend: Wellershoffs Kommentare zu drei Musikstücken, die er sich selbst ausgesucht hat. Leider mussten die Musiken aus Urheberrechtsgründen fast komplett herausgeschnitten werden – aber man kennt sie ja. Audio, hr2 kultur, 2014, ca. 41 Min., mit Transskript.

Ins Sein gelangen
2005 besuchte Dieter Wellershoff ein Konzert der 3Geiger. Tief berührt und inspiriert von ihrer Musik, schrieb er die Lyrik Ins Sein gelangen, die er den Musikern widmete. Ein Jahr später, am 3. Dezember 2006, wurde das Werk in der Kölner Lutherkirche uraufgeführt, von Wellershoff persönlich gelesen und musikalisch begleitet von Klaus der Geiger, Christoph Broll, Mani Neumann und Ulli Brand. Video, ca. 17 Min., mit Transskript.
„Komm Se‘ rein!“ – Dieter Wellershoff zu Hause
In der WDR-Reihe Komm Se‘ rein führt Dieter Wellershoff die Besucher durch seine Kölner Wohnung und zeigt zusammen mit seiner Frau Maria seine private Umgebung und das konkrete Umfeld, in dem viele seiner Werke entstanden sind. Video, WDR 2000, 4:30 Min., mit Transskript.

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Was die Bilder erzählen
Wissen und Leidenschaft, das zeichnet den Blick des Schriftstellers Dieter Wellershoff bei seiner Reise durch die Malerei aus, die er in seinem Buch Was die Bilder erzählen unternimmt. Er zeigt eine persönliche Auswahl von Gemälden und Zeichnungen, von der Renaissance bis in die Moderne: ein Buch, das die Veränderungen der Malerei durch die Epochen beschreibt und gleichzeitig die Obsessionen und Skurillitäten, die sich in der Malerei widerspiegeln, letztlich das zutiefst Menschliche, für das Wellershoff einen geschärften Blick besaß. Video, ca. 15 Min., 2013, mit Transskript.

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