
Der Politiker als Büchernarr oder: Lesen als Lebenselixier
Gregor Gysi und sein Leben in 13 Büchern
von Wolfgang J. Ruf
Das schmale Buch von Gregor Gysi entdeckte ich unlängst bei einem Bummel durch Ansbach in Mittelfranken. Das ist eine der zumeist süddeutschen Städte, deren Erscheinungsbild niemanden irritiert und die unter anderem dem passionierten Leser auch noch eine verblüffende Vielfalt von Buchhandlungen bieten. Mein Blick blieb an dem Buch sogleich hängen, weil ich eine unvergessliche Erinnerung an seinen Autor habe. Beim Bundestagswahlkampf 1998 sprach er als Spitzenkandidat der PDS auf dem Karlsruher Marktplatz. Er redete kämpferisch gegen das vom Rathausturm dröhnende Glockenspiel an, das wohl als Störung des Auftritts des Leibhaftigen aus dem deutschen Osten eingeschaltet worden war. Er beschwor das Bundesverfassungsgericht als Hüter demokratischer Freiheit und verwies dabei auf die antik anmutende Säulenfassade hinter sich. Doch das Bundesverfassungsgericht ist ein moderner Zweckbau, der einige hundert Meter weiter am Karlsruher Schloss steht. Der klassizistische Bau, auf den Gysi zeigte, ist die Evangelische Stadtkirche. Es wurde gelacht, aber es blieb unklar, ob Gysi seinen Irrtum wahrnahm – verlegen wurde er jedenfalls nicht. Seither fasziniert er mich immer wieder mit seinen Auftritten; ich höre aufmerksam zu, auch wenn ich seine Meinungen nicht teile. Bei Talkshows im Fernsehen garantiert er mir, dass ich nicht ermüdet wegdämmere.
Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! – Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. – Ei, so habt doch endlich die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen – aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!
Johann Wolfgang von Goethe
Beim ersten Blättern zeigt sich schon, dass die als Motto vorangestellte Aufforderung Goethes an die Deutschen, sich doch auch ohne allzu abstrakte Gedanken und Ideen ergötzen, rühren, ja auch belehren, entflammen und ermutigen zu lassen (im Gespräch mit J. P. Eckermann am 6. Mai 1827), sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht und es trägt. Im einführenden Gespräch, in dem es auch um Gysis Rolle als Anwalt in der DDR geht, etwa als Verteidiger Rudolf Bahros, dessen im Westen erschienene Schrift Die Alternative zur Anklage geführt hatte, fragt der Herausgeber Hans-Dieter Schütt, was Gysi unter „Lesekunst“ verstehe. „Lebenskunst?“ antwortet dieser. „Nein, Lesekunst,“ so Schütt. „Ist doch bezeichnend“, sagt Gysi nun, „dass beide Worte sich so ähnlich sind. Vielleicht weil es bei beiden um das Gleiche geht. Es geht um die Frage, wie wir es schaffen, dass uns das Leben auf Dauer nicht gar zu gewöhnlich wird.“
Aus der Hand legte ich dieses Buch nun nicht mehr so schnell. Selbst beim Zurückblättern und erneutem Lesen dieser oder jener Passage entdecke ich noch neue Anregungen.
Natürlich fallen einem zum Dichter als Politiker und zum Politiker als Literaten gleich berühmte Namen ein: Goethe und André Malraux waren Minister, Churchill erhielt den Literatur-Nobelpreis, und Theodor Heuss, der erste deutsche Bundespräsident, war ein ausgewiesener homme des lettres. Doch so hoch will Gysi gar nicht hinaus. Sein Buch ist kein systematischer Literaturführer, es will auch keinen Kanon liefern und schon gar nicht vorschreiben, was man gelesen haben sollte. Gysi schreibt einfach über Bücher, die ihn besonders beeindruckten und die ihm stets gegenwärtig sind. Er schreibt zu diesen Büchern auch keine literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, sondern erzählt, warum sie ihm so wichtig scheinen – dies aber sehr persönlich und blitzgescheit.
Natürlich schreibe ich über die ausgewählten Bücher keine Rezensionen, ich interpretiere und bewerte nicht. Ich äußere mich gewissermaßen als Liebhaber.
Natürlich hat Gysi mehr als 13 wichtige Bücher gelesen. Darauf verweist auch ein längerer Einschub „Lesen und Schreiben – ein Alphabet“, in dem er wie in einem der berühmten Sudelbücher von Erlebnissen mit Büchern und Autoren in kurzer und kürzester Form erzählt und ein kleines Feuerwerk köstlicher Pointen zündet. In einem zweiten Einschub unter der Überschrift „Eine kleine Schatzheberei“ führt Gregor Gysi Interviews mit Friedrich Schiller und Georg Büchner, deren Antworten Originalzitate aus Briefen und Selbstzeugnissen sind. Natürlich weiß Gysi, dass auch eine solche literarische Fiktion eine lange Tradition hat, von den Götter- und Totengesprächen der Antike bis hin zu H. M. Enzensbergers Dialogen zwischen Unsterblichen, Lebenden und Toten oder Friedrich Schorlemmers Fernsehinterviews mit Martin Luther und Johann Sebastian Bach. Er weist darauf hin, aber beeindruckt umso mehr durch seine beiden Gespräche. Sie sind Meisterstücke der dramaturgischen Collage und wecken die Lust, sich mit diesen eigensinnigen, ungestümen und kantigen Klassikern wieder zu beschäftigen.
Gewiss ist Gysi ein Büchernarr, im besten Sinne. Kein Wunder, denn er wuchs in Ost-Berlin mit besonderen Privilegien auf, die in der DDR selbst Söhne und Töchter hoher Funktionäre nicht hatten. Er war umgeben von Büchern und Büchermenschen. Der Vater Klaus, der während des Krieges aus der Emigration nach Deutschland zurückkehrte und im kommunistischen Untergrund überlebte, leitete unter anderem den renommierten Aufbau-Verlag und wurde Kulturminister, bevor er Botschafter in Italien und beim Vatikan wurde und schließlich Staatsekretär für Kirchenfragen in der DDR. Die Mutter Irene, eine geborene Lessing, war zeitweise im Exil in Afrika, kam auch noch während des Kriegs zurück, um im Widerstand aktiv zu sein. Nach 1945 war sie als Redakteurin und Lektorin tätig.

Die englische Schriftstellerin Doris Lessing, die in Rhodesien einen Bruder von Gregor Gysis Mutter geheiratet hatte, war seine Tante. „Als mein Vater Botschafter der DDR in Italien war,“ erinnert sich Gysi, „durfte ich ihn nicht besuchen. Aber was es in unserer Familie gab, auch nach dem Mauerbau, das war regelmäßiger Besuch, und zwar aus Frankreich, Südafrika, Belgien, England, Holland und aus den USA. Das waren für mich als Kind Schulen der Weltoffenheit.“
Die Liste der 13 Bücher, an die sich Gysi so intensiv erinnert und die er so lebendig vorstellt, steckt voller Überraschungen. Da stehen Goethes Faust und Lessings Nathan der Weise neben Arthur Conan Doyles Schauergeschichte Der Hund von Baskerville, Thomas und Heinrich Mann spiegeln sich in Marcel Reich-Ranickis Memoiren, Martin Luthers Bibel-Übersetzung und Klassiker der Kinder- und Jugendbuchliteratur wie Die rote Zora und ihre Bande von Kurt Held und Paul allein auf der Welt von Jens Sigsgaard künden von Leseerfahrungen zu verschiedensten Zeiten. Einen wichtigen Platz nimmt als erstes Buch in dieser Reihe der Roman Das Goldene Notizbuch von Doris Lessing ein. „Natürlich kann ich Doris Lessings Werk nicht ohne die Geschichte meiner Familie denken“, schreibt Gysi. Der von ihm hier vorgestellte Roman ist nicht nur ein Schlüsselwerk der feministischen Literatur. Er erkundet auch akribisch die Entfremdung seiner Heldinnen vom Kommunismus – ein Thema, das Gysi sichtlich und intensiv beschäftigt. Er findet einprägsame Worte für diesen schmerzlichen Vorgang, für den er nicht allein das stalinistische Herrschaftssystem verantwortlich macht, sondern auch die verdrucksten Rechtfertigungsversuche der „Parteikommunisten“, wie er diese Funktionäre nennt. Er schreibt: „Die Vision wurde erstickt, sie verblasste; für viele, die eben noch gutgläubig waren, erstarb eine Sonne. Das Morgen-Rot war zum Morgen-Grauen geworden.“

Nun ist Gregor Gysi ein ausgepichter Linker und will das auch hier nicht verhehlen. Nach wie vor versteht er sich als demokratischen Sozialisten, berichtet aber auch, dass Doris Lessing ihn „einen romantischen Sozialisten“ nannte – „das gefiel mir, natürlich“, fügt er hinzu. So begnügt er sich in seiner Auswahl nicht mit Rosa Luxemburgs Briefen aus dem Gefängnis, die 1926 erstmals erschienen sind und nach wie vor berühren – eine neue, revidierte und erweiterte Ausgabe ist 2024 im Dietz-Verlag in Berlin erschienen. Es ist ihm auch noch nicht genug mit Volker Brauns Erzählung Die hellen Haufen aus dem Jahr 2011, die den Hungerstreik von Bergleuten im thüringischen Bischofferode im Jahr 1993 in eine skurril-ironische Fiktion mit Reminiszenzen an den Bauernaufstand des 16. Jahrhunderts steigert und als bittere Anklage fragwürdiger Aspekte der deutschen Vereinigung endet.

Der Jurist Gregor Gysi, der im Dezember 1989 für acht Tage zum letzten Vorsitzenden der SED gewählt worden war, maßgeblich zur Etablierung der Partei Die Linke beitrug und den 21. Deutschen Bundestag am 25. März 2025 als Alterspräsident eröffnete, geht hier aufs Ganze und zählt auch das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels zu den 13 für ihn besonders wichtigen Büchern, obwohl diese berühmte, 1848 erschienene politische Kampfschrift in ihrer ersten Ausgabe gerade mal 23 Seiten umfasst. Aber ihre Gesamtauflage in mehr als 200 Sprachen wird inzwischen auf 500 Millionen geschätzt. Das Kommunistische Manifest ist damit nach der Bibel, dem Koran und der Mao-Bibel das weltweit auflagenstärkste Werk.
Seit Juni 2013 zählt es zu den deutschen Gütern des Weltdokumentenerbes der UNESCO, etwa neben dem Nibelungen-Lied und der Gutenberg-Bibel.
Der kleine Essay über das legendäre Marx-Engels-Pamphlet mit dem bezeichnenden Titel „Traumspiel ohne Grenzen“ ist einer der Höhepunkte an vertracktem Witz, geistreicher Formulierung und anregenden Hinweisen in diesem Buch. Ich kann mich nicht erinnern, so klug und zugleich vergnüglich über dieses Thema gelesen zu haben. Gewiss versteht man Gysi, wenn er davon schwärmt, von diesem Text „nach wie vor mitgerissen zu werden von einem Schwung, der doch zu unserem Vermögen gehört, uns zu steigern. Erlauben wir doch dem Wort, höher zu zielen, als es unser pragmatischer Sinn vermag. Eine Utopie wird nicht dadurch entwertet, dass wir nicht vor ihr bestehen. Wir fassen die Sterne zwar nicht, nach denen wir greifen, aber ihr Licht strahlt doch.“ Man kann Gysi auch folgen, wenn er sagt: „Es gibt Sätze, die haben sich eingegraben, ob man ihrem Geist nun zustimmt oder nicht.“ Einer davon, vielleicht der bekannteste lautet: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“ Dass da nicht von einem Gespenst der Freiheit die Rede ist, sollte zwar schon länger bekannt sein. Dem Lesevergnügen, das dieser Autor hier unentwegt liefert, tun seine politischen Bekenntnisse, die er gelegentlich losgaloppieren lässt, aber keinen Abbruch. Zumal Gysi selbst doch einräumt, dass das Manifest von Marx und Engels nicht „als unmittelbare politische Handlungsanleitung“ zu sehen sei, sondern schreibt: „Es ist Verdichtung – und Dichtung.“
Eines hält alle Autorinnen und Autoren am Leben, und uns Leserinnen und Leser hält es an der Literatur: Wir haben zwar gern das erste Wort und finden alle möglichen folgenden, aber das letzte Wort, wo und wann auch immer, hat glücklicherweise niemand.
Dieses so lebendig pulsierende Buch über Bücher endet mit einer nochmaligen Begegnung zwischen Gysi und dem Herausgeber Schütt: ein Gespräch, in dem sie versuchen, zehn Gebote für Leser und Autoren aufzustellen. Ganz zum Schluss sagt Gysi: „Von einem Dichter, ich weiß nicht mehr, von wem, habe ich übrigens noch ein elftes gehört. Es ist unser Grundrecht als Leserinnen und Leser, wir dürfen es von allen einfordern, die ein Buch schreiben: Du sollst nicht langweilen!“ Das ist auch ihm hier ganz und gar gelungen – nicht zuletzt mit seiner sprachlichen Kunst, auch tiefer gehende und komplexere Erfahrungen, Beobachtungen und Überlegungen in leichtem Ton zu vermitteln.
Gregor Gysi
Mein Leben in 13 Büchern
Hg. von Hans-Dieter Schütt
Aufbau Verlag: Berlin 2025
192 Seiten
Hardcover 20,00 € / E-Book 14,99 €

Wolfgang J. Ruf
(* 1943 in München) ist Autor, Publizist und Dozent. Sein Themenspektrum umfasst Kulturpolitik, Theater, Film, Medien, Literatur, Geschichte, Politik und Zeitgeschichte. Er war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne und Pressereferent des Deutschen Bühnenvereins, danach u. a. Chefdramaturg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Von 1975 bis 1985 leitete er die internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen.
Bildnachweise
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben: © Bundesarchiv, Bild 183-1990-0507-310 / Bernd Settnik / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons
Doris Lessing (1919-2013): © Larry Armstrong, Los Angeles Times, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons
Manifest der Kommunistischen Partei: Friedrich Engels, Karl Marx, Public domain, via Wikimedia Commons


