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Das Selbstverständliche des Besonderen

oder: Über die Schwierigkeiten beim Lesen eines gelehrten Buchs

von Wolfgang J. Ruf

Shakespeare und seine seriellen Motive das neue Buch von Elisabeth Bronfen erweckte sogleich mein besonderes Interesse. Doch aus der neugierigen Lektüre wurde schnell ein schwieriger Hindernislauf mit manchen Abschweifungen – und aus der angestrebten Rezension fast schon ein Essay über Shakespeare.

Das erste Stück von William Shakespeare, das ich auf der Bühne sah, war die Komödie Viel Lärm um nichts – oder war es doch die Komödie der Irrungen? Nein, ich glaube, es war Viel Lärm um nichts, denn ich erinnere mich noch gut an die zwei komischen Gerichtsdiener Dogberry und Verges (in der deutschen Übersetzung von Wolf Graf von Baudissin heißen sie Holzapfel und Schlehwein, bei Christoph Martin Wieland gar Hundsloch und Spießrute). Um das zu klären greife ich gleich zum soeben eingetroffenen neuen Buch der renommierten Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen, und mithilfe des Registers finde ich gar mehrere Passagen zu Much Ado About Nothing. Doch leider kommen darin die beiden komischen Figuren, die sich mir so nachhaltig einprägten, gar nicht vor. Stattdessen werden die verschlungenen Intrigen der dunklen Komödie unter verschiedensten Aspekten erzählt und ins Verhältnis zu ähnlichen, aber auch wieder anders verlaufenden Szenen in anderen Stücken Shakespeares gesetzt.

Viel Lärm um nichts, Gemälde von Alfred W. Elmore (1846).

Einmal geht es um Liebes-Intrigen und -kämpfe vor dem Hintergrund und auch im Spiegel des Krieges. Dann wird das Geschehen dieser Komödie im Vergleich mit dem in anderen Stücken unter dem Gesichtspunkt des „Kreislaufs von Briefen“ (so ist dieses Kapitel überschrieben) geschildert. „Auch Briefe fungieren als Akteure auf der Shakespeare-Bühne“, schreibt Bronfen. „Dramatisch vertrackter ist es, wenn Briefe, die für ein bestimmtes Auge vorgesehen sind, in falsche Hände geraten. (…) Briefe können auch besonders wirksam sein, wenn sie im richtigen Moment ankommen. (…) Doch Briefe haben auf der Shakespeare-Bühne nicht nur politische Auswirkungen. Sie befördern auch romantische Irrungen und Wirrungen.“ Wer hätte das gedacht? Sind diese Aussagen wirklich ernst gemeint?

Waren vor Erfindung von Telegrafie, Telefon und Internet neben Boten nicht Briefe selbstredend die wichtigsten Möglichkeiten der Kommunikation über größere Distanzen, Medium der Information ebenso wie der Desinformation und auch der Intrige? Wie im wirklichen Leben auch auf der Bühne; mir fallen da Briefszenen auf der Bühne zuhauf ein, angefangen von Carlo Goldonis Diener zweier Herren oder Molières Tartuffe; und auch die ganze deutsche Bühnenklassik von Lessing, Schiller, Goethe und den anderen ist voller Briefszenen, die von dramaturgischer Bedeutung sind. Zufällig finde ich in einem Blog auf der Webseite www.brieffreunde.de die Sätze: „Kaum ein anderes Requisit ist so klein und dabei gleichzeitig so bedeutungsvoll. Der Moment, in dem ein Brief übergeben, geöffnet oder heimlich gelesen wird, kann eine Geschichte auf den Kopf stellen.“ Auch stoße ich auf das 2004 erschienene Buch Briefe im Theater: Erscheinungsformen und Funktionswandel schriftlicher Kommunikation im englischen Drama von der Shakespeare-Zeit bis zur Gegenwart von Susanne Peters, heute Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Magdeburg. Und vor Shakespeare?  „Wer, sagst du, schickt mir diesen Brief?“ fragt der Zuhälter Ballio ungeduldig den Sklaven Simia in der Komödie Pseudolus von Plautus, die im Jahr 194 vor Christus erstmals auf die Bühne kam. Wie im alltäglichen Leben waren Briefe auch auf der Bühne allgegenwärtig und spielten ganz unterschiedliche Rollen. Da das Theater mit der Zeit geht, wurde das später anders. In Henrik Ibsens Drama Stützen der Gesellschaft aus dem Jahr 1877 spielt statt eines Briefs ein Telegramm eine wichtige Rolle.

Bei Bronfens ebenso ausführlichen wie zerstückelten Nacherzählungen der Liebesgeschichten, wobei ähnliche Motive und Wendungen aus verschiedenen Stücken verglichen werden, wird es mir ganz schummrig zumute. Auch das Ergebnis, dass dasselbe immer wieder ganz anders passiert, überrascht mich nicht. „C’est la vie – Sellerie!“ – dieser Satz von Herbert Achternbusch aus seinem Stück Sintflut schießt mir dazu durch den Kopf.

Ich war als durchaus mit Shakespeare vertrauter Theatergänger stets der Meinung, dass die Handlungen in Shakespeares Komödien eher die dramaturgischen Fäden waren, um die Personen in interessante Konstellationen und in aufschlussreiche Wortwechsel zu bringen. Ich bin damit nicht allein. „In vielen Komödien ähneln sich die Themen und auch die Figuren,“ schrieb schon Alfred Günther in seinen zwei immer noch lesenswerten Shakespeare-Bändchen, die 1965 in der Reihe Friedrichs Dramatiker des Welttheaters erschienen, also im Verlag, in dem auch die maßgebliche deutschsprachige Zeitschrift Theater heute erschien.

Er fährt fort: „Diese Komödienfiguren bilden eine Art von Gesellschaft für sich, eine hocharistokratische Gesellschaft mit ihren Königinnen, Herzögen, Prinzen und jungen Edelleuten, ihren Prinzessinnen und vornehmen Damen, ihren Dienern und Kammermädchen.“ Aus einer sozial tieferen Schicht lässt Shakespeare etwa die Handwerker im Sommernachtstraum oder eben die beiden Gerichtsdiener in Viel Lärm um Nichts konterkarierend erscheinen. Letztere und somit auch die sozialen Brechungen hat Bronfen bei ihrem formalistischen Vergleichsverfahren aus dem Blick verloren.

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Schon beim ersten Blättern in diesem Buch fällt mir auf, dass Bronfen zwar unentwegt Shakespeare zitiert, stets im Original, was durchaus löblich ist, aber nirgendwo findet man eine deutsche Übersetzung. Sie bemerkt dazu: „Shakespeare wird auf Englisch zitiert, weil sich meine Lektüren an seinen semantisch vielschichtigen Wörtern und Sinnbildern orientieren. Dabei habe ich mich mit meinen Paraphrasen für jene deutschen Entsprechungen entschieden, die die für mein Argument entscheidende Bedeutung einfängt [sic!], nicht für solche, die die poetische Dichte seiner Sprache nachbilden.“ Das klingt nicht nur wegen der fehlerhaften Grammatik etwas merkwürdig. Schade, dass Bronfen auf die wohl einzigartige Vielfalt deutscher Übersetzungen von Shakespeare gar nicht eingeht. Denn wie sich Dichter, Übersetzer und Theatermacher hierzulande immer wieder um die sprachliche Vergegenwärtigung des Elisabethaners bemühten, ist doch von besonders eindrucksvoller „Serialität“, um Bronfens zentralen Begriff zu benutzen. Die über die Jahrhunderte erschienenen deutschen Shakespeare-Fassungen, von den frühen Adaptionen und den Übertragungen von Wieland und Eschenburg über die Klassiker Schlegel-Tieck-Baudissin  bis hin zu den Übersetzungen von Rudolf Alexander Schröder, Hans Ludwig Rothe, Maik Hamburger, Erich Fried und Frank Günther, den ich besonders schätze, und Regisseuren wie Peter Stein, Frank-Patrick Steckel, Peter Zadek und Heiner Müller, die sich ihre eigene Shakespeare-Version schufen, haben immer wieder dazu beigetragen, Shakespeare im deutschsprachigen Theater als Zeitgenossen zu erfahren.

Warum Bronfen aber auch den polnischen Literaturwissenschaftler und Dramaturgen Jan Kott, dessen richtungweisendes Werk Szkice o szekspirze von 1961 im Westen 1964 als Shakespeare heute und als Shakespeare Our Contemporary erschien, auf Englisch zitiert, bleibt ihr Geheimnis.

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Was Bronfens Buch, das eine neuartige Sicht auf Shakespeare vorzustellen behauptet, so anstrengend macht, sind nicht nur die unentwegt mäandernden Inhaltserzählungen in Segmenten. Diese entstehen durch die Absicht, Shakespeares Stücke in ihre dramaturgischen Bestandteile zu zerlegen, diese nach ihren Ähnlichkeiten neu zusammenzubauen und somit ungewöhnliche und erhellende Einsichten zu dem großen Werk zu gewinnen. Ob das hier gelingt, bezweifle ich nach der Lektüre mehr als zu ihrem Beginn. Bei meinem Versuch, der Autorin zunächst einmal aufmerksam und neugierig zu folgen, hat sie mich mit ihrer Sprache immer wieder in frustrierende Ratlosigkeit versetzt. Denn wie nicht wenige Geisteswissenschaftler neigt sie dazu, kaum geläufige, entlegene oder auch selbst geschaffene Begriffe zu benutzen, um Sachverhalte als bedeutsam und neuartig darzustellen, obwohl diese das gar nicht oder nur teilweise sind.

„Denkform“ und „dramaturgische Pathosformel“ sind Begriffe, die sie von dem Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg (1866 – 1929) aus dessen unvollendetem Bilderatlas Mnemosyne übernimmt. „In meiner Aneignung des Begriffs einer wiederkehrenden dramaturgischen Formel geht es um den seriellen Einsatz, der ein Ummünzen im Sinne einer Transformation mit sich bringt“, schreibt Bronfen und will eigentlich nur sagen: „Shakespeare greift auf immer gleiche Formeln zurück, um die Denkformen anzureichern und auszuweiten, die er stets in anderer Tonart neu komponiert.“

„Crossmapping“ ist ein Begriff, den sie selbst propagiert hat und hier für besonders wichtig hält. In ihrem 2009 erschienenen Sammelband Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur bringt Bronfen mittels dieser Methode literarische, fotografische und filmische Werke aus verschiedenen Epochen in einen Zusammenhang. In Seminaren an der Universität Zürich vollzog Bronfen „Crossmappings“ zwischen Shakespeares Stücken und heutigen Fernsehserien, etwa zwischen Macbeth und House of Cards. Ein weiterer zentraler Begriff in ihren Erörterungen ist das „Preposterous Reading“, das von der niederländischen Kunsttheoretikerin und Filmemacherin Mieke Bal in ihrem Buch über Caravaggio, 1999, stark gemacht wurde. Soweit ich verstehe, heißt das, dass Werke, die chronologisch früher erschienen (das „Pre“), als Nachwirkung späterer Bilder und Ideen (das „Post“) fungieren können. Dadurch entsteht eine umgekehrte Kausalität, bei der die Vergangenheit neu interpretiert und von der Gegenwart geprägt wird.

So neu ist das nun auch wieder nicht; wenn ich’s einigermaßen verstehe, wird das gerade im Theater doch oft praktiziert. Spontan dachte ich beim Versuch, mir dies in künstlerischer Hinsicht vorzustellen, an Gustaf Gründgens‘ berühmte Faust-Inszenierung in Hamburg 1957 (1960 auch als filmische Adaption): Über dem satanischen Spektakel der Walpurgisnacht, die Goethe um 1808 schrieb, ließ er den Pilz einer Atombomben-Explosion erscheinen das machte damals ungeheuren Eindruck! Nebenbei: Dieser durchaus interessanten Thematik galt auch schon die Dissertation Zeitliche Mehrdimensionalität als Grundbedingung des Sinnverstehens, mit der die Literaturwissenschaftlerin und heute auch als Buchhändlerin bekannte Rachel Salamander 1980 in München promoviert wurde.

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Es ist fast schon eine Flucht, wenn ich angesichts so vieler akademischer Verstiegenheiten immer wieder nachschaue, wie andere über Shakespeare schreiben. Unversehens lande ich beim schon oben erwähnten, abgegriffenen, weil oft benutzten Klassiker Shakespeare heute, dem auch aufs hiesige Theater ungemein einwirkenden Buch des polnischen Literaturwissenschaftlers, Theaterkritikers und Dramaturgen Jan Kott. Wie er über Shakespeare schreibt, fesselt noch immer. So beginnt sein Bericht über das Gastspiel der Titus Andronicus-Inszenierung von Peter Brook im Juni 1957 in Warschau mit den Worten: „Hätte ‚Titus Andronicus‘ einen sechsten Akt, dann würde Shakespeare an den Zuschauern der ersten Reihen sich vergreifen und sie unter grausamen Qualen sterben lassen. Denn auf der Bühne bleibt außer Lucius kein Held der Tragödie am Leben. Noch bevor der Vorhang zum ersten Akt sich erhebt, sind bereits einundzwanzig Söhne des Titus gefallen. Und so geht es weiter bis zum Schluss…“

Shakespeare, grausam und wahr
 
Aus dem Theater*
 
Hätte „Titus Andronicus“ einen sechsten Akt, dann würde Shakespeare an den Zuschauern der ersten Reihen sich vergreifen und sie unter grausamen Qualen sterben lassen. Denn auf der Bühne bleibt außer Lucius kein Held der Tragödie am Leben. Noch bevor der Vorhang zum ersten Akt sich erhebt, sind bereits einundzwanzig Söhne des Titus gefallen. Und so geht es weiter bis zum Schluss, pausenlos bis zu dem großen Massaker der letzten Szene. Dieses Stück hat fünfunddreißig Leichen aufzuweisen, abgesehen von den ermordeten Soldaten, Dienern, Nebenpersonen. Mindestens zehn große Morde geschehen vor den Augen der Zuschauer. Und es handelt sich dabei um Morde und Grausamkeiten diversester Natur. Titus wird eine Hand abgeschlagen, Lavinia die Zunge rausgeschnitten und die Hände abgehauen, die Wärterin wird erdrosselt. Hinzu kommen Vergewaltigung, Kannibalismus und bestialische Torturen. Verglichen mit diesem Renaissance-Drama erscheinen die moderne amerikanische Horror-Literatur und die entsprechenden Filme wie eine süße Idylle.
 
Titus“ ist keineswegs das brutalste Stück Shakespeares. Mehr Leichen gibt es in „Richard III.“ ; „König Lear“ wiederum ist bei weitem grausamer. Ich kenne keine erschütterndere Szene als den Tod Cordelias. „König Lear“ ist zweifellos ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk ist auch „Richard III.“. Bei der Lektüre erscheinen die Grausamkeiten von „Titus Andronicus“ kindisch. Wir haben das Stück jetzt erneut gelesen: es wirkte lächerlich. Dann sahen wir es auf der Bühne, und wir waren erschüttert.
 
Was besagt das? Besagt das lediglich, dass Olivier ein genialer Tragöde und Peter Brook ein großer Regisseur ist? Ich glaube, es geht um mehr.
 
Scheint uns ein modernes Stück bei der Lektüre flach und kindisch, ergreift und überzeugt es uns dagegen im Theater, so sagen wir, dieses Stück sei bühnenwirksam. Von Shakespeare zu sagen, er sei bühnenwirksam, mutet nun doch recht lächerlich an. Denn „Titus Andronicus“ ist ein Stück von Shakespeare, oder vielmehr ein von Shakespeare umgearbeitetes Stück so wie Hamlet, allein mit dem Unterschied, dass Shakespeare in T“itus Andronicus“ bei der Gestaltung der dramatischen Materie, die er antraf, erst am Anfang war. Er war schon dabei, große Gestalten zu entwerfen, aber noch vermochte er nicht, seinen Giganten volle Stimmen zu verleihen. Noch stammeln sie und haben wie Lavinia eine herausgerissene Zunge. Denn „Titus Andronicus“ ist bereits Shakespeare-Theater, ist aber noch nicht Shakespeare-Text. (…) Ohne Zweifel künden die Qualen der Titus bereits die Hölle an, die König Lear durchwandern wird. Hätte Lucius, statt in das Lager der Goten zu gehen, sich auf die Universität zu Wittenberg begeben, er wäre gewiss als Hamlet wiedergekehrt. Wollte Tamora, die Königin der Goten, in die Tiefe ihrer Seele schauen, sie stünde Lady Macbeth sehr nahe. Nur das Bewusstsein des Verbrechens fehlt ihr, so wie Lavinia jenes Bewusstsein des Leidens fehlt, das Ophelia in den Wahnsinn stürzt.
 
Und vielleicht kann man aus „Titus Andronicus“ besser als aus irgendeinem anderen Stück Shakespeares ersehen, worin sein Genius bestand: er verlieh den Leidenschaften inneres Bewusstsein, bei ihm hörte die Grausamkeit auf, nur ein physisches Phänomen zu sein. Shakespeare entdeckte die moralische Hölle. Und den Himmel. Aber er blieb auf der Erde.
 
Alles das sah Peter Brook in „Titus Andronicus“. Und dennoch hat er dieses Stück nicht als erster entdeckt. Allerdings hatte man es mehr als zwei Jahrhunderte als ein barbarisches und unvollkommenes Werk betrachtet. Die Klassiker nannten es ein gotisches Stück. Sie hatten auf ihre Weise recht. „Titus Andronicus“ konnte ihnen nicht gefallen. Aber das Stück hatte dem Publikum Shakespeares gefallen. Es gehörte zu den meistgespielten. Peter Brook hat „Titus Andronicus“ nicht entdeckt. Peter Brook hat aber in Titus Shakespeare entdeckt. Oder vielmehr: er entdeckte darin Shakespeares Theater. Jenes Theater, das die Zuschauer rührte und erschütterte, entsetzte und berauschte.
 
 * The Shakespeare Memorial Theatre Company: Titus Andronicus, Regie, Bühnenbild und Musik: Peter Brook. Gastspiel in Warschau – Juni 1957

 

Jan Kott


Auszug aus:
Jan Kott: Shakespeare heute – mit einem Vorwort von Peter Brook,
deutsch von Peter Lachmann, Langen-Müller-Verlag, München/Wien 1964 – S. 287 f.
Eine neuere Ausgabe erschien beim Alexander Verlag, Berlin 2013.

Doch das „ist keineswegs das brutalste Stück Shakespeares,“ schreibt Kott weiter: „Mehr Leichen gibt es in ‚Richard III.‘; ‚König Lear‘ wiederum ist bei weitem grausamer.“  Ein solcher Zugriff gelingt Bronfen leider nun mal nicht. Zwar finden sich bei ihr auch einige Seiten zu diesem heute seltener gespielten Horrorstück, das aber zu Shakespeares Zeit ein großer Publikumserfolg war, aber auch hier verliert sie sich in den Vergleich von ähnlichen Situationen und Figuren in verschiedenen Stücken. Der Kontrast zum Text von Jan Kott weckt in mir die Vermutung, dass Bronfen Shakespeare vor allem als Verfasser von Texten sieht und nicht als Theatermacher.

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Was will sie uns eigentlich über Shakespeare mitteilen? Schon seit Jahren beschäftigt sich Bronfen mit ihm unter dem Gesichtspunkt des Seriellen und der Wiederholung ähnlicher, aber immer wieder anders aufgelöster Situationen. Im Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse der Freiburger literaturpsychologischen Gespräche 2018 findet sich ein Aufsatz von ihr zum Thema Shakespeare seriell gedacht: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Sigmund Freuds Gedanken zum Verhältnis von Wiederholung und Erinnerung hat sie dabei mit sich ähnelnden Konstellationen und Wendungen in einer Reihe von Komödien zusammengebracht. Einer ihrer Kernsätze lautet: „Lässt sich die Serialität in Shakespeares Dramen als Wiederholungszwang verstehen, dann oft auch als Wiederkehr des Verdrängten.“

Aber was bringt es für das Verständnis von Shakespeare, wenn man ihn solcherart in den Kontext der Psychoanalyse verpflanzt? Wird damit das Besondere an Shakespeare besser fassbar? Vieles spricht dagegen.

Zunächst einmal sind Wiederholungen und Variationen doch ein Grundelement aller Künste. Bach und Beethoven beschäftigten sich lebenslang damit, ohne schon das Wörtchen „seriell“ dabei zu bemühen, Komponisten vor und nach ihnen desgleichen. An Maurice Ravels Bolero denkt man da ohnehin. Aber woran erkennt man sofort Mozart, wenn nicht an den ihm eigenen Melodiefiguren in verschiedensten Zusammenhängen? Und an Richard Wagners Leitmotive denkt man zwangsläufig auch. Vom Jazz könnte hier auch noch die Rede sein, von der Popmusik sowieso… Wie oft hat Claude Monet die Seerosen von Giverny gemalt, wie oft die Kathedrale von Rouen?

Serielle Kunst gilt zwar als eine Gattung der Moderne, doch auch, wenn sie nicht Programm sind, spielen serielle Aspekte fast immer eine Rolle. Auch in der Literatur wimmelt es von ihnen. Leicht könnte Bronfen ihre Sicht auf die sich wiederholenden und variierenden Motive über Shakespeare hinaus ausdehnen. Man denke nur das weit verbreitete mythologische und literarische Motiv der zwei Brüder, die ganz unterschiedlich sind, sich sogar hassen und bekämpfen, von Kain und Abel im Alten Testament über die Brüder Moor bei Schiller, die vielen Brüder in den Märchen der Gebrüder Grimm und Dostojewskis Brüder Karamasow bis hin zu Caleb und Aron in John Steinbecks Jenseits von Eden – oder an die Auftritte von drei Schwestern, neben Shakespeares Lear denkt man sogleich an das einschlägige Stück von Tschechow oder auch an den neuen Roman dieses Titels von Christian Baron. Das sind hier nur einige wenige Hinweise, doch schnell gerät man dabei ins Uferlose. Spätestens die seriellen Situationen im Kino – ob Verfolgungsjagden, Showdowns oder erotische Szenen – signalisieren, dass es hierbei nicht um psychisch bedingte Wiederholungszwänge geht, sondern um den Einsatz erprobter, Aufmerksamkeit und somit Erfolg versprechender Gestaltungsmuster. Die Besonderheiten, die Bronfen referiert, scheinen mir immer wieder Selbstverständlichkeiten, die von ihr lediglich rhetorisch herausgeputzt oder begrifflich überhöht werden.

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Beiseite: Die mühsam zu lesenden Aufzählungen von Motiven, Figuren und sogar Requisiten kann man sich weitaus vergnüglicher zu Gemüte führen – mit dem nach wie vor wunderbaren Buch Shakespeares Arche – Ein Alphabet von Mord und Schönheit von Rolf Vollmann (eine leicht gekürzte Taschenbuchausgabe erschien unter dem Titel Who’s who bei Shakespeare), das Shakespeares labyrinthische Welt mit Treffsicherheit und Witz sortiert.

Man blättere zu Namen wie „Richard“, zu Figuren wie „Narren“ oder zu Requisiten wie Ring und Brief, auch zu Örtlichkeiten oder Erscheinungen, wie dem Mond oder Geistern, um den schnellen Überblick zu gewinnen, wo diese welche Rolle spielen. Meisterlich sind auch seine prägnanten Charakterisierungen und Inhaltsangaben. Was Bronfen „seriell“ nennt, wird hier mit ebenso kundiger wie leichter Hand serviert.

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Auch die Schriften des großen Theatermachers Peter Brook sind ein guter Zufluchtsort für den bei Bronfen ermüdeten Leser. In seinem Essay Was ist ein Shakespeare? stößt man auf einen nicht zu unterschätzenden Hinweis auf das, was Shakespeares Werk so besonders macht. Sein Fazit: „Das ist nicht Shakespeares Weltsicht, das ist etwas, das eigentlich der Wirklichkeit ähnelt. Das zeigt sich daran, dass jedes einzelne Wort, jede Zeile, jede Figur, jedes Ereignis nicht nur eine große, sondern eine unbegrenzte Zahl von Interpretationen in sich birgt. Was das Kennzeichen der Realität ist. (…) Der Vorgang, dass ein Mann seinen Kopf berührt, kann an sich unbegrenzt verstanden und interpretiert werden. So ist es in der Wirklichkeit. Das, was Shakespeare schrieb, enthält diese Eigenschaft. Was er schrieb, ist nicht Interpretation: es ist die Sache selbst.“ Und wie im wirklichen Leben, im historischen, gesellschaftlichen und individuellen, sind ähnliche Situationen und Konstellationen, die immer wieder anders ablaufen, auch in Shakespeares Bühnenwelt konstituierend. Ganz so wie er den melancholischen Lord Jacques in Wie es euch gefällt sagen lässt:

Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und geben wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen

All the world’s a stage,
And all the men and women merely players;
They have their exits and their entrances,
And one man in his time plays many parts

Ich glaube, etwas, das nur selten bei Shakespeare verstanden wird, ist, dass er nicht nur eine andere Qualität besitzt, sondern grundsätzlich anders ist.
 
Solange einer denkt, Shakespeare sei Ionesco, nur besser, Beckett, nur reicher, Brecht, nur menschlicher, Tschechow mit Massenauftritten usw., hat er noch nicht begriffen, worum es eigentlich geht. Man kann von Katzen und einem Stier sprechen und ist sich darüber im Klaren, dass dies verschiedene Arten sind. Die moderne wissenschaftliche Analyse würde sich davor hüten, Kategorien zu vermischen und über eine Person der Kategorie A so zu sprechen, als gehörte sie zur Kategorie B. Ich meine, genau das geschieht mit Shakespeare, wenn man ihn mit anderen Autoren vergleicht, und deshalb möchte ich einen Augenblick bei diesem besonderen Phänomen verharren.
 
Für mich ist dieses Phänomen sehr einfach. Es ist so, dass nach unserem Verständnis Autorenschaft in fast allen anderen Bereichen – wir sprechen über den Autor eines Buchs oder Gedichtes und heute von der Autorenschaft eines Films, wenn Regisseure als Autoren ihrer Filme bezeichnet werden usw. – fast unausweichlich persönlichen Ausdruck meint. Infolgedessen legt ein vollendetes Werk Zeugnis von der Weltanschauung des Autors ab. Ein Klischee der Kritik. dem man häufig begegnet, lautet „seine Welt”, „die Welt dieses Autors”. Nun kommt es aber nicht von ungefähr, dass Gelehrte, die sich solche Mühe gegeben haben, in Shakespeares Werk autobiographische Spuren zu finden, so wenig Erfolg damit hatten. Tatsächlich spielt es keine Rolle, wer die Stücke geschrieben hat und was für biographische Spuren sich finden lassen. Fest steht, dass vom Standpunkt des Autors besonders wenig zum Vorschein kommt – und seine Person scheint schwer fassbar zu sein – durch alle siebenunddreißig oder achtunddreißig Stücke hindurch.
 
Nimmt man nun alle siebenunddreißig Stücke mit den verschiedenen Standpunkten der verschiedenen Figuren, erhält man eine Gesamtgestalt von unglaublicher Dichte und Komplexität; geht man schließlich einen Schritt weiter, so stellt man fest, dass das, was da geschah, was durch diesen Mann namens Shakespeare hindurchgegangen ist und auf dem Blatt Papier zu existieren begonnen hat, sich von den Werken aller anderen Autoren grundsätzlich unterscheidet. Das ist nicht Shakespeares Weltsicht, das ist etwas, das eigentlich der Wirklichkeit ähnelt. Das zeigt sich daran, dass jedes einzelne Wort, jede Zeile, jede Figur, jedes Ereignis nicht nur eine große, sondern eine unbegrenzte Zahl von Interpretationen in sich birgt. Was das Kennzeichen der Realität ist. Ich könnte sagen, dass jede Handlung in der wirklichen Welt diese Eigenschaft besitzt – z. B. eine Handlung wie die, dass Sie gerade jetzt, während wir miteinander sprechen, die Hand an den Kopf legen. Ein Künstler mag versuchen, Ihre Handlung festzuhalten und wiederzugeben, doch eigentlich interpretiert er Sie, so dass ein naturalistisches Gemälde, ein Gemälde von Picasso, eine Photographie alle Interpretationen sind. Aber der Vorgang, dass ein Mann seinen Kopf berührt, kann an sich unbegrenzt verstanden und interpretiert werden. So ist es in der Wirklichkeit. Das, was Shakespeare schrieb, enthält diese Eigenschaft. Was er schrieb, ist nicht Interpretation: es ist die Sache selbst.

Peter Brook

Auszug aus:
Wanderjahre – Schriften zu Theater, Film & Oper 1946-1987

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Übrigens: Die seriellen Motive der Königsdramen um die sogenannten Rosenkriege, die sich ähnelnden und doch unterschiedlichen Thronfolgekämpfe, beruhen gewiss nicht auf einem pathologischen Wiederholungszwang des Autors, sondern ergeben sich unmittelbar aus der tatsächlichen Historie.

Diese verblüffende Welthaltigkeit ist wohl der Hauptgrund für die Beständigkeit und immer wieder leuchtende Aktualität von Shakespeares Werk. Kein anderes ist so nachhaltig auf allen Bühnen der Welt gegenwärtig. Wie es selbst vom wilden Regietheater nicht so einfach beschädigt werden kann, lebt es auch wie kaum ein anderes dramatisches Schaffen in medialen Adaptionen aller Art – in Oper und Musical, im Ballett und vor allem in Film und Fernsehen. Wenn Hamlet im Film von Grigori Kosinzew, UdSSR 1964, russisch spricht oder die Geschichte um Macbeth in der Welt der japanischen Samurai spielt, wie in Akira Kurosawas Film Das Schloss im Spinnwebwald von 1957, sind wir Shakespeare eben so nah wie in den Filmen von Laurence Olivier.

Shakespeares Stücke bieten gerade wegen ihrer ideologischen Offenheit immer wieder Echoräume, gerade auch in repressiven Gesellschaften. So mancher Schauspieler auf DDR-Bühnen verstand es, in Hamlet-Aufführungen den Satz „Etwas ist faul im Staate Dänemark“ genüsslich zur DDR-kritischen Kenntlichkeit zu zerdehnen. Das Stück der Stunde, das im Herbst und Winter 1989 im Deutschen Theater in Berlin-Ost, der ersten Bühne der untergehenden DDR, geprobt und im März 1990 zur Premiere kam, war Shakespeares Hamlet mit Ulrich Mühe in der Titelrolle und dem bei den SED-Oberen verpönten Autor Heiner Müller am Regiepult.

Shakespeare ist nach wie vor als Kommentator angesagt: Vor ein paar Wochen kam sein Hamlet in Hamburg auf die Bühne, von Regisseur Frank Castorf zum aktuellen Spektakel auf den Trümmern Europas hochgejuchzt.

Auch das wird Shakespeare überleben, wie schon so manche Übermalung oder Verzerrung. Seine Stücke sind eben wie die Wirklichkeit und keineswegs in irgendeiner Hinsicht parteiisch. Beim Shakespeare-Übersetzer Frank Günther, dessen intellektuell gewitztes, ungemein lesbares Büchlein Sommernachtstraum eines Esels – Gedanken zu Shakespeare (ars vivendi verlag, Cadolzburg 2018) ich hier auch empfehle, lese ich dazu: „Wer hofft, beißend kritische In-tyrannos-Darstellungen von uns Unterdrückten und Entrechteten gegen die Unterdrücker da oben an der Spitze zu finden, wird bei Coriolan enttäuscht werden: Da werden die Plebejer des römischen Volks genauso abstoßend charakterlos und wetterwendisch geschildert wie die korrupten Senatoren.“

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So ist es auch mit den Männern und Frauen in den Stücken Shakespeares, mit ihrem Rollenverhalten und dessen Brüchen, mit dem Krieg der Geschlechter und auch den Spielen damit – da gibt es auch ganz verschieden zu beurteilendes Verhalten auf beiden Seiten. Dieses immer wiederkehrende Thema ist das einzige, bei dem Bronfen auf die Theaterwirklichkeit zu Shakespeares Zeit konkreter eingeht – in dem Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Evidenz des zeichenhaften Körpers.“

Die damals in England herrschenden Beschränkungen verboten Frauen jegliches Auftreten im professionellen Theater. Die Frauen wurden von jungen Männern gespielt. Das spitzte die von Shakespeare immer wieder vorgestellten Szenen um junge Frauen, die sich als Männer verkleiden, um sich an Orten und bei Gelegenheiten zu behaupten, die ihnen als Frau verwehrt blieben, „in den gesetzlosen Wäldern fernab vom Hof, an der Kriegsfront oder im Gerichtshof,“ wie Bronfen treffend schreibt, wirkungsvoll weiter zu: „Ein als Frau verkleideter Jüngling spielt eine als Jüngling verkleidete Frau.“ Dieses Kapitel könnte durchaus interessant sein, auch den von Bronfen hier häufig benutzte Begriff „crossdressing“ oder „crossdressed“ empfinde ich nicht als störend. Dass sie die jungen Schauspieler, die in die Rollen von Mädchen und Frauen schlüpfen, „Zwitterknaben“ nennt, irritiert mich aber doch. Ebenso, dass sie den komödiantischen Kleidertausch mit emanzipatorischen Spitzen gleich als „Transvestismus“ einordnet. (Lautet der vom Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld im Jahr 1910 geprägte Begriff eigentlich nicht „Transvestitismus“?)

Frühes Crossdressing im Kino: Von Franz A. Peffer entworfenes Plakat zur Shakespeare-Verfilmung Hamlet (1921) mit der berühmten dänischen Schauspielerin Asta Nielsen, die den Stummfilm auch selbst produzierte.

Die historische Erklärung, die Bronfen für das Verbot von Frauen auf professionellen Bühnen der Shakespeare-Zeit gibt, ist zwar nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Sie räumt zwar ein, dass damals „französische und italienische Theatertruppen durchaus auch weibliche Mitglieder hatten.“ Es gab sogar schon richtige Stars wie die Schauspielerin Isabella Andreini (1562-1604), die auch als Autorin erfolgreich war und wegen ihrer Gelehrsamkeit sogar in die literarische Akademie von Padua aufgenommen wurde – möchte ich hier hinzufügen.

Die Commedia dell’arte-Truppe der Gelosi mit ihrem Star Isabella Andreini bei einer Aufführung in Paris. Gemälde von Hieronymus Francken (um 1590).

Bronfen sieht als Hauptgrund für das Verbot von Frauen auf der Bühne „die damals herrschende Hierarchisierung der Geschlechter.“ Sie fährt fort: „Zugleich lässt sich dieses Verbot durch die puritanische Vorstellung von Theater als sündhaftes Spektakel erklären.“  Es ist aber doch umgekehrt: Der Puritanismus und seine Verteufelung des Theaters, das unter dem religiösen Eiferer Oliver Cromwell für einige Jahre ganz verboten wurde, waren die primäre Ursache; das Patriarchat war in den katholischen Ländern nicht weniger bestimmend, aber nicht so lustfeindlich. Diese Theaterfeindlichkeit seitens der Evangelikalen reichte bis in die Gegenwart. In Baden-Württemberg, das zum Teil vom schwäbischen Pietismus geprägt ist, sollen, wie mir in den 1990er Jahren noch der Theaterreferent des Landes erzählte, die ‚sündigen‘ Profite aus der Staatlichen Lotterie vor allem der Theaterförderung zugeflossen sein.

Was mich aber an diesem Kapitel über das konfliktreiche Verhältnis zwischen den Geschlechtern am meisten irritiert, ist die Absenz des Stücks Der Widerspenstigen Zähmung. Drastischer als in dieser immer noch vielgespielten Komödie, auch als Musical Kiss me Kate, hat Shakespeare dieses Thema sonst nirgends behandelt, entsprechend umstritten ist das Stück. Der Anglist Ulrich Suerbaum, einst der erste ordentliche Professor an der Ruhr-Universität Bochum, nennt in seinem Buch Der Shakespeare-Führer (Reclam-Verlag, 2001) dieses Stück zutreffend pointiert „eine Männerphantasie, und zwar eine, die ihren eigenen Anspruch zugleich forsch vorträgt und subversiv untergräbt“. Meine Wissbegier, wie sie dieses Werk sehen würde, hat Bronfen herb enttäuscht. Denn sie schreibt zwar über fast alle Dramen Shakespeares, aber ausgerechnet über dieses nicht – weder in diesem Kapitel noch im ganzen Buch. Warum sie das so hält, bleibt mir unverständlich.

Geschlechterkrieg als subversive Männerfantasie: Der Widerspenstigen Zähmung in einer modernen Inszenierung des Carmel Shakespeare Festivals (2003).

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Ob Bronfen eine eingehendere Beschäftigung mit Shakespeares Theaterwelt bei ihrem Thema geholfen hätte, weiß ich nicht. Ich denke aber, dass die „seriellen“ Motive, die sie in Shakespeares Werk konstatiert, letztendlich auch hier eine wichtige Ursache haben. Als Dichter oder Literat hat sich Shakespeare wohl verstanden, wenn es um seine Versepen und Sonette ging. Aber was er fürs Theater verfasste, war Spielmaterial, das er aus Anleihen bei allen erdenklichen Quellen und mit seiner Fantasie, seiner Sprache und vor allem seiner Theatererfahrung erarbeitete.

Man kennt noch nicht mal eine Geburtsurkunde von Shakespeare, aber ein halbes Dutzend Unterschriften, die als authentisch gelten. Keine von ihnen steht allerdings unter einem literarischen Werk, sie finden sich durchweg auf geschäftlichen oder amtlichen Urkunden.

Der Theatermacher Shakespeare war auch Geschäftsmann, seine Theatereinnahmen investierte er in Immobilien und wurde reich. Als Anteileigner am Globe Theatre profitierte er nicht nur von den Aufführungen seiner Stücke, sondern von allen Einnahmen. Die Rede hier ist nicht von hochsubventioniertem Theater, wie wir es in Deutschland kennen. Auch wenn Shakespeares Truppe sogar vor der Königin und ihrem Hofstaat auftreten durfte, so war sie doch abhängig vom box office – der Begriff für die Einnahmen durch den Verkauf von Eintrittskarten kommt vom Theater der Elisabethanischen Zeit. Und wenn gewisse Wendungen, Szenen und Dialoge erfolgreich waren, nahm er sie, wie im kommerziellen Theaterbetrieb gang und gäbe, wieder auf: dies freilich nicht als simple Selbstkopie, sondern vielfach variiert. Das mag nun trivial anmuten, ist aber gewiss auch eine Wurzel der seriellen Motive in seinen Stücken – eine ganz wichtige, sage ich. Von dieser heute noch üblichen Praxis führt eine erkennbare Entwicklungslinie zu den Sequels von Kino-Blockbustern und zu den Fernsehserien, zumal die beiden neueren Medien sich seit ihren Kindertagen am kommerziellen Großstadttheater orientierten.

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Je länger ich mich mit Elisabeth Bronfens Buch beschäftigte, umso mehr schrumpfte es. In der schier unübersehbaren Fülle von Publikationen zu Shakespeare ist es aus meiner Sicht schon in die hinteren Reihen gerückt. Wenn ich’s noch einmal in der Hand halte und auf dem Rücken den Verlagstext lese, dass hier „das definitive Buch über Shakespeare“ vorgelegt wird, dass die Autorin „uns die Aktualität von Shakespeares Werken neu entdecken lässt“, denke ich achselzuckend an Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider oder, um bei der Sache zu bleiben, an den Shakespeare-Titel Much Ado About Nothing, den man auch mit Viel Gedöns um nichts übersetzen kann.

Das wäre aber doch etwas ungerecht, denn ein gelehrtes Buch, in das viel Mühe, viel Lektürekenntnis und auch viele diffizile Überlegungen eingegangen sind, ist das allemal. Und Elisabeth Bronfen selbst tritt in ihrem Buch auch gar nicht so großsprecherisch auf wie ihr Verlag mit seinen Marketing-Slogans. Sie bezieht sich auf Jan Kott, der die Wiederholungen und Variationen bei Shakespeare auch schon aufzeigte, und zitiert ihn mit seinem berühmten Satz: „Manchmal scheint es, als habe Shakespeare in Wirklichkeit nur drei oder vier Stücke geschrieben und als variiere er diese lediglich in allen Tonlagen und Tonarten, als behandle er dasselbe Thema einmal in Dur und einmal in Moll, bis zum Bruch mit jeglicher Harmonie in der konkreten Musik des König Lear.“ Es liegt der Autorin auch fern, ihre Arbeit als ein für allemal gültig zu sehen: „Die Lektüre Shakespeares ist nie erschöpfend“, schreibt sie, „weil sie immer wieder von neuem ansetzen kann, weil jede Aussage eine Annäherung, keine endgültige Festlegung ist, weil alles auch nochmals anders gedacht, und anders erzählt, werden könnte. Auf dieses Potenzial zur Fortsetzung setzt dieses Buch.“ Es mögen sich auch besonders kluge und gar neue Einsichten darin finden. Aber es gelang mir nicht, sie zu entdecken. Shakespeare kam mir nicht näher, die vielen Unzulänglichkeiten rückten ihn immer mehr in die Ferne.

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Statt eines Fazits: Als ich im Sommer für eine Auszeit an die nordfranzösische Küste fuhr, nahm ich Bronfens Shakespeare-Buch als einziges mit, keines aus meiner Bibliothek sollte mich mehr ablenken. Doch dann entdeckte ich in einer Buchhandlung ein schmales Bändchen mit dem albernen Titel Shakespeare à la plage – Etre ou ne pas être dans un transat von Eddy Chevalier – auf deutsch: Shakespeare am Strand – Sein oder nicht sein im Liegestuhl. Ich kratzte all mein Französisch zusammen und erlebte eine äußerst unterhaltsame und ebenso kluge Begegnung mit Shakespeare.

Chevalier schreibt etwa: „Machen Sie es sich in einem Liegestuhl bequem und fürchten Sie ihn nicht länger: Sonnen Sie sich im Licht seines gelehrten und populären latinisierten Englisch, träumen Sie vom illusorischen Wahnsinn platonischer oder wilder Liebe, lassen Sie sich vom Schwelgen all dieser Ungewissheiten einlullen. Als großer Kreditnehmer (im französischen Original: emprunteur), um nicht zu sagen Plagiator, ließ Shakespeare seine Quellen aufblühen, verschmolz Komödie und Tragödie und stürzte uns in das Mysterium der Mehrdeutigkeit und die psychologische Wahrheit der Masken. Shakespeare vergeistigt, prophezeit, elektrisiert. Wenn uns nichts mehr bleibt, werden wir nur noch Shakespeare haben.“ Der französische Autor verweist in seiner leichthändigen Causerie auf einen Aspekt, den Bronfen vernachlässigte. In den vielen Anleihen und Übernahmen aus überlieferten Figuren, Geschichten und Einfällen, auf die Shakespeare immer wieder zugriff, liegt auch ein Same für das, was Bronfen seriell nennt.

Elizabeth Bronfen

Shakespeare – und seine seriellen Motive

Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2025
400 Seiten
Hardcover 29,00 € / E-Book 22,99 €

Wolfgang J. Ruf

(* 1943 in München) ist Autor, Publizist und Dozent. Sein Themenspektrum umfasst Kulturpolitik, Theater, Film, Medien, Literatur, Geschichte, Politik und Zeitgeschichte. Er war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne und Pressereferent des Deutschen Bühnenvereins, danach u. a. Chefdramaturg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Von 1975 bis 1985 leitete er die internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen.

Bildnachweise

Viel Lärm um nichts, Gemälde von Alfred W. Elmore: Public domain, via Wikimedia Commons
Jan Kott: © Czeslaw Czaplinski
Peter Brook: Public domain via Wikipedia
Frühes Crossdressing im Kino: By Franz A. Peffer – Museum of Modern Art (MoMA), Public domain, via Wikimedia Commons
Die Commedia dell’arte-Truppe der Gelosi: Hieronymus Francken, Public domain, via Wikimedia Commons
Geschlechterkrieg als subversive Männerfantasie: © Samtrot, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
Wolfgang J. Ruf: © James Ulmer
alle anderen Abbildungen: unbekannt / Public domain / fair use

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So welthaltig Shakespeares Theater ist, so allgegenwärtig ist es auch in der realen Welt – immer wieder, auch heute.

Wer gelegentlich im Internet auf Börsenseiten ist, erhält wahrscheinlich regelmäßig Werbemails von Motley Fool, einem der weltweit größten Anlageberater aus Virginia in den USA.

Auf der Website www.fool.com heißt es: „Der Firmenname stammt aus Shakespeares Komödie Wie es euch gefällt. Er bezieht sich auf den Hofnarren, der als Einziger dem König oder der Königin die Wahrheit sagen konnte, ohne dass ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Die Narren von einst unterhielten den Hof mit Humor, der sowohl belehrend als auch amüsant war. Und was noch wichtiger ist: Der Narr scheute sich nie, gängige Weisheiten in Frage zu stellen. Genauso wollen wir die Wahrheit über Geld und Investitionen sagen …“

Auch das kann man als trefflichen Hinweis auf die zwei Gesichter Shakespeares sehen: den wagemutigen, wahrheitssuchenden Theatermacher und den erfolgreichen Geschäftsmann.

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