Festival-Porträt
Hauptschauplatz des Moers Festivals 2025: die enni.eventhalle

Freiheit unter Bäumen

Das „very free Jazzfestival‟ in Moers: heute und damals

von Achim Forst

Unser Autor hat schon die Anfangsjahre von Moers, des „very free Jazzfestivals für Musik, Miteinander, Freysinn und: Klangfriede‟ miterlebt. Seit knapp zehn Jahren ist er wieder dabei. Im 54. Festivaljahr blickt er auf die aktuelle Ausgabe und weit zurück.

Damals: Unter Bäumen

Pfingsten 1974, in einer kleinen Stadt am Niederrhein. Ich steige an einer alten Mauer eine Steintreppe hoch und stehe am oberen Rand eines Innenhofs, der von großen, alten Bäumen beschattet wird. Wie in einem Amphitheater sitzen in engen Reihen Hunderte junger Leute. Ich selbst bin gerade 19 geworden.

Zum ersten Mal bin ich beim New Jazz Festival in Moers, dem dritten. Gespielt wird hier in unterschiedlichen Formationen vor allem frei improvisierter Jazz. Für mich als Wuppertaler ist Free Jazz nicht ganz neu: Ein paar Jahre zuvor habe ich bei uns im Von der Heydt Museum in einer Generalprobe die bedeutendste europäische Free-Jazz-Bigband gehört, das Globe Unity Orchestra, und kenne auch die Musik der Wuppertaler Free-Jazz-Pioniere Peter Brötzmann und Peter Kowald.

Doch hier draußen im Schlosshof von Moers ist es anders, kommt etwas dazu, das ich spüre, aber nicht beschreiben kann: die Aura eines lebendigen, teilweise wilden Improvisierens, verbunden mit dem Gefühl für einzelne Augenblicke, in denen die Musik in wortloser, emotionaler Kommunikation mit dem Publikum entsteht. An diesem Nachmittag höre ich Ali Haurands Gruppe Third Eye. Der blonde Mann kommt nicht weit von hier aus Viersen am Niederrhein, hat aber schon mit amerikanischen Jazzgrößen gespielt. Wie er am Kontrabass mit wuchtigen Akzenten und Läufen das Improvisationsgeschehen vorantreibt – so etwas habe ich noch nie gehört. Später – in meiner Erinnerung geschieht das alles am selben Nachmittag – höre ich fasziniert zu, wie die Schweizer Pianistin Irène Schweizer perkussiv und gleichzeitig gelassen, elegant und manchmal mit perlenden Läufen frei mit ihren Mitspielern kommuniziert. – Ein Dokument aus jener Zeit: Ein Jahr nach Irène Schweizers Tod im Alter von 83 Jahren ist im Juli 2025 Irène’s Hot Four erschienen, der Mitschnitt eines hervorragenden Konzerts beim Internationalen Festival Zürich 1981, mit Han Bennink (dr), Rüdiger Carl (sax, cl) und Johnny Dyani (b).

1974: Klangsturm aus Japan

Danach hatte ich in meiner Begeisterung zu Hause offenbar einige Freunde überredet, am nächsten Tag mit mir zum Festival zu fahren. An diesem Nachmittag erleben wir wie eine Naturgewalt das Yosuke Yamashita Trio aus Japan. Die drei ziemlich kleinen Menschen da unten im Schlosshof entfesseln einen Klangsturm, ein energetisches Tongewitter, wie ich es mir vorher nicht einmal hätte vorstellen können. Angetrieben von Pianist Yamashita entwickeln der Altsaxofonist Akira Sakata und der Schlagzeuger Takeo Moriyama explodierende, in melodischen Intermezzi dann wieder zusammenschrumpfende Klangskulpturen, die mich im Innersten berühren. Ähnliches spüren offenbar sogar meine überhaupt nicht Jazz-infizierten Wuppertaler Freunde. Hinterher sagen sie, solche Musik sei nichts für sie, auch in Zukunft nicht. Aber dieses Konzert sei doch ein besonderes Erlebnis gewesen. Für mich als Musiker und Musikbegeisterten war es dieses Moers-Event auf jeden Fall: eine fundamentale und verändernde Hörerfahrung.

2025: Alter

Auf der Zuschauertribüne der Festivalhalle während der Trommelkomposition aus Japan. Im blauen Saallicht geht ein Paar vorsichtig Richtung Ausgang. Er sichert den Weg, sie folgt mit schweren Schritten und eckigen Bewegungen: offensichtlich Hüftprobleme kurz vor der indizierten OP.

Ja, das Moers-Publikum ist im Lauf der Jahrzehnte mit seinem Festival älter geworden. Der Altersdurchschnitt ist nicht ganz so hoch wie bei den Konzerten unserer hr-Bigband in Frankfurt, wo die Musiker(innen) mindestens eine Generation jünger sind als ihr Publikum. In Moers scheinen die Generationen noch gut gemischt, doch die Besucher(innen), die hier die musikalische Freiheit ihrer Jugend weiter leben wollen, sind wohl in der Mehrheit. 

Die Moers-Community

Die Community der freien Improvisationsmusik war immer eine kleine, ist jedoch damals wie heute ein Spiegel der sich verändernden Gesellschaft. Das bunte Festivaldorf von heute, das mit Kunstmarktständen und kulinarischen Spezialitäten aus aller Welt zum Konsumieren einlädt, hätten die meisten Moers-Besucher damals als konsumistische Zumutung empfunden – manche der älteren sehen das vielleicht noch heute so. Früher fühlte man und frau sich als Teil einer kleinen, aber feinen Gemeinschaft, die – natürlich ohne dabei an irgendein „Tierwohl‟ zu denken – in den Konzertpausen Currywurst, Pommes und Kartoffelsuppe verzehrte. 

Bongos im Park

Überhaupt die Moers-Community: Wie sie war und ist, das mögen Soziologen klären. (Haben sie ja vielleicht schon.) Aus persönlicher Anschauung als Journalist und Student vermute ich, sie hatte damals viele Verbindungen zur Sponti-Bewegung und bestand zum großen Teil aus uns Nach-68ern. Das Moers-Publikum war auf jeden Fall immer schon proaktiv und in Teilen selbst musikalisch schöpferisch tätig. Das Festival hat den unbekannten und ungenannten Moers-Amateur-Musikern vor einigen Jahren sogar mal einen Spiel- und Auftrittsplatz am Rande des Festivaldorfes geschenkt.

Nachtkonzerte: damals

In den Anfangsjahren des Festivals, den 1970ern, war der Drang zum Selbst-Musikmachen noch größer. In meiner Erinnerung agierten die Spontan-Ensembles manchmal so nah am Festivalzaun, dass sie die Konzerte störten. Nach Ende des offiziellen Programms – das war nicht so lang wie heute – wurde es rund um das Festivalgelände und auf dem Campingplatz oft sehr laut. Ich bin damals aus Bequemlichkeit zum Übernachten immer zurück nach Wuppertal gefahren und konnte dann am frühen Nachmittag gut ausgeschlafen und geduscht den neuen Festivaltag genießen. Nur einmal habe ich mit meinem Musiker- und Pressekollegen Johannes in einem Minizelt übernachtet. Das war schwierig. Bis heute höre ich das unverlangt gelieferte Getrommel Dutzender Bongos und Congas, manche offenbar nur Meter von unserem Zelt entfernt. Schlafen konnte man erst, als die Musikanten irgendwann in der Nacht ihre Spiellust verloren und selbst schlafen gingen.

Nachtkonzerte: heute

Als ich vor zehn Jahren mit Familie und Zelt nach Moers zurückkehrte, erlebten wir, dass diese Tradition die Jahrzehnte überdauert hat. Diesmal hatten wir in Hörweite nur ein einziges Ensemble, sogar mit Saxofon und Vibraphon, das aber jede Nacht gastierte. Und das diszipliniert und unermüdlich sogar in der großen Regennacht zum Sonntag, als die Sturzbäche so lautstark auf unser Zelt prasselten, dass die Musik nicht mehr zu hören war.

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Unsere Videos zum Festival: das Gespräch mit dem Bassisten und Künstlerischen Leiter Tim Isfort (auch in kurzer Clip-Version) und Moers-Musikclips 2025

Damals: Im Park I

Fünf schwarze Musiker unter der orangenen Konzertmuschel im Park: Der Bassist, der Percussionist und die beiden Saxofonisten sind afrikanisch gekleidet und farbig geschminkt, tragen bunte Mützen, beziehungsweise einen Bambushut. Nur der Trompeter, als einziger ungeschminkt und mit Brille, trägt einen langen weißen Mantel.

Sie spielen eine Musik, die die meisten Festivalbesuchern so noch nie gehört haben: Aus einfachen Rhythmus-Patterns entstehen Klangräume, die alle irgendwie mit Afrika zu tun haben. Zwischendurch tauchen eingängige, kurze Melodien auf, plötzlich dann ein rasendes, perfekt gespieltes Bebop-Thema, nach dem das pulsierende Schlagzeug und der ‚walkendeˊ Bass eine Bühne für wilde Gruppenimprovisationen der Bläser geben. In dieser Musik verschmelzen die Grenzen zwischen den Musikkulturen, fließt und gehört alles zusammen: afrikanische Trommeltraditionen, Blues, Soul, Tanz, Songs aus Amerika und Afrika und vieles mehr. Die Musiker selbst nennen es „Great Black Music‟.

Roscoe Mitchell, Moers 1978

Der erste Auftritt des Art Ensemble of Chicago 1978 war wohl nicht nur für mich das wichtigste Moers-Erlebnis am neuen Festivalort. Die fünf Meister des intuitiven Zusammenspiels hatten wunderbare, tiefgehende spirituelle Musik geschaffen. Als Lester Bowie (tr), Roscoe Mitchell (sax), Joseph Jarman (sax), Malachi Favors (b), Don Moye (perc) die Bühne verlassen, tobt das Publikum. Mit rhythmischem Applaudieren, Rufen und Klopfen will es selbst den musikalischen Strom fortsetzen und fordert eine Zugabe, die aber nicht kommt. Erst nach unglaublichen 40 Minuten endet die Publikumssinfonie, friedlich, ohne Protest und Ärger.

Das Art Ensemble of Chicago auf der Festivalbühne im Park, Moers 1978

Great Black Music

Das hatte natürlich viel mit Eigendynamik zu tun, das Publikum genoss einfach das eigene Tun. Aber vielleicht war es doch der Ausdruck einer tieferen Begeisterung für eine Formation, die wie keine andere weltweit das Erbe des Jazz, seine Ursprünge in Afrika mit der Gegenwart verband und ganz lässig Brücken spannte zwischen den archaischen Rhythmen und Motiven und dem neuen Jazz. (Moers hieß damals ja noch New Jazz Festival.) Ich erinnere mich nicht mehr an einzelne Stücke, fühle aber noch immer die Aura dieser Gruppe, ihre musikalische und spirituelle Energie, die uns alle erfasste.

1975: Musik hinterm Bauzaun

Schon bei meinem zweiten Mal, 1975, war vieles anders in Moers: Weil jedes Jahr immer mehr Besuchers gekommen waren und aus Sicherheitsgründen der Schlosshof als Veranstaltungsort nicht mehr in Frage kam, fand das Festival im neuen leeren Freizeitpark statt. Die Bühne stand mitten auf der großen Wiese unter einer geschwungenen, orangefarbenen Plane, die ein bisschen an das eigenwillige Stadiondach der Olympischen Spiele in München drei Jahre zuvor erinnerte. Auch die Stimmung war anders als im Schlosshof, weniger familiär, eher normal festivalgemäß.

Es kamen tatsächlich noch mehr Menschen, und alles wurde etwas professioneller, mit Verkaufsständen und Toilettenwagen. Statt der gemütlichen alten Mauern trennte nun ein Bauzaun die Festival-Community von den Moerser Pfingstspaziergängern, die neugierig, verunsichert oder verärgert waren über die schrägen Klänge, die da in den Himmel stiegen. Zu ihnen gehörte 1979 auch die Familie des damals elfjährigen heutigen Festivalleiters Tim Isfort, der fotografiert wurde, als er auf seinem Fahrrad stehend von außen über den Holzzaun schaute (Foto: siehe unten).

Wie das war, damals im Freizeitpark? – Es gab keine Bäume, die Schatten spenden konnten, in den heißen Jahren wurden Teilnehmer und Besucher in der Sonne gebraten. Als Journalist durfte ich immerhin in die auch ziemlich heiße Backstage-Baracke. Und in den nassen Jahren ging es in Moers manchmal zu wie bei den Regentänzen und Schlammschlachten von Woodstock.

Free Jazz in Ost und West

Ein Beitrag zur deutschen Jazzgeschichte in der Zeit des Kalten Kriegs
Andreas Biefang, Frankfurter Allgemeine Zeitung 29.04.2024

Aber wichtiger: Wie entwickelte sich das Festival unter seinem Gründungsleiter Burkhard Hennen musikalisch? – Ich unternehme keine Archivrecherchen, um präzise ein Stück Festivalgeschichte zu schreiben, sondern will mich nur auf die eigenen Erinnerungen verlassen, aus meinen ersten zehn Moers-Jahren bis 1983. Und die sagen mir: Moers war nie dogmatisch avantgardistisch. Nicht nur viele Musiker zeigten in ihrer Musik Respekt vor der Jazztradition, sondern auch der künstlerische Leiter, ohne im Programm dafür eine feste ‚Schieneˊ zu installieren.

Ich erinnere mich an den Auftritt des großartigen Hardbob-Schlagzeugers Art Blakey, Leiter der legendären Talentschmiede Jazz Messengers, der an einem heißen Nachmittag mit unglaublicher Energie die Begeisterung des Moers-Publikums herbeitrommelte.

Und ich erinnere mich ausgerechnet an den spröden Improvisationsauftritt des großen Pianisten Friedrich Gulda mit seiner Musik- und Lebenspartnerin Ursula Anders, bei dem ich dachte, dass er mir als Beethoven-Interpret doch viel besser gefiel. Ich denke auch an die Moers-Premiere des großartigen Vienna Art Orchestra unter der Leitung von Mathias Rüegg. Den musikalischen Kern bildeten Rüeggs farbige und vielschichtige Bigband-Arrangements, aber den größten Teil der Unterhaltung besorgte der ausgezeichnete Saxofonist Wolfgang Puschnig mit seinen wunderbaren Ansagen auf Österreichisch. (Laut Wikipedia war Puschnig 2015 mal wieder in Moers zu Gast.)

Für mich als anfangenden Jazzpianisten war natürlich ein absoluter Höhepunkt, den schon damals legendären Pionier des Free-Jazz-Pianos Cecil Taylor live und ganz nah zu erleben. In seinem Solokonzert überraschte er mich, wie er zwischen seinem berühmten heftigen Clusterspiel mit feinen Läufen und kleinteiligen Motiven improvisierte.

Anthony Braxton, Moers 1978

Besonderen Respekt bei Publikum und Presse genoss schon damals der aus Chicago stammende Komponist und Multiinstrumentalist Anthony Braxton. Wie das Art Ensemble of Chicago gehörte er zur Musikerorganisation AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians). Alle wussten und spürten: War das Art Ensemble das pulsierende Herz und emotionale Zentrum des neuen Jazz, so waren Anthony Braxton und seine Ensembles das intellektuelle Zentrum, der Kopf. Mit seinen hochkomplexen Kompositionen, die oft an Werke der klassischen Neuen Musik erinnerten, forderte Braxton sein Publikum und zwang zu aufmerksamem Zuhören. Gleichzeitig begeisterte und inspirierte er mit seinen verschiedenen Formationen und Projekten. (Laut Wikipedia war Braxton zwischen 1974 und 1978 fünfmal hintereinander zu Gast in Moers und kam auch später immer wieder zurück.)

Wie war’s?

Wie war’s denn in Moers? – Darauf kann man je nach Kenntnis und Interesse des Fragenden verschiedene Antworten geben. Man könnte sagen: Es war wie immer, bunt und abwechslungsreich.Oder: Das Wetter war diesmal richtig schlecht – wir haben zwar nicht gefroren im Zelt, waren aber froh, dass es nicht unter dem Platzregen zusammengebrochen ist. Oder man erzählt, dass es außer Konzerten auch Diskussionen über Antisemitismus in der Musikszene gab und über die internationalen Kooperationen, die Moers auch in diesem Jahr weiter gepflegt hat.

Heute: Im Park und unter Bäumen II

Zu berichten ist auch, dass das Festival wie immer vielfältige Spielorte auf dem Gelände und in der Stadt anbot, diesmal jedoch konzentrierter war: mit der Festivalhalle, den kleinen Bühnen davor, inklusive Hebekranbühnen („Über dem Platz‟) und der neuen Location „Unter Bäumen‟ auf der Wiese am Campingplatz.

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Auf dem Boulevard der Stille

Hinter der inhaltlichen und geographischen Fokussierung steht der Sparzwang, der bundesweit alle Kulturinstitutionen trifft. Wie Festivalleiter Tim Isfort in unserem Videointerview und in den Pressekonferenzen sagte: „Der Wind hat sich gedreht.“ Um zu zeigen, was das bedeutet, hatte er im Festivaldorf einen „Boulevard de Silence‟ anlegen lassen. Gemeint war nicht die Stille in der Musik, die Isfort diesmal seinen Künstler(inne)n als Thema nahegelegt hatte, sondern die Stille des Todes: Auf einer Reihe von dunklen Stelen standen die Namen der Festivals, Clubs und Events, die die Jahre der Corona-Epidemie nicht überlebt haben oder in akuter Todesgefahr sind.

Tanz auf dem „Boulevard de Silence“

Brutal und tanzbar

Aber die wichtigste Frage ist natürlich: Wie war die Musik? – Bei einem Musikfestival wie Moers kann man wie auf einem Filmfestival nicht alles mitbekommen, selbst wenn man ziemlich diszipliniert ist. Aber natürlich gibt es Antworten – faktisch-beschreibende und persönliche.

Wie immer war die Musik in Moers sehr unterschiedlich: manchmal anstrengend oder sogar akustisch-physisch brutal, manchmal unterhaltsam und tanzbar, meist anregend und einige Male auch Horizonte eröffnend. Tim Isforts Programmlinien und Schwerpunkte in diesem Jahr: ungewöhnliche Musik aus China, Japan und Afrika, letztere aus finanziellen Gründen fokussiert auf Ruanda.

Weil ich diesmal auch weit zurückschaue, wurde mir mal wieder bewusst, wie sehr sich die internationale improvisierte Musik und mit ihr auch das Programm von Moers im Lauf der Jahrzehnte verändert hat. In den Anfangsjahren, auf dem New Jazz Festival, drehte sich in Moers alles um – eben! – Jazz: seine Avantgarde, seine Tradition und die Spuren seines afrikanischen Erbes im US- oder im europäischen Jazz.

Heute sind der US- und Eurozentrismus und die feste Anbindung an die Geschichte des Jazz verschwunden. Die Musiker aus Afrika und Asien zitieren und nutzen manchmal frei und lässig Muster und Motive des seit über 50 Jahren zur Verfügung stehenden freien Vokabulars des Jazz. Aber in unserer Zeit der totalen Verfügbarkeit aller veröffentlichten Musik haben sie Bezugspunkte in allen Bereichen, Stilen und Genres, auch in Punk, Rap, Pop und Rock. Elemente daraus verbinden sie dann mit den regionalen und lokalen Musikkulturen ihrer Länder.

Startende Flugzeuge

Ergebnis solcher Explorationen können dann heftige elektronische Cluster sein, Noise- und Rückkopplungs-Klangskulpturen, wie sie der uigurisch-chinesische Gitarrist und Bassist Mamer am ersten Festivalabend unter den Bäumen im Park errichtete (dabei übrigens sound- und seelenverwandt mit seinem deutschen Kollegen Caspar Brötzmann).

Baut Klangwände: der uigurisch-chinesische Gitarrist und Bassist Mamer

Zu Mamers Musik passt die Frage eines Familienmitglieds: „Ist das ein startendes Flugzeug oder hat schon das nächste Konzert angefangen?“ – In den frühen Jahren des Festivals hätte eine solche Bemerkung unter den Puristen der Avantgarde zur sofortigen Exkommunikation des ignoranten Lästermauls geführt, also zum Ausschluss aus dem Diskurs. Heute, in einer Zeit der Fragmentierung der Musikszenen, in der die individuellen musikalischen Vorlieben unzählbar geworden sind und selbst Musiker(innen) der sogenannten klassischen, früher: ‚E-Musik‛, zu ihren popkulturellen Gelüsten stehen, könnten der Musiker selbst und der Kurator lächeln und sagen: Gute Beobachtung!

Die künstlerische Erforschung und Rekombination kann aber auch zu einer hörbar ethnisch-kulturell beeinflussten Musik führen: In ihrem Projekt bBb bBb interpretierte ein ebenfalls chinesisches Duo, der Bläser Lao Dan (fl, sax) und die (unter anderem) Pianistin Li Daiguo (pipa, p, bass drum, voc), traditionelle chinesische Stücke auf klassischen Instrumenten. Auch das wirkte meist sehr frei, aber schon auf der Klangebene immer eng verbunden mit der traditionellen Musikkultur. 

Chinesische Tradition und moderne Improvisation: das Duo bBb bBb, Lao Dan und Li Daiguo

Und noch eine asiatische Kulturerforschung: Die Uraufführung des Trommelstücks Chronograffiti von Koshiro Hino war für mich einer der beiden Höhepunkte des Moers-Festivals 2025. Genial, auf der Basis der Trommeltradition seines Landes schuf der Japaner mit hypnotisch wirkenden Wiederholungen und unendlich langsamen Steigerungen und Beschleunigungen ein Werk, das hochemotional wirkte, obwohl die drei Percussionisten auf ihren traditionellen Instrumenten mit der Präzision von Maschinen spielten. Eine würdige Moerser Auftragskomposition, auch wenn von den Tausenden Trommelschlägen wahrscheinlich kein einziger improvisiert war.

Herausragendes Trommelprojekt: Chronograffiti von Koshiro Hino

Mein Lieblingsensemble war Kinetic Chain, das Quartett des neuseeländischen Saxofonisten Hayden Chisholm. Er ist ein Freund der leisen Töne, ein Meister der Klangschattierungen, der gerne in Sus-Akkorden zwischen Moll und Dur improvisiert. Phantastisch, wie entspannt und doch intensiv Chisholm bei seinem Auftritt in Moers eine Reise durch eine ganze Reihe von Jahrzehnten der Jazzmusik unternahm. Ganz selbstverständlich und organisch wurde es auf dieser eigentlich eher harmonisch-romantischen Reise manchmal auch holprig, treibend und dissonant. Seine Mitspieler aus Deutschland und Schweden Achim Kaufmann (p), Petter Eldh (b) und Jonas Burgwinkel (dr) – konnten sich dabei solistisch und in Gruppenimprovisationen immer gut entfalten. Chisholm hat mit ihnen offenbar noch nie aufgenommen, das sollte er nachholen.

Reisen durch die Jazzgeschichte: Hayden Chisholms Kinetic Chain (NZ, D, SWE)

Und sonst: Was geblieben ist

Mir scheint, dass es eine Konstante gibt in Moers, damals und heute, 50 Jahre später: Das Summen, Quietschen und Kratzen mag noch so total, raumfüllend und ohrenbetäubend sein – heute öfter elektronisch erzeugt als von akustischen Instrumenten: Fast immer erlebt man in Moers eine Connection zurück in die globale Geschichte der Musik, die auch die größtmögliche Dekonstruktion traditioneller Formen und Strukturen überlebt, selbst wenn sie nicht sofort hörbar zu identifizieren ist.

Möglich ist das durch das Vertrauen des Moerser Publikums in die Musikschaffenden, ihre Musik und in die von der künstlerischen Leitung getroffene Auswahl. Ein Vertrauen und eine Bereitschaft, den Musikern in ihrem kreativen Prozess auf fast jedem Weg zu folgen.

Zurzeit ist Tim Isfort der Expeditionsleiter, der uns in Moers mit immer neuer Musik und Musikern konfrontiert, die ihre künstlerischen Wege gehen und sich überhaupt nicht dadurch irritieren lassen, dass in Moers schon vor 50 Jahren alles erlaubt war und ausprobiert werden konnte.

Sehr schön illustriert eine solche Gelassenheit der Auftritt des Duos Iyer-Smith, den Isfort wohl nicht zufällig fast an den Schluss des diesjährigen Festivals setzte. Der indische Pianist Vijay Iyer (50) hat mit seiner Vielseitigkeit und stilistischen Bandbreite so etwas wie eine eigene Weltmusik geschaffen. Zusammen mit seinem 83-jährigen Partner, dem Trompeter Wadada Leo Smith, schafft er eigenwillige, wunderbar offene, melancholische Klangräume, nachzuhören auf ihrem aktuellen Album Defiant Life, nicht zufällig veröffentlicht von ECM.

Spielte 2025 nach 46 Jahren wieder auf dem Festival: Wadada Leo Smith in Moers 1978

Leo Smith habe ich – und da schließt sich für mich der große Festivalkreis – wie das Art Ensemble of Chicago 1978 in Moers gehört. Das zeigen mir die Fotos, die ich damals von ihm gemacht habe. Sein Trio-Auftritt erschien unter dem Titel The Mass on the World noch im selben Jahr beim festivaleigenen Label Moers Music. Smith gehörte auch zur Musikervereinigung AACM und spielte unter vielen anderen mit Anthony Braxton, Art-Ensemble-Saxofonist Roscoe Mitchell und Bassist Malachi Favors.

Und nun?

Links: Tim Isfort (auf seinem Bonanzarad stehend) mit Familie beim New Jazz Festival in Moers 1979. Rechts: Festivalleiter Tim Isfort im Juni 2025

Der in Moers aufgewachsene Festivalleiter Tim Isfort gehört selbst zu diesen stilistischen Weltenbummlern, die in ihrer Musik und auch sonst ohne Scheuklappen international unterwegs sind. Vor seiner Zeit als Moers-Chef reiste er ab 2010 fünfmal zu musikalischen Treffen nach Myanmar (Burma), war als Bassist 2013 auch bei den Konzerten von „Myanmar meets Europe“ in mehreren Bundesländern dabei und arbeitete im selben Jahr mit Jugendlichen im Kongo, in einem Kulturzentrum in Kinshasa. Parallel komponierte Isfort und trat mit seiner Bigband auf, dem Tim Isfort Orchester. Wie gut das damals funktioniert hat und klang, kann man auf seiner Webseite und in einer Reihe von YouTube-Videos anschauen und nachhören.

Als es in den 1970er in Moers losging und die absolute Freiheit in der Musik schon da war, hätte man erwarten können, dass es nun immer langweiliger würde. Mein neues Jahrzehnt beim Festival, also die Jahre mit Tim Isfort, haben mir gezeigt, dass das nicht passieren muss: ohne Aufwärmen von Altbekanntem, sondern mit Statements, die es in sich haben und die uns überraschen. Manche dieser Statements – ich gebe es zu – mag ich nicht so gerne hören, etwa Formationen, die in Umlaufbahnen um Planeten wie Heavy Metal und Rock improvisieren. Andere Veranstaltungen, eben die ‚normalen‘ Jazz-Festivals, machen es sich und ihrem Publikum leichter und sind dadurch natürlich kommerziell erfolgreicher: mit Traditionspflege, strategischem Remixen und konventionell geplanten Musikerkombinationen. Das gibt es zum Glück nicht am Niederrhein, denn dann wäre Moers eben nicht mehr Moers. – Schön, dass die Reise mit Tim und seinen Leuten weiter geht.

Der Autor 1976 auf einem Lehrgang für Zivildienstleistende

  • Achim Forst
    Liebt Filme-Editieren und Fahrradfahren, Podcasts- und Musik-Hören und -Spielen. War 30 Jahre Redakteur der Filmredaktion 3sat des ZDF, Autor von TV-Dokumentationen, vorher freier Film- und Musikjournalist, Hörfunkautor und Programm-Mitarbeiter von Filmfestivals.

Bildnachweise

Fotos Moers Festivals 2025 + 1978: Achim Forst
Familie Isfort: © Michael Hoefner

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