
Die Löwin von Neukölln
von Christhard Läpple
Als sie an einem heißen Sommertag von vier Jungs wegen ihres schulterfreien Sommerkleidchens auf der Straße angemacht wird, weiß sich die junge Güner Balci zu wehren. Als ihr die blöden Sprüche, die „verbale Vergewaltigung“ zu viel wird, greift sie zum Anglermesser in der Tasche und drückt es dem Kerl an den Hals. „Wallah! Sie ist verrückt!“ Erschrocken stammelt der junge Kerl Entschuldigungen. Fortan genießt Güner im rauen Neukölln den Ruf der Furchtlosen, die sich von nichts und niemandem unterkriegen lässt. „Ich würde lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass mich das auch stolz machte“, schreibt die streitbare Integrationsbeauftragte in ihrem neuen Buch Heimatland. Der Titel ist so provokativ wie unmissverständlich. Was sonst? Sie meint Deutschland. Typisch Güner Balci.
Was für ein Leben: Berliner Pflanze. Gastarbeiterkind. Eltern aus Ost-Anatolien. Ein taffes, selbstbewusstes Mädchen aus dem Rollbergviertel. Sie hat das große Glück, als jüngstes von vier Kindern alle Bildungsangebote in Almanya zu nutzen. Güner Balci kann in der Schule lernen und später studieren, statt wie ihre Mutter Fatma ein Leben lang Putzen gehen zu müssen. Eine Erfolgsgeschichte wie aus dem Bilderbuch. Sie hat es geschafft. Jetzt erzählt die Fünfzigjährige ungeschminkt von den Stationen ihres Aufstieges.
Mein Heimatland sind tanzende Schneeflocken im Scheinwerferlicht einer stürmischen Winternacht. Spaziergänge im Dunkeln mit zu vielen Kindern auf einem Schlitten. Hermannplatz. Hasenheide. Ofenwärme. Die Hände meiner runden Tanten, die nach Zwiebeln riechen. Blubbernde Kessel mit rotschwarzem Tee. Knarzende Treppenaufgänge in Altbauwohnungen. Der würzige Duft von roter Bohnensuppe. Der Anblick meiner Semah tanzenden Mutter. Wettspringen vom Beckenrand im Columbiabad. Die rauen Hände meines Vaters.
Güner Balci wächst in Berlin-Neukölln auf. Im Rollbergviertel, einem Sanierungsgebiet aus den frühen Siebzigern mit Betonburgen, Tiefgaragen und Müllplätzen. Einige Hecken, ein bisschen Grün, dazu ein paar Schaukeln und ein trostloser Bolzplatz. Der Rollbergkiez gilt als sogenannter sozialer Brennpunkt mit Menschen aus mehr als vierzig Nationen. Für Güner steht das No-Go-Viertel für Kindheit, Jugend und Heimat: „Für uns Kinder war die Großsiedlung ein Raum, in dem jeder sein konnte, wie er war. Wir waren die Herrscher über Treppenaufgänge, Kellerräume und Garagen. Wir, das waren hunderte Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Ländern eingewandert oder Deutsche ohne Migrationsgeschichte waren.“ Die Familien hätten allesamt viele Kinder gehabt. „Man hatte sein Auskommen, sofern die Eltern arbeiten gingen. Nicht alle taten das – die ersten Anzeichen der späteren fatalen Entwicklung.“
Güners Eltern wollen ihrer Tochter alle Chancen geben, die ihre neue Heimat bietet. Und doch bleibt die deutsch-türkische Migrantin von Geburt an stets ‚etwas anders‘. Im katholischen Kindergarten St. Clara gilt sie als Türkenkind. Für Türken und Araber im Kiez ist sie die „Deutsche“, außerdem eine mit frecher Klappe. Ausführlich schildert Güner ihr Umfeld: Zilles Milieu lässt grüßen. Eine Arme-Leute-Ecke mit Herz und Schmerz. Alkohol, Drogen und Psychosen. Kinder, deren Eltern nie arbeiten. Kinder mit braunen Stümpfen im Mund. Mädchen, die von ihren Stiefvätern missbraucht werden: Mutter Junkie, Vater Dealer. Kids, die auf dem Spielplatz mit der Nagelschere aus dickem Linoleum 5-Mark-Stücke für den Zigarettenautomaten basteln. Pitbulls, die in Mode geraten, genau so selbstverständlich wie eine blutige Nase, ein blaues Auge oder eine Prellung. Alltag im Rollbergviertel. „Wir hatten von klein auf verinnerlicht, dass nur die Schwachen zimperlich sind. Leben war Spaß und Schmerz, und Schmerz war das pralle Leben“, schreibt Balci.


Eine Kindheit ohne Klavierunterricht, Ballett oder Helikoptereltern mit Nachhilfestunden. „Der Rollbergkiez war meine Lebensschule“, schreibt die renommierte Journalistin: „Wir kannten keine Nanny und keine durchgeplanten und betreuten Kinder-Freizeiten. Wir hatten das Columbia-Bad. Aber nicht alle hatten Geld für den Eintritt. Da half alles nichts: Man musste über den mit Stacheldraht bewehrten Zaun klettern. Einmal trug mir das eine klaffende Fleischwunde am Oberschenkel ein.“
Ihre Lebensgeschichte liest sich wie ein Roman. Mit vierzehn jobbt sie als Putzkraft in einem Reformhaus, später steht sie als Brötchenbäckerin in aller Frühe auf. Selbständig, von niemandem abhängig sein, das ist ihr Lebensmotto. Sie kann studieren. Güner lebt ihren Traum als junge, selbstbewusste Migrantin. Ihre erste große Liebe ist Tschabo, ein Sinto und – na, klar – „der weltbeste Rhythmusgitarrist“, so Balci. Beim Prince-Konzert in der Deutschlandhalle erklimmt Güner die Bühne, um mit ihrem Idol zu tanzen.
Ihre Eltern Mahmut und Fatma lassen ihr viel Freiraum, betont Güner Balci. Sie seien einfache, herzenskluge Bergbauern gewesen. Aleviten aus Ost-Anatolien. Keine Muslime. Die Aleviten werden bis heute in der Türkei verfolgt und diskriminiert. Ihr Glück suchten sie erst in Hof, später in Berlin. Deutschland wird ihre zweite Heimat, obwohl sie dort nie wirklich ankommen, ein typisches Gastarbeiter-Schicksal der ersten Generation, sagt Balci. Mutter Fatma schrubbt vierzig Jahre in Krankenhäusern, damit es ihre vier Kinder besser haben. Die kleine Güner lernt in Neukölln rasch die Gesetze der Straße kennen. Abenteuer, Gemeinschaft, Langeweile, erste Liebe, Mädchenladen MaDonna, aber auch Klauen von Nike-Sportschuhen oder Gegnern „die Nase putzen“: „Nach Myriaden blauer Flecken und einigen ausgeschlagenen Zähnen lernte ich, mich wehrhafter zu zeigen. Es kann nicht immer falsch sein, dem Richtigen eins auf die Fresse zu geben.“
Sie wird Journalistin, arbeitet unter anderem für das ZDF-Magazin Frontal 21. Ihre Beiträge über Islamismus, Migrantenalltag und Parallelgesellschaften sind gründlich recherchiert und äußerst unbequem. Islamisten und Konservative laufen Sturm. Unermüdlich warnt Balci in TV-Filmen und in ihren Büchern (Arabboy, ArabQueen) vor einem vorherrschenden Kulturrelativismus („die sind eben anders“). Gleiche Maßstäbe für alle, egal ob Migrationshintergrund oder nicht, das ist der Kern ihrer Botschaft.
Nach Myriaden blauer Flecken und einigen ausgeschlagenen Zähnen lernte ich, mich wehrhafter zu zeigen. Es kann nicht immer falsch sein, dem Richtigen eins auf die Fresse zu geben.
In den neunziger Jahren, so Balci, ändert sich Grundlegendes im Neuköllner Kiez. Der Zuzug reaktionärer religiöser Menschen „veränderte den Alltag aller und für alle“. Arabische Familien dominieren im Rollbergviertel. Es gebe neue Abschottungen und Kontrolle durch Sittenwächter. Kinder übernehmen den Rassismus ihrer Eltern. Die zunehmende Macht der Imame zeige Folgen: Geschlechterapartheid und Gewalt gegen „Ungläubige“. Was Güner Balci besonders besorgt: Mädchen verschwinden von der Straße. Sie werden zu „Schattenwesen“. Für sie heißt es plötzlich: „Freunde, Freizeit, Freiheit waren jetzt Haram, verboten.“
Nach dem 11. September von New York sei eine Islamisierungswelle „unaufhaltsam wie ein Tsunami in die Köpfe vieler Neuköllner Kinder und Jugendlicher“ geschwappt. Mit weitreichenden Konsequenzen: Nun stünde Gott über dem Gesetz – „eine Verneinung des mühsam errungenen Rechtsstaates.“ Zwangsehe, mittlerweile als „arrangierte Ehe“ verharmlost, und Blutrache seien in deutschen Moscheen gepredigt worden. Eine „Selbstbestimmungsenteignung“ habe stattgefunden, obwohl sich selbst die Türkei zur Istanbul Convention zum Schutz von Frauen und Kindern vor häuslicher Gewalt verpflichtet hat. Die Realität sehe anders aus. Für reaktionäre Islamisten gilt weibliche, selbstbestimmte Liebe als Begierde des Teufels. Der Teufel ist Feind Allahs. Jedes schulterfreie Kleid, jedes uneheliches Kind ist Sünde, auf die das Höllenfeuer wartet.
Seit Jahrzehnten befinde sich bei Islamisten der dekadente Westen auf der Anklagebank: Freund des jüdischen Staates, Feind der muslimischen Welt. Nach dem 11. September 2001 habe es daher wie nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 Freudenfeiern auf den Straßen Neuköllns gegeben. In diesem Denken stecke der „Mief von mindestens tausend Jahren Dummheit“. Güner Balci wird auf 320 Seiten nicht müde, vor falscher Toleranz zu warnen. Ihre schonungslosen Schilderungen werden viele Liberale hierzulande verstören. Genauso wie Reaktionäre und Islamisten, die sie regelmäßig mit Shitstorms und Morddrohungen überziehen.
Als Güner Balci 2020 Integrationsbeauftragte von Neukölln werden soll, gilt sie für Teile der Linken und Grünen als „ungeeignet“. Keine Frage: Güner Balci polarisiert. Bei ihrem Namen bekommen nicht wenige Bedenkenträger einen dicken Hals. „Wallah, die spinnt!“ Sie sei eine „Erfolgsrassistin“, heißt es. Doch alle Anfeindungen feuern die Löwin von Neukölln bis heute an. Sie betont: „Wenn bei vielen Dingen, die ich in der Öffentlichkeit sage, Neonazis, Rechtsextreme, Islamisten, türkische Faschisten und bestimmte extremistische linke Gruppen Puls kriegen, dann habe ich alles richtig gemacht.“
Ihr neues Buch Heimatland ist eine einzige große Liebeserklärung. An ihre Kindheit in Neukölln, an Berlin und – ja, genau – an Deutschland. In der heiß diskutierten Migrationsfrage ist Balci überzeugt: „Wir hätten heute vielleicht keine AfD, wenn wir schon seit Jahrzehnten mehr Mut zur Wahrheit und Verantwortung gehabt hätten.“ Mit ihrer Sicht wird sie sicher wieder anecken. Aber Kämpfen ist Güner Balci seit Rollberg-Zeiten gewohnt. Was hat sie von ihrer alevitischen Mutter gelernt? Nie unterkriegen lassen, nie!
Wenn bei vielen Dingen, die ich in der Öffentlichkeit sage, Neonazis, Rechtsextreme, Islamisten, türkische Faschisten und bestimmte extremistische linke Gruppen Puls kriegen, dann habe ich alles richtig gemacht.
Balci ist ein im besten Sinne aufregendes Buch gelungen. Sie kann aus einem reichen Fundus schöpfen. Ihre Geschichten stammen aus gelebtem Leben. Nicht von Netflix, Instagram oder aus Uni-Seminaren. Wie sieht sie ihre Zukunft? „Ich träume davon, dereinst eine Berliner Alte zu werden, die mit langen grauen Zöpfen, ihrem Hund, einer Zigarette und vielen guten Geschichten auf einer Bank am Hermannplatz in Neukölln sitzt und den jungen Leuten schöne und traurige Geschichten von ihrer alten Heimat erzählt.“
Bis dahin bleibt für Güner Balci viel zu tun. In Deutschland, ihrem Heimatland.

Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Blogs, den unser Autor am 19. August 2025 auf seiner Webseite veröffentlicht hat.
Bildnachweise
Güner Yasemin Balci: © Leonhard Lenz, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons
Neuköllner Rasselbande: © Roswitha Schwenke
Himmel über Neukölln: © Christhard Läpple
Christhard Läpple: © Andreas Schoelzel


(verfügbar bis 03.07.2027)




