
Mein Großvater, der Nazi
von Christhard Läpple
Was tun, wenn der eigene Großvater ein zentraler Akteur des NS-Regimes war? Besser beschweigen oder sich doch öffentlich der Biografie stellen? In vielen deutschen Familien ist dies alles andere als eine akademische Frage. Ob Annalena Baerbock, Robert Habeck oder Alice Weidel: Deren Großväter waren allesamt in Hitlers Machtapparat verstrickt. Einige wenige haben sich offensiv dieser Frage gestellt: Albert Speer-Tochter Hilde Schramm gründete die Stiftung Zurückgeben. Niklas Frank, Sohn des Generalgouverneurs und „Schlächters von Polen“ Hans Frank, sezierte in seinen Büchern gnadenlos die NS-Verbrechen seines Vaters.
Jetzt wagt sich Investmentbanker Dominik von Ribbentrop mit seinem lesenswerten Buch Verstehen. Kein Verständnis auf hochtoxisches Gelände. Joachim von Ribbentrop war dessen Großvater und Hitlers Außenminister. Er fädelte 1939 den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt ein. Persönlich kannten sie sich nicht. Der Großvater wurde 1946 als Kriegsverbrecher in Nürnberg hingerichtet.

Als Enkel des NS-Botschafters und Außenministers Joachim von Ribbentrop bin ich sozusagen per Geburt und ohne gefragt zu werden mit der deutschen Geschichte, dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa verbunden. Da komme ich nicht mehr raus. Meine Kinder auch nicht. Eigentlich sind wir Deutschen alle mit diesem Kapitel unserer Geschichte infiziert. Dafür können wir Nachgeborenen nichts – dafür, wie wir damit umgehen, aber schon.
Seit vielen Jahren beschäftigt den Unternehmer die Nazi-Karriere seines gutbürgerlichen Großvaters. Immer wieder stellt er sich bohrenden Fragen: War er in Verbrechen verstrickt oder einer der vielen Mitläufer? Überhaupt: Wie konnte es dazu kommen? Was war seine Motivation? Hat er jemals bereut? Dominik von Ribbentrop macht es sich nicht leicht: „In die Unterwelt hinabzusteigen, tiefer und immer tiefer – da kommt keiner gerne mit. Viele Freunde sind beschäftigt genug in ihrem Hamsterrad. Und sich dem Minenfeld des Dritten Reichs anzunähern und sich für die vielen Grautöne zwischen dem politisch korrekten Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse zu interessieren, damit ist kein Blumentopf zu gewinnen.“
Enkel Dominik wagt sich auf 336 Seiten behutsam und unvoreingenommen an einen NS-Diplomaten, den Hitler als „besten Außenminister seit Bismarck“ lobte. Die Zeitgeschichte sieht in Ribbentrop vielmehr einen „Erfüllungsgehilfen, Vasall, Schergen und Lakai“ Hitlers. Ein Hardliner und Karrierist. Eisig, arrogant und abweisend. Getrieben von einer Eitelkeit, die stets nach mehr verlangte.

Joachim von Ribbentrop, Jahrgang 1893, sei von Kindesbeinen an ein sprachbegabter Abenteurertyp gewesen. Preußischer Offizierssohn aus Wesel, mit englischem Hauslehrer, ein guter Sportler und passionierter Geigenspieler. Bereits in jungen Jahren reist er zu Auslandsaufenthalten nach London, Kanada oder in die Schweiz. Nach seinem freiwilligen Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg heiratet er in die Familie des Sektkonzerns Henkell ein.
Der Enkel schildert seinen Großvater als „Feingeist und empathischen Romantiker“, der sich im turbulenten Babylon Berlin als Schaumwein- und Whiskeyhändler zielstrebig in der Hautevolee der Weimarer Republik tummelt. Ein sorgenfreies Leben mit Luxus-Villa in Dahlem, fünf Kindern, Pool und Tennisplatz, doch vom Typ sei er eher unpolitisch gewesen. In der einsetzenden Weltwirtschaftskrise ab 1929 beginnt der Unternehmer mit der nationalen Rechten zu sympathisieren. Versailles ist für ihn ein Schandvertrag. 1932 stellen sich entscheidende Weichen.
Der Kommunistengegner Ribbentrop trifft sich im August 1932 ein erstes Mal mit Hitler auf dem Berghof. Er sieht in seine „hypnotisch beschriebenen blauen Augen“ – und ist begeistert. Nur Hitler könne Deutschland aus Wirtschaftskrise und Niedergang führen, davon ist er überzeugt. Ein Heiland und Hirte wird gesucht. Enkel Ribbentrop zitiert Hermann Hesse, aus dessen Werk Morgenlandschaft, 1932 erschienen: „Unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges, war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf Anbruch eines Dritten Reiches.“ Diesem Dämon Hitler sei sein Großvater hoffnungslos erlegen: „Die Kategorien lauten nicht mehr Logik, Rationalität und gute Argumentation, sondern Glaube, Hingabe und Unterwerfung.“

Auch Joachim von Ribbentrop wird ein überzeugter Parteigänger und Nazi. Es geht Schlag auf Schlag. 1932 tritt er in die NSDAP ein, wenig später wird er SS-Standartenführer. Im Januar 1933 treffen sich in der Dahlemer Ribbentrop-Villa Mitglieder des künftigen Hitler-Kabinetts. In der Lentzeallee wird die Machtübernahme geplant und vorbereitet, deren drei Voraussetzungen „tiefgreifende nationale Kränkung, wirtschaftliche Abstiegsängste und ein mitreißender Demagoge“ gewesen seien, so Enkel Ribbentrop. Der neue Reichskanzler Hitler wird sogar Patenonkel von Ribbentrop-Sohn Adolf, dem Vater von Buchautor Dominik.
Mit Hitlers vollständiger Machtübernahme nimmt die Karriere des Großvaters rasch Fahrt auf. Dessen Sprachkenntnisse, Weltläufigkeit und totale Loyalität lassen ihn zum Sondergesandten Hitlers aufsteigen. Ribbentrop schließt 1935 ein Flottenabkommen mit den Briten ab und wird drei Jahre später Außenminister. „Der Führer“ ist längst sein Mephisto, sein „gewissenloser Verführer“. Wie lässt sich diese Radikalisierung erklären? Im Großvater hätten sich „typisch deutsche Eigenschaften wie Idealismus und Angst, auch Genialität, Naivität und Radikalität auf schicksalhafte Weise“ verdichtet. Ribbentrops größter Coup: Der Hitler-Stalin-Pakt. Unterschrieben am 23. August 1939 wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Ein überraschender Deal der beiden Diktatoren, „ein Ereignis welthistorischen Formats“, so der Enkel. Das Abkommen mit dem geheimen Zusatzprotokoll über die Aufteilung Polens entlang einer vereinbarten geografischen Linie sei in Moskau mit viel Wodka und einem schlecht gespitzten Bleistift besiegelt worden, „so dass der Strich auf der Landkarte in der Realität zwei bis drei Kilometer entsprach“. Ribbentrop fragte Stalin anschließend, wie er so viel Wodka vertragen könne. „Der lachte verschmitzt und antwortete, dass er seinen Dienern befohlen habe, sein Glas immer nur mit leichtem Wein zu füllen“.

Joachim von Ribbentrop könne nicht als Organisator der ‚Endlösung‘ bezeichnet werden, sei aber einer der vielen Mitmacher und Zuarbeiter in der ‚Judenfrage‘ gewesen. Sein Auswärtiges Amt war für Vorbereitung, Mitwirkung und Abschirmung des Holocaust verantwortlich.
Ab 1942 gilt der großbürgerliche ehemalige Schaumweinhändler Ribbentrop zunehmend als isoliert. Er zieht sich auf das Gut Steinort in Ostpreußen zurück, zwanzig Kilometer von Hitlers Wolfsschanze entfernt. Er hat nichts zu tun, außer einige diplomatische Protokolle anzufertigen. Pikantes Detail am Rande: Zwei Jahre lang lebt er auf Gut Steinort mit dem Widerstandskämpfer Graf Heinrich von Lehndorff unter einem Dach. Der Offizier wird wegen seiner Beteiligung am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet.
Ribbentrop selbst bleibt linientreu, wird aber aus dem innersten Zirkel der Hardcore-Nazis wie Goebbels und Himmler als bürgerlicher Sonderling mehr und mehr ausgegrenzt. „Für mich sind sein Gesichtsausdruck und seine verkrampfte Körperhaltung in den späten Kriegsjahren vielsagend“, meint der Enkel. Doch sein „Schweigen (…) ausblenden, ignorieren, wegsehen waren zentral für das Funktionieren dieses Regimes“.
In seiner Rechtfertigungsschrift, verfasst nach der Niederlage in der Nürnberger Gefängniszelle, schreibt er über die letzten Jahre bis 1945: „Mit wem soll ich eigentlich noch über außenpolitische Fragen im Ausland reden? Alle in Fragen kommenden ausländischen Gesprächspartnern gehörten irgendwelchen Gruppen an, denen wir auf die Füße treten. Es war nicht nur die Judenfrage, die eine große Belastung für eine deutsche Außenpolitik darstellte. Zu den weiteren ideologischen Gegnern gehörten Sozialisten, Liberale, Kapitalisten, Freimaurer, Monarchisten, bestimmte Rassen, bestimmte Kunstrichtungen und Künstler, nicht zuletzt die Kirchen, Rotary Clubs und andere mehr.“

Großvater Ribbentrop hält nibelungentreu an Hitler fest – bis zum Untergang. Im Januar 1945 startet er einen letzten Rettungsversuch. Er bietet Hitler an, mit seiner Familie als Faustpfand nach Moskau zu fliegen, um Friedensgespräche mit Stalin zu führen. Hitler lehnt ab: „Ribbentrop, machen Sie mir keine Sachen wie Heß!“ Anfang Mai 1945 flieht Hitlers Außenminister über die nördliche ‚Rattenlinie‘ nach Flensburg. Doch die letzte NS-Rumpfregierung unter Admiral Dönitz legt auf seine Mitarbeit keinen Wert mehr. Ribbentrop taucht als Johann Riese mit gefälschten Papieren in Hamburg unter, wird denunziert und festgenommen.
Die eigene Nazi-Geschichte zu verstehen, bedeute nicht Verständnis zeigen, lautet das Mantra des Buches. Enkel Dominik: „Der Spagat zwischen das Gute doch wollen und das Böse mitmachen, war ein teuflisches und unüberwindbares Dilemma für den Außenminister und vermutlich für einen Großteil seiner Generation.“
Wiederholt sich Geschichte? Ja, in Reimen, meinte einmal augenzwinkernd Mark Twain. Dominik Ribbentrop versucht sich an diesem Thema am Ende seiner Anmerkungen eines Enkels und in einem Gespräch mit dem Philosophen Rüdiger Safranski. Seine Schlussfolgerungen für heute – stabile Wirtschaft, Selbstverantwortung und „pazifischer Realismus“ seien für die Demokratie unerlässlich – lesen sich wie eine gut gemeinte Bergpredigt. Hilfreicher wäre es gewesen, mehr über die ‚Banalität des Bösen‘ in der eigenen Familie zu erfahren. War sein Großvater unbelehrbar bis zum letzten Atemzug? Wie damit als Nachkomme umgehen? Joachim von Ribbentrop wurde als erster von zwölf zum Tode verurteilten NS-Kriegsverbrechern am 16. Oktober 1946 in Nürnberg hingerichtet. Seine letzten Worte unter dem Galgen waren: „Gott schütze Deutschland!“
Hat er aus seinem Aufstieg und Fall im Dritten Reich gelernt? Das Fazit des Enkels Dominik von Ribbentrop klingt so ernüchternd wie kämpferisch: „Vermuten wir gerne das Gute in dem anderen, gehen wir aufeinander zu und hoffen das Beste, aber bitte nur mit einem großen, geladenen und blitzenden Colt am Gürtel.“

Dominik von Ribbentrop
Verstehen. Kein Verständnis.
Anmerkungen eines Enkels
Frankfurt am Main: Westend Verlag, 2025
336 Seiten
Hardcover 32,00 €, E-Book 25,99 €

Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Blogs, den unser Autor am 5. Oktober 2025 auf seiner Webseite veröffentlicht hat.
Bildnachweise
Joachim von Ribbentrop und sein Mephisto: © Archiv des Auswärtigen Amtes
Joachim von Ribbentrop (1893 – 1946): United States Army Signal Corps photographer, Public domain, via Wikimedia Commons
Vom unpolitischen, wohlhabenden Schaumweinhändler zum überzeugten Nazi: © Bundesarchiv, Bild 101I-808-1236-08 / Unknown author / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons
Der Händedruck von Moskau: © Bundesarchiv, Bild 183-H27337 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons
Adolf Hitler und Joachim von Ribbentrop, 1935: © Familienarchiv Ribbentrop