|
© Internationale Filmfestspiele Berlin / Claudia Schramke, Berlin

Gespenster – Berlinale Blog 2025

von Achim Forst

25. Februar 2025

Berlinale Blog – Nachtrag

Der letzte Tag der Woche der Kritik: Das Filmdebüt eines Kritikers und ein Musikfilm aus Kanada 

Am Schluss habe ich es zum Glück doch noch geschafft, zum letzten Tag der Woche der Kritik, dem parallel zur Berlinale stattfindenden kleinen Festival der Filmkritiker. Ich war eingeladen zum Spielfilmdebüt eines früheren Kollegen und konnte dadurch noch einem außergewöhnlichen Musikfilm aus Kanada erleben.

© Verband der deutschen Filmkritik, CC BY-SA 4.0 via Wikipedia

Filmkritik wird zum Programm: Kolleginnen und Kollegen laden zu Debatten ein und stellen sorgfältig kuratiert Fundstücke aus der internationalen Filmproduktion vor. Manche davon sind besondere kleine Meisterwerke, aber alle Filme haben einen besonderen Anspruch.

Um eine solche Reihe, wie sie einige große Filmfestivals schon seit Jahrzehnten hatten, zu institutionalisieren, braucht man viel Energie und Durchhaltevermögen.

Frédéric Jaeger, der damalige Vorsitzende des Verbands der deutschen Filmkritik, hatte beides und organisierte 2015 zusammen mit Dennis Vetter und Dunja Bialas die erste Woche der Kritik. Vor einigen Jahren wechselte Frédéric die Seiten, begann ein Filmstudium und drehte Kurzfilme. Nun also die Rückkehr zur Woche der Kritik mit der Sondervorstellung seines ersten langen Films All We Ever Wanted.

All We Ever Wanted von Frédéric Jaeger
© Tarnung Filmproduktion Frédéric Jaeger / WOCHE DER KRITIK

Drei Freunde, zwei Männer und eine Frau, machen einen gesponserten Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Als die Mutter der schwarzen Protagonistin den Geldhahn zudreht und auch noch die Kreditkarten gestohlen werden, entscheidet sich das Trio für ein kleines Abenteuer: Konservenkost und Übernachten im Zelt am Rande der Steinwüste. Der Mietwagen steht als Rückzugsort aber immer bereit. Dabei lernen sich die Drei gegenseitig besser und anders kennen. Und sie entdecken – vor allem die Männer – neue Gefühle. Das passiert beiläufig, ohne Dramatik. Das Drehbuch versucht nicht, die Geschichte größer zu machen als sie ist, sondern setzt auf Understatement. Es gibt durchaus überraschende Wendungen, aber die bleiben subtil und dezent. Frédéric Jaeger hat einen queeren Film gedreht, und es ist schön, dass er das nicht thematisch vor sich herträgt.

All We Ever Wanted von Frédéric Jaeger
© Tarnung Filmproduktion Frédéric Jaeger / WOCHE DER KRITIK

All We Ever Wanted hat mich nicht ganz überzeugt, aber keine Sekunde gelangweilt. Ich persönlich wäre mehr als zufrieden, wenn ich als Autor-Regisseur einen solchen Debütspielfilm präsentieren könnte. Im anschließenden Gespräch wies jemand auf die Verwandtschaft mit Jim Jarmuschs Stranger than Paradise hin. Dazu noch ein Kompliment von mir: Der Film hat mich in seiner Leichtigkeit und Unangestrengtheit an die Sommerfilme des großen Erik Rohmer erinnert. Auch er ein früherer Filmkritiker.

Zum Abschluss der Woche der Kritik lief danach einer jener Filme, für die es sich jedes Jahr lohnt, im ungemütlichen Februar nach Berlin zu kommen. Filme, die durch die Verwertungsraster fallen und deshalb kaum zu sehen sind: fürs Kino und die Streaming-Plattformen nicht kommerziell und populär genug und auch fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen – und das gilt selbst für einen Kultursender wie ARTE – zu sehr ‚Quotengift‘.

Measures for a Funeral fordert tatsächlich einiges von seinen Zuschauer(inne)n: Geduld für die allmähliche Entfaltung der Story, Offenheit für die Form und – ja – auch etwas Bildung und Aufgeschlossenheit für Fragen der bürgerlichen Kultur und Wissenschaft. Es ist ein Musikfilm und auch ein Film über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, über Obsessionen, ein feministischer Film und gleichzeitig ein Filmkunstwerk, das über die Wirkung von Bildern, Tönen und Architektur reflektiert. Kurz: ein Film, der bei uns vielleicht vor 30 oder 40 Jahren in den Förderungsstrukturen der alten Bundesrepublik ermöglicht worden wäre, aber heute ganz bestimmt nicht mehr. Es ist ein Film aus Kanada.

Deragh Campbell in Measures for a Funeral
© Vortex Media / Totem Films / WOCHE DER KRITIK

Audrey ist eine Musikwissenschaftlerin, die, von den Ansprüchen ihrer sterbenden Mutter verfolgt, ihre Arbeit nicht mehr richtig tun kann. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit der kanadischen Geigenvirtuosin Kathleen Parlow, die Anfang des 20. Jahrhunderts als „Lady mit dem goldenen Bogen“ berühmt war, heute aber weitgehend vergessen ist. Dabei stößt die junge Frau auf das unbekannte Violinkonzert eines Geigers, das sie zur Aufführung bringen will. 

Über Nacht verlässt Audrey ihren Freund und reist wie besessen zu den Wirkungsstätten von Kathleen Parlow durch Europa. Auf dem Rücken trägt sie wie als Ausdruck ihrer seelischen Last immer die Geige ihres Großvaters. Das Instrument verkörpert das Trauma ihrer Mutter, die wegen Audrey auf ihre Musikerinnen-Karriere verzichtet hatte.

Sofia Bohdanowicz
© Vortex Media / Totem Films / WOCHE DER KRITIK

Sofia Bohdanowicz hat einen Film gedreht, der dramaturgisch und narrativ bei weitem nicht perfekt ist, doch in Fotografie und Schnitt handwerklich herausragend. Außerdem ist er voller Inspiration und Leidenschaft und passt damit perfekt zum Leben der Protagonistin und der von ihr verehrten Geigerin. 

In der zweiten Hälfte des Films verschiebt Bohdanowicz noch einmal den Fokus: von Audreys selbstquälerischer Schicksalsrecherche zum ewigen Konflikt aller klassischen Virtuosen: Kann der Anspruch auf höchste Perfektion neben den fundamentalen menschlichen Bedürfnissen Liebe und Freundschaft existieren oder schließt sich beides wechselseitig aus?

María Dueñas bei den Dreharbeiten zu Measures for a Funeral
© Vortex Media / Totem Films / WOCHE DER KRITIK

Zum Finale bricht die Regisseurin aus Toronto dann erneut die ehernen Regeln des Mainstream-Musikfilms, indem sie das gefundene Violinkonzert in voller Länge (oder wenigstens einen ganzen Satz daraus) und im Konzertsaal live gespielt in den Film aufnimmt. An dieser Stelle dürften auch die wohlmeinendsten Anhänger des narrativen Films raus sein. Fans klassischer Musik aber sind entzückt: Sie erleben auf Breitwand in perfektem Stereoton die aktuelle spanische Starviolinistin María Dueñas, im Film die zeitgenössische Reinkarnation von Kathleen Parlow. Damit gelang den Produzenten wenigstens für die Musik des Films eine erfolgversprechende Distributionsstrategie: Measures for a Funeral entstand in Kooperation mit der Plattenfirma Deutsche Grammophon, die den Soundtrack herausgebracht hat.

24. Februar 2025

Dokumentarfilme über Gewalt und Menschlichkeit und eine blutige Sowjet-Satire

Die Auseinandersetzung um Israel, Gaza, Hamas und den internationalen Antisemitismus ist auf dieser Berlinale mit dem Dokumentarfilmpreis fortgesetzt worden. Im vergangenen Jahr hatte ihn der israelisch-palästinensische Film No Other Land gewonnen, und Äußerungen der Autoren bei der Preisverleihung hatten einen Skandal ausgelöst. Beim Preisträger dieses Jahres, Holding Liat, ist das nicht passiert, doch die US-Produktion setzt den Diskurs über den anscheinend unlösbaren Konflikt fort – auf ernsthafte und gute Weise.

Regisseur Brandon Kramer begleitete eine israelische Familie beim Kampf um die Freilassung ihrer Tochter Liat, die beim Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 aus ihrem Kibbuz entführt worden war. Anders als in No Other Land wird hier nicht eine einvernehmliche Agenda der Beteiligten dokumentiert, sondern es wird innerhalb der Familie getrauert, gestritten und gezweifelt. Kein Wunder in einer demokratischen Gesellschaft, die von einer rechtsradikalen Regierung unter Kriegsrecht beherrscht wird.

Yehuda Beinin in Holding Liat von Brandon Kramer
© Meridian Hill Pictures

Yehuda, der Vater der Entführten, ist ein alter Menschenrechtsaktivist, der sich immer schon für die Interessen der Palästinenser eingesetzt hat und den jetzigen Ministerpräsidenten Netanjahu für einen Verbrecher hält. Während sein Enkel auf einer Reise durch die USA im Fernsehen und auf Veranstaltungen sehr emotional um Hilfe für seine Mutter bittet, wehrt sich der Großvater gegen rechte, strenggläubige Juden, die ihn in Washington bedrängen und das Schicksal der Geiseln für ihre politischen Interessen nutzen wollen. 

Auch wenn er weniger spektakulär war als 2024: Auch diesmal gab es wieder einen israel-feindlichen Vorfall. Der chinesische Regisseur Jun Li warf in einer Rede Israel „brutalen Siedlerkolonialismus“ vor und verbreitete die Hamas-Parole „From the river to the sea“. Der Staatsschutz begann zu ermitteln. 

Ich vermute, dass es auf der Berlinale mehr solcher Vorkommnisse gab, die jedoch unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung geblieben sind. Einen habe ich selbst miterlebt, nach einer Vorführung des peruanischen Dokumentarfilms La memoria de las mariposas. Darin geht es um die brutale Quasi-Versklavung der indigenen Bevölkerung Perus durch die britischen Kolonialisten beim Kautschuk-Handel, inklusive Exekutionen und Verstümmelungen durch Abtrennen von Körperteilen. Im Gespräch nach dem Film setzten die jungen Filmemacherinnen Israels Vorgehen im Krieg gegen die Hamas umstandslos mit diesen Gräueltaten gleich.

Trotzdem will ich hier über den Film von Tatiana Fuentes Sadowski schreiben. Die Regisseurin nimmt uns mit auf eine persönliche Recherchereise in die Vergangenheit, ganz in Schwarzweiß und in oft düsteren, magischen Bildern. Ausgehend von einem Foto zweier junger Männer erzählt sie in La memoria de las mariposas (Die Erinnerung der Schmetterlinge) die Geschichte der Indigenen Omarino und Aredomi, die um 1900 nach England gebracht wurden. 

La memoria de las mariposas
© Miti Films / MAA Cambridge / Community of Puerto Arica
La memoria de las mariposas
© Miti Films / Biblioteca Amazónica / Morey Family Archive

In Wirklichkeit ist dies keine vollständig nacherzählbare Geschichte, sondern ein Mosaik aus Bildern und Informationen, die sich erst im Kopf der Zuschauer zu einem intuitiven Gesamtbild zusammenfügen. Indem sie die Archivfotos und -Szenen und die in körnigem Schwarzweiß auf Super8-Film an Originalschauplätzen neu gedrehten Aufnahmen in der Montage nahtlos verschmilzt, erzeugt Sadowski einen faszinierenden visuellen und narrativen Sog. – La memoria de las mariposas bekam dafür zurecht den FIPRESCI-Preis der Forum-Jury und eine lobende Erwähnung der Dokumentarfilmpreis-Jury. 

Cadet, eine düstere blutige Farce, die hellsichtig auf die Zeitgeschichte blickt, war für mich genau der richtige Abschlussfilm einer Berlinale, die während ebenso umstürzender wie absurder Ereignisse in der Weltpolitik stattfand. Gedreht hat ihn der kasachische Autor-Regisseur Adilkhan Yerzhanov

Cadet von Adilkhan Yerzhanov
© Cadet

Eine junge Geschichtslehrerin kommt mit ihrem langhaarigen Sohn in eine Militär-Eliteschule, an der sie unterrichten soll. – Damit lockt uns der Film sofort auf eine falsche Fährte, denn man glaubt zu wissen, was nun kommt. Und tatsächlich wird der sensible und mädchenhaft wirkende Serik von seinen Mitschülern sofort in die Ecke gedrückt und misshandelt. Doch in Cadet geht es nicht oder nicht nur um männerbündischen Gruppenterror und menschenverachtenden militärischen Drill, sondern um die Frage nach der Herkunft des Bösen schlechthin. Während an der Militärschule immer neue grausame Selbstmorde geschehen, wandelt sich der sanfte Serik zum parapsychologisch mächtigen Musterkadetten, der seiner Mutter immer fremder wird.

Cadet von Adilkhan Yerzhanov
© Cadet

Adilkhan Yerzhanov erweist in seiner bösen und schwarzhumorigen Psycho-Horrorfilm-Satire auf das Militär vielen berühmten Werken des Genrefilms seine Referenz. Doch gegen Ende seines Films rückt er eine weitere Bedeutungsebene immer deutlicher und fast schon überdeutlich in den Vordergrund. Denn mit den Dämonen der Militärschule werden bald die bösen Kräfte einer immer noch nicht untergegangenen Sowjetunion die Macht übernehmen: Die Handlung des Films endet in den Tagen vor dem 23. Februar 2022, dem Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine …

23. Februar 2025

Preisverleihung, Träume, Scott und Fwends

Die Preisverleihung der Berlinale ist vorbei, die Bären sind vergeben. Aber ich schaue und schreibe weiter, auch morgen noch. Über die Gewinner im Wettbewerb kann ich nur wenig sagen, denn auf der Suche nach filmischen Entdeckungen habe ich mich viel mehr in den Sektionen Forum und Panorama herumgetrieben als im offiziellen Hauptprogramm.

Aber ja: Ich bedauere, dass ich mich aufgrund der Inhaltsangabe dagegen entschieden hatte, den norwegischen Film Drømmer (Träume) anzuschauen: Eine 17-Jährige schreibt ohne Tabus einen Text über ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrer Lehrerin und regt damit Mutter und Großmutter an, über ihr eigenes Begehren nachzudenken. Diese Geschichte erschien mir irgendwie prätentiös, und ich bezweifelte, dass sie zu einem starken Film gehören könnte. Offenbar eine klare Fehleinschätzung: Außer dem Goldenen Bären hat Regisseur und Autor Dag Johan Haugerud auch noch den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritiker(innen) und den Gilde Filmpreis gewonnen.

Ane Dahl Torp, Ella Øverbye in Drømmer / Dreams (Sex Love) von Dag Johan Haugerud
© Agnete Brun

Irritiert hat mich an den Preisentscheidungen der offiziellen Jury der Bär für die beste Darstellerleistung in einer Nebenrolle für Andrew Scott. Ohne Zweifel ist Scott ein ausgezeichneter Schauspieler, bekannt zum Beispiel als Protagonist der Netflix-Miniserie Ripley, und das zeigt er auch in seiner Rolle des Broadway-Komponisten Roger Hart in Blue Moon von Richard Linklater. Trotzdem frage ich mich, ob dieser routinierte Auftritt wirklich die beste Nebendarstellerleistung dieses Wettbewerbs war. Ich vermute eher einen Jury-Kompromiss, vielleicht weil sich die Jurorinnen und Juroren nicht auf Ethan Hawke, der im selben Film mitspielt, als Empfänger des Hauptdarsteller-Bären einigen konnten.

Blue Moon: Margaret Qualley, Ethan Hawke, Richard Linklater und ganz rechts Andrew Scott, der den Silbernen Bären als bester Nebendarsteller bekam.
© Alexander Janetzko / Berlinale 2025

Kurz vor der Preisverleihung sah ich in der letzten Wiederholung meinen, wie ich schnell merkte, Lieblingsfilm der Berlinale 2025: Fwends ist ein No-Budget-Film aus Australien, einfach und direkt und dann doch tief zu Herzen gehend. Zwei Darstellerinnen, eine Handkamera und eine Regisseurin, die den Film dann auch noch allein geschnitten hat.

Em besucht ihre Schulfreundin Jessie für ein kurzes Wochenende in Melbourne. Pläne haben sie keine, außer nach langer Zeit mal wieder richtig viel miteinander zu reden. Die clevere, gebildete Em hat einen gut bezahlten Bürojob in Sydney, muss aber gerade den sexistischen Übergriff ihres Chefs verarbeiten. Jessie schwört auf Spontaneität und das Ausleben von ‚vibes‘ und geht immer flink ihren dunklen inneren Abgründen aus dem Weg.

Melissa Gan, Emmanuelle Mattana in Fwends von Sophie Somerville
© Excellent Friends & Future Success PTY LTD

All das beobachten und erleben wir nicht in einem sorgfältig gescripteten Kammerspiel: Ich konnte nach dem Film kaum glauben, dass jeder Dialog, also eigentlich das ganze Buch, von den beiden Darstellerinnen Emmanuelle Mattana (Em) und Melissa Gan (Jessie) frei improvisiert wurde – manchmal in den Innenräumen, meistens aber draußen auf den Straßen und in den Parks der europäischsten und coolsten Großstadt Australiens. 

Fwends ist ein „female-buddy Melbourne mumblecore“, wie Emmanuelle Mattana auf ihrer Webseite schreibt. Sie ist in Australien bereits als Theaterautorin bekannt und spielte schon in einer Reihe von Netflix– und TV-Serien. Es ist ein großes Glück für den Film und seine Regisseurin, dass sich Mattana und ihre Partnerin Melissa Gan so gut verstanden. Die Beiden wirken schauspielerisch perfekt aufeinander eingestellt, so als wären sie schon ein halbes Leben lang miteinander vertraut, obwohl sie sich erst ein paar Monate vor den Dreharbeiten kennengelernt hatten.

Melissa Gan, Emmanuelle Mattana in Fwends von Sophie Somerville
© Excellent Friends & Future Success PTY LTD

Nach zwei erfolgreichen Kurzfilmen hatte Regisseurin Sophie Somerville für ihr Spielfilmdebüt nur ein grobes Konzept geschrieben. Und mit ihrem Kameramann Carter Looker waren vorab nur die Drehorte und einige grundsätzliche Dinge abgesprochen. Ob in weiter Distanz mit langen Brennweiten oder ganz nah: Bei den Dreharbeiten folgte Looker dann meistens seiner Intuition, wie er in Berlin erzählte.

Sophie Somerville
© Excellent Friends & Future Success PTY LTD

Mit dieser Kombination von Inspiration, Improvisation, glücklichen Zufällen und kreativer Arbeit entstand einer der schönsten wirklich unabhängig produzierten Spielfilme der letzten Jahre. Fwends hat Vorgänger und vielleicht auch Vorbilder, trägt diese aber nicht vor sich her. Sophie Somerville vermittelt in ihrem ersten langen Film die Leichtigkeit, die Unmittelbarkeit und den melancholischen Humor der frühen Dogma-Filme, die Intensität der berühmten Eine-Nacht-Gesprächsfilme von Richard Linklater (Before Sunrise, Before Sunset) und erinnert auch an Louis Malles Klassiker Mein Essen mit André. 

Einen Tag vor der großen Bären-Verleihung wurde Fwends mit dem Caligari Filmpreis ausgezeichnet. Hoffentlich werden ihn auch nach der Berlinale viele Menschen sehen können.

20. Februar 2025

Not completely unknown: Die Tradition der fliegenden Bären

Ist es nicht schön, wenn es inmitten der täglich auf uns einprasselnden grundstürzenden Veränderungen und historischen Bündnis- und Zeitenwenden ein paar Dinge gibt, die zuverlässig so bleiben, wie sie schon immer waren? Eines dieser Dinge ist der offizielle Berlinale-Trailer

Seit gefühlt – ich habe nicht recherchiert – drei Jahrzehnten begrüßt das Festival seine Gäste mit demselben spektakulären Animationsclip. (Er war bestimmt nicht billig!) Zu schwebenden Klängen bewegen sich erst einzelne, dann immer mehr goldene Bären des Berlinale-Icons an der Kamera vorbei, formen eine Art Bärenplaneten, der in die Ferne fliegt und mit einem Orchestertusch zerplatzt. Ein prächtiges Feuerwerk, nach dem sich goldgelb leuchtende Bärenteile über die Leinwand verteilen. 

Das gleiche passiert auch diesmal vor jedem Film des Berlinale-Programms. Nur wurde jetzt am Ende ein „75 Jahre Berlinale“-Logo einmontiert. Einer Kollegin fiel auf, dass die nachfolgende Texttafel mit dem Motto „Das Festival präsentiert‟, übersetzt in eine Reihe von Weltsprachen, unverändert geblieben ist. Heißt: Russisch ist weiterhin dabei. Hätte man das nach dem Beginn von Putins Eroberungskrieg, den er im Namen seiner „Russischen Welt“ führt, nicht ändern sollen? Oder ist es jetzt ganz passend so, weil Präsident Trump den Diktator im Kreml ja gerade persönlich wieder in den Kreis der Weltmächte eingeladen hat?

A propos: Während wir gerade die Vereinigten Staaten, wie wir sie kennen, vor unseren Augen zerbröckeln sehen – ist da eine nostalgische Rückschau in die USA der 1960er Jahre nicht legitim und sinnvoll? – A Complete Unkown, der neue Film von James Mangold, bietet genau das, heilt und hilft mit Seelenmassage. Vor 20 Jahren hatte Mangold schon einmal eine schöne Musikerbiografie inszeniert: Walk the Line, über Johnny Cash und seine Frau June. Mangolds neues Biopic über Bob Dylan führt uns zurück in eine Zeit, in der es – man kann‛s kaum glauben! – eine noch massivere Krise gab. Als Robert Allen Zimmerman mit seiner Gitarre aus Minnesota in Manhattan ankommt, um sein Folk Music-Idol Woody Guthrie im Krankenhaus zu besuchen, nähert sich die Welt aufgrund russischer Raketenschiffe, die sich auf dem Weg nach Kuba befinden, gerade einem weltweiten Atomkrieg.

Damals ist nicht nur alles nochmal gut gegangen, es war im Gegensatz zu heute eine Zeit liberaler Hoffnungen, der ‚bunten‘ Aufbrüche in Kultur und Gesellschaft, mit Folk-, Beat-, Rock- und Popmusik als Katalysatoren. Davon erzählen Mangold und sein Co-Autor Jay Cocks (Gangs of New York, Strange Days).

Elle Fanning, Timothée Chalamet in A Complete Unknown von James Mangold
© 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved

In diesem Film muss sich kein Underdog von ganz unten nach oben durchkämpfen. Schon als Bob am Krankenbett von Guthrie den ersten Song singt, den er ihm gewidmet hat, ist klar: Hier ist ein neuer Superstar in der Musikwelt angekommen. Der populäre Pete Seeger bringt ihn schnell auf die richtige Bühne und mit den richtigen Leuten zusammen, und dann gibt es kein Halten mehr … 

Timothée Chalamet als Bob Dylan in A Complete Unknown
© Macall Polay / 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved

Das Besondere und Spannende an diesem ästhetisch eher konventionellen Biopic sind die Darsteller und das perfekt inszenierte Ambiente, in dem sie agieren. Nur selten bekommt man einen so authentisch wirkenden Trip in die frühen 60er Jahre geboten. Ganz ‚analog‘ wirkend, bietet der Film das Gefühl, zusammen mit den Protagonisten durch Manhattans East Village zu ziehen oder auf der Bühne des Newport Folk Festivals zu stehen. 

Timothée Chalamet in A Complete Unknown
© Macall Polay / 2024 Searchlight Pictures All Rights Reserved

Für das Casting (Yesi Ramirez) bis hin zu den zahlreichen Nebenrollen hat der Film auf jeden Fall schon einen Oscar verdient (er ist nominiert für acht). Timothée Chalamet (Call Me by Your Name) glaubt man von Anfang an, dass der junge Dylan genauso war: verletzlich, manchmal etwas autistisch, stolz und seines Könnens sehr bewusst. Aber genauso nimmt man ihm Dylans Respekt und Liebe zu seinen Folk-Vorbildern ab, obwohl er sich von ihnen bald auf schmerzliche Weise trennen wird. Mangold fasst das schön in der Szene zusammen, in der sich der schon berühmte Dylan im Krankenhaus von dem stumm gewordenen Woody Guthrie mit einem Klaps auf die Schulter für immer verabschiedet, bevor er vor dessen Augen mit der Gitarre auf dem Rücken auf der Straße davonzieht. 

Dylan-Double Timothée Chalamet bei der Pressekonferenz in Berlin
© Richard Hübner / Berlinale 2025

Ebenso hervorragend gecastet: Monica Barbaro (mit einer Rolle in Top Gun: Maverick bisher noch nicht besonders aufgefallen) spielt Joan Baez, das brave, gebildete Mädchen von nebenan, das schon Folk-Karriere gemacht hat und nun irritiert, fasziniert und dann auch erotisch interessiert auf den Neuankömmling aus dem mittleren Westen reagiert.

Der Film basiert teilweise auf Joan Baez‘ Erinnerungsbuch über ihre bewegte On-Off-Beziehung mit Dylan und auf dem Buch Dylan Goes Electric, in dem Elijah Walds den beharrlichen Widerstand dokumentiert hat, mit dem Bob Dylan damals den Vereinnahmungsversuchen von Seiten der Folk-Traditionalisten um den charismatischen Pete Seeger entgegentrat.

Bob Dylan: I don’t think they want to hear what I want to play.

Johnny Cash: Who’s they?

Bob Dylan: You know, the people who decide what folk music is or isn’t.

Johnny Cash: Fuck them, I wanna hear you. Go track some mud on somebody’s carpet. Make some noise, B.D.

A COMPLETE UNKNOWN

Höhepunkt war 1965 der tumultartig verlaufene Auftritt Dylans mit Musikern der Paul Butterfield Blues Band beim Newport Folk Festival, der auch schon in Martin Scorseses Dylan-Doku No Direction Home (2005) den Rang einer Schlüsselszene hatte. Ein Teil des Publikums war empört über die Rockversion von Maggie‛s Farm, während hinter der Bühne der Festivalleiter erfolglos den Befehl gab, die Lautstärke zu drosseln. Am Schluss spielte Dylan dann doch noch zwei Songs traditionell unplugged, solo mit Mundharmonika und Gitarre. Aber wie wir wissen, hielt der Frieden nicht lange. Bob Dylan ging seinen Weg weiter, bis heute – konfliktfreudig, manchmal stur und immer selbstbestimmt.

19. Februar 2025

Zwei einfache Einstellungen dieses Films haben sich bei mir sofort eingeprägt: Zuerst ein mit Blumen überschüttetes einzelnes Grab an der Ecke eines großen, rechteckig abgesteckten Feldes. Ein Schnitt, und das Feld erscheint nun als Blumenmeer voller Gräber. Dann bewegt sich die Kamera in einem Rundschwenk nach rechts, und wir sehen, umgeben von immer mehr Blumen und Gräbern, dass wir uns inmitten eines Soldatenfriedhofs befinden. 

Vitaly Mansky © Adam Hribal

Vitaly Mansky war der bekannteste und erfolgreichste Dokumentarfilmregisseur Russlands. Dass er in Lwiw geboren wurde, also Ukrainer ist, war wohl nicht nur mir gar nicht bewusst. In Moskau gründete Mansky das renommierte Artdocfest. Nach der Annexion der Krim musste er 2014 unter dem Druck staatlicher Repressionen sein Festival aufgeben und das Land verlassen. Er ließ sich im lettischen Riga nieder und veranstaltet das Artdocfest seit 2020 dort.

Nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine kehrte Mansky in seine Geburtsstadt zurück, um dort seinen nächsten Film vorzubereiten. Dabei folgte er immer wieder Trauerzügen durch die Stadt, die den ‚Helden‘ des aufgezwungenen Krieges, den gefallenen jungen Soldaten gewidmet waren. Alle endeten an dem schon beschriebenen Gräberfeld.

Neben den Priestern und den Totengräbern war eine Gruppe von Menschen immer dabei: die Militärkapelle, die als marching band mit ihren Liedern jedes Mal für den würdigen musikalischen Rahmen sorgte. So fand der Regisseur den zentralen Ort und die Protagonisten seines großen Dokumentarfilms Time to the Target (Chas pidlotu), der in der Sektion Forum Weltpremiere hatte.

Chas pidlotu /Time to the Target von Vitaly Mansky
© Chas pidlotu

Ein Jahr lang begleitete Mansky – nach langer Zeit zusätzlich mal wieder selbst hinter der Kamera mit seiner Crew das Wirken des Militärorchesters: zurückhaltend, als stiller Beobachter und Zuhörer. Mit dem Krieg haben alle Musiker auch ganz privat zu tun, wie einige von ihnen vor der Kamera erzählen. Einer berichtet von seinem hünenhaften Sohn, der schon zigmal verwundet wurde und doch immer wieder an die Front zurückkehrt. Der junge Paukist hat ein Klavier-Studium absolviert, aber weil seit Beginn des Krieges immer mehr Orchester in der Ukraine geschlossen haben, ist er in Lwiw gelandet und entlastet seine älteren Kollegen, indem er das schwerste Instrument übernommen hat. 

Während die Musiker zusammenkommen, proben und marschieren, erleben wir das Alltagsleben in der Altstadt von Lwiw, das sich nicht besonders von dem in etwas weiter westlich gelegenen Städten wie Prag, Dresden oder Budapest unterscheidet. Doch Time to the Target zeigt in wenigen Szenen, wie fragil dieses Leben im Krieg auch 1000 Kilometer von der Front ist: In jedem Moment kann es Luftalarm geben. Einmal müssen die Besucher des Opernhauses sofort das Haus verlassen. Ein anderes Mal hören wir zusammen mit den Totengräbern, wie mit gewaltigen Detonationen ganz in der Nähe mehrere russische Raketen einschlagen. 

Chas pidlotu /Time to the Target von Vitaly Mansky
© Chas pidlotu

Vitaly Mansky ist für genaue und ausführliche, aber nicht für überlange Dokumentarfilme bekannt. Im anschließenden Gespräch erklärte er, warum sein neuer Film drei Stunden lang ist: Mansky wollte und will seinen Zuschauern darin bewusst etwas zumuten, sie sollen das Quälende der immer neuen Beisetzungen spüren.

Und das ist ihm gelungen: Während der Film im Wechsel der Jahreszeiten der Arbeit des Orchesters folgt, erleben wir mit, wie das Gräberfeld stetig weiterwächst. Wir sehen auf den Trauerfotos immer neue sympathische junge Leute und schauen immer wieder in die ratlosen Gesichter ihrer Altersgenossen, die zu den Bestattungsritualen abkommandiert wurden. Und wir ahnen, was in ihren Köpfen vor sich geht.

Vitaly Mansky berichtete am Schluss, wie dramatisch die Situation der Ukraine geworden ist: Die meisten Mitglieder seiner Militärkapelle wurden inzwischen mobilisiert. Der Titel seines Films bezeichnet übrigens die Zeit, die eine Rakete vom Abschussort bis zu ihrem Ziel braucht. Mansky sagt: von Russland bis Lwiw etwa fünf Minuten. Bis Berlin wären es ein paar Minuten länger. 

18. Februar 2025

Das waren fünf ganz besondere Minuten im Theater HAU Hebbel am Ufer. Das Festival hatte zur Eröffnung der Berlinale Talents eingeladen, der Nachwuchs-Workshop-Sektion mit mehr als 150 Teilnehmern aus aller Welt. Das Motto der Talents in diesem Jahr: „Listen Courageously – Cinematic Narratives in Times of Dissonance“. 

„Mutig zuhören‟ sollten wir einem Duo mit Überraschungsgästen: Auf der Bühne standen eine Tuba und ein Keyboard. Dahinter trat auf einmal die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle, während sich daneben Tom Tykwer, der Regisseur des Eröffnungsfilms der Berlinale, auf einen Stuhl setzte und die Tuba auf den Schoß nahm. Dann begann eine ‚Aufführung‘, in der die Beiden durch Blicke und Gesten miteinander kommunizierten. Tykwers Mund näherte sich mehrmals dem Mundstück seines Instruments, und Tuttle ließ immer wieder entschlossen ihre Hände über der Tastatur schweben. Doch Töne war nicht zu hören.  – Am Schluss verbeugten sich die beiden Performer und nahmen den begeisterten Beifall der jungen Film-Community entgegen. – Eine Performance in der Tradition des großen John Cage (mit seinem Klavierstück 4′33″), die Gelegenheit zum Beispiel für ein mutiges Zuhören in sich selbst hinein bot. 

Tricia Tuttle, Leiterin der Berlinale
© Richard Hübner / Berlinale 2024

Tom Tykwer, Autor und Regisseur von Das Licht
© Joachim Gern

Am Morgen hatte ich in einer Kino-Warteschlange unfreiwillig zugehört, wie sich drei Frauen über Tom Tykwers Das Licht unterhielten. Eine von ihnen hatte den ganzen Film gesehen, zwei nur Ausschnitte. Diese Beiden waren sich aber einig, dass ihnen der Film wohl nicht gefallen werde, weil er offenbar sehr klischeehaft sei; die dritte konnte und wollte sich noch nicht entscheiden. Ich musste darum bitten, nicht den gesamten Inhalt zu spoilern, weil ich den Film am Abend noch nachholen wollte.

Und? Hat Tom Tykwer wirklich einen klischeehaften Film gedreht? – Wie schon oft produziert Tykwer in Das Licht ein Amalgam aus aktueller gesellschaftlicher Realität, Magie und Fantasie, verbunden mit einem hohen Anspruch. Diesmal will er in mosaikartig montierten Episoden mit der Geschichte einer modernen Großstadtfamilie im linksliberalen Milieu auch ein Bild unserer Gesellschaft zeichnen. 

Das Licht:  Nicolette Krebitz, Tala Al-Deen, Elyas Eldridge, Tom Tykwer und Lars Eidinger bei der Eröffnungs-Gala der 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin
© Richard Hübner / Berlinale 2025

Tim (Lars Eidinger) arbeitet gegen seine früheren Überzeugungen für die ‚green-washende‘ PR-Abteilung eines Großunternehmens, seine Frau Milena (Nicolette Krebitz) kämpft als freie Mitarbeiterin für kulturelle Entwicklungsprojekte in Afrika und ist meist unterwegs. Ihr 17-jähriger Sohn lebt völlig losgelöst in seiner virtuellen Gamingwelt, während sich seine Zwillingsschwester mit ihren Freunden durch die Berliner Club-Nächte treiben lässt. Eine Haushälterin kümmert sich darum, dass dabei die Infrastruktur der Wohnung nicht zusammenbricht. Man sieht sich nur selten und zufällig; alle sind aus unterschiedlichen Gründen frustriert und sagen sich das bei gelegentlichen Ausbrüchen auch sehr deutlich. Mit der neuen Haushälterin Farrah, einer Geflüchteten aus Syrien, verändert sich alles. Sie betreut die Familienmitglieder wie eine Therapeutin und bringt einen merkwürdigen Lichtapparat mit, der offenbar das Bewusstsein aller verändern kann. Aber Farrah hat eine eigene Agenda…

Nach einer ziemlich langen Zeit, die ich mit „Babylon Berlin“ in den rauschenden 20er Jahren verbracht habe, darf ich mich endlich wieder unserer Gegenwart zuwenden. In DAS LICHT wird gestritten, gerungen und gekämpft, aber es wird auch gelacht, gesungen und getanzt. Der Film will das Spektrum der Gefühle und die entsprechenden erzählerischen Möglichkeiten herausfordern. Und die Figuren sind mir sehr vertraut. So will ich versuchen, ihre Zerrissenheit und gleichzeitige Verbundenheit für das Publikum zu spiegeln und spürbar zu machen.

Tom Tykwer

Eigentlich kann ich den drei Damen in der Warteschlange nicht widersprechen: Der Film bietet Dialoge, die eher als Abfolge von Monologen daherkommen, oft so unnatürlich und geschraubt formuliert, dass man in fast jedem Satz die Anstrengung und das Wirken des Drehbuchautor-Regisseurs Tykwer wahrnimmt: intelligente, manchmal auch witzige Einsichten in gesellschaftliche Prozesse, ironische und selbstironische Zuspitzungen, aber eben keine Dialoge, wie sie zwischen realen Menschen oder realistischen Protagonisten passieren. 

Und Raum für kreatives und mutiges Zuhören wie bei Tuttle und Tykwer in ihrer John Cage-Hommage lässt die Masse der präsentierten Drehbuchstatements schon mal gar nicht.

Nicolette Krebitz, Elyas Eldridge, Julius Gause, Elke Biesendorfer, Lars Eidinger in Das Licht von Tom Tykwer
© Frederic Batier / X Verleih

Trotzdem – und das ist doch ein kleines Wunder, wie es in Tykwers Filmen immer wieder vorkommt – habe ich zweidreiviertel Stunden lang gerne und ohne Langeweile Das Licht angeschaut.

Warum? – Weil Tykwer wie immer eine tiefe Sympathie und Empathie für seine Figuren empfindet, die wir als Zuschauer auch durch die gestelzten Dialoge hindurch spüren. Und weil es den Darstellern offenbar genauso ging und sie sich dadurch besonders intensiv in ihre Figuren einfühlen konnten – neben Eidinger und Krebitz sind das vor allem Tala Al-Deen als Haushälterin und Elke Biesendorfer als Tochter.  Und weil Tom Tykwer uns – das heißt, diejenigen, die für seine Ästhetik empfänglich sind – mit starken Bildern (Christian Almesberger) und einem suggestiven Soundtrack (Co-Komponist Tykwer) in deren (Er-)Lebenswelten eintauchen lässt. 

Interessant, aber weniger wichtig finde ich die stilistischen und formalen Wechsel, mit denen Tykwer arbeitet. So springt er einige Male ins Musical-Genre (wie Emilia Pérez oder Lars von Triers Dancer in the Dark) und nutzt die Gattungen Animationsfilm und Musikvideo, anknüpfend an seinen Box-Office-Hit Lola rennt (1998).  

Julia Jentsch, Felix Kramer in Was Marielle weiß
© Alexander Griesser

Einen echten Gegenentwurf zu Tom Tykwer, wie man im Kino mit dem Unerklärlichen und Phantastischen umgehen kann, bietet Was Marielle weiß von Frédéric Hambalek.  

Eine recht gut funktionierende Familie der oberen Mittelklasse gerät aus dem Gleichgewicht, als die Tochter Marielle (Laeni Geiseler) nach dem Schlag einer Mitschülerin plötzlich telepathische Fähigkeiten besitzt. So lange es geht, stemmen sich die Eltern mit Tricks und Unwahrheiten gegen die Folgen. Doch die kleinen und größeren Alltagslügen fliegen auf: Es kommt heraus, dass Julia, die Mutter (Julia Jentsch), mit einem Arbeitskollegen explizite Sexphantasien teilt und Tobias, der Vater (Felix Kramer), in seinem Job doch nicht der souveräne Zampano ist, als den er sich zu Hause darstellt. 

Laeni Geiseler in Was Marielle weiß
© Alexander Griesser

Ja, so kann man es auch machen: Der 1986 geborenen Frédéric Hambalek benutzt in seinem zweiten Spielfilm die Telepathie Marielles als Katalysator für innerfamiliäre Prozesse, die am Ende in einer Art Katharsis die wichtigsten Wunden und Brüche heilen. Eigentlich ähnlich wie in Das Licht. Doch Tom Tykwer traut sich was, bricht und überdehnt filmische Regeln, remixt Gattungen und Genres und macht sich dadurch haft- und angreifbar. Die negativen Kritiken über Das Licht zeigen es.   

Im ‚Kleinen Fernsehspiel‘ Was Marielle weiß wird das magische Ereignis dagegen nach allen Regeln der Drehbuchkunst fernsehtauglich gemacht: psychologisch glaubhaft, ein bisschen provokant (‚dirty language‘), aber auch nicht zu sehr, handwerklich sauber in Fotografie, Setting und Schnitt. – Risiko: keins.  

Mit dem filmischen Ergebnis wird Frédéric Hambalek in den öffentlich-rechtlichen und den privaten TV-Redaktionen ganz bestimmt schnell seine nächsten Auftraggeber finden. – Schön für ihn. Nach dem, was Bert Rebhandl gerade für tipBerlin über ihn schrieb, scheint Hambaleks selbst finanziertes No-Budget-Spielfilmdebüt Modell Olimpia wesentlich spannender zu sein. Den Film möchte ich sehen! 

Vielleicht hätte ZDF/Das kleine Fernsehspiel in der Tradition der Redaktion dem Autor/Regisseur Hambalek einen mutigeren zweiten Spielfilm ermöglichen können. Oder wollte der das gar nicht?

weitere Beiträge