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Ansichtskarte vom „Vierländereck“ Niederlande, Belgien, Deutschland, Neutral-Moresnet

Neutral-Moresnet – Ein kleines Land und die große Politik

Eine Reminiszenz

von Werner Biedermann

Auf die Zwergstaaten dieser Welt fühlte ich mich nach meiner Schulzeit gut vorbereitet. Schließlich wurde ich in der Volksschule vom Lehrer Bodo Marquardt unterrichtet. Er war über viele Jahre unser Universallehrer, der uns in allen Fächern, außer in Religion, unterrichtete. Lehrer Marquardt hatte eine Leidenschaft: die Zwergstaaten der Welt zu besuchen. Jeden Urlaub verbrachte er in einem anderen Land: Andorra, Monaco, Liechtenstein und Luxemburg, Vatikanstaat und San Marino. Nach den Schulferien erfreute er uns mit Dia-Vorträgen über die Sehenswürdigkeiten dieser Länder. Am Rande wurden jeweils auch das politische System oder geografische Gegebenheiten erwähnt. Inwieweit diese Vorträge mit den Lehrplänen kompatibel waren, weiß ich nicht, aber Lehrer Marquardt hat mit großer Begeisterung unsere Aufmerksamkeit auf die Zwergstaaten der Welt gelenkt. Über die großen Nationen, wie die USA, die VR China oder die Sowjetunion, hörte man ja sowieso ständig etwas in den Nachrichten.

Nachdem wir die europäischen Kleinstaaten durchgenommen hatten, ging unser Lehrer wehmütig zu den Klein- und Kleinst-Territorien der restlichen Welt über. Mit großem Bedauern, wohl weil er diese Staaten nicht besuchen konnte, berichtete er uns ohne Lichtbilder – und mit vermutlich angelesenem Wissen – vom Königreich Lesotho, das vollständig von Südafrika umschlossen ist. Weiter vom polynesischen Königreich Tonga im Südpazifik, das nie von Kolonialmächten besetzt wurde. Tonga ist eine konstitutionelle Erbmonarchie, und sein voluminöser König Taufa’ahau Tupou IV. war sogar einmal zum Staatsbesuch in Deutschland. Lehrer Marquardt erzählte uns von Sikkim, das von 1641 bis 1975 ein Königreich im Himalaya-Gebirge war und heute ein indischer Bundesstaat ist.

So vorbereitet auf die Geografie unserer Erde, nahm ich – infiziert mit dem ‚Zwergstaatenvirus‘ unter anderem zur Kenntnis, dass Großbritannien seine Kolonie Tuvalu (ein Inselstaat im Pazifischen Ozean) 1974 in die Unabhängigkeit entließ. Tuvalu erlangte 1996 eine gewisse Bekanntheit, weil die landesspezifische Domain „.tv“ weltweit eine top level domain ist. Diese ließ sich lukrativ an zahlreiche Fernsehsender in aller Welt vermarkten und trug wesentlich zu den Einnahmen des Landes bei.

Ein Land hatte unser Zwergstaaten-kundiger Lehrer Marquardt allerdings übersehen: Neutral-Moresnet.

Unterwegs in Ostbelgien

Vor Jahren nahm ich an einem EU-Seminar mit Besuch des Europa-Parlaments in Brüssel teil. Während der Busfahrt durch Belgien erläuterte uns der Reiseleiter einige Besonderheiten am Wegesrand:

Westwall bei Aachen

den Westwall, ein 630 km langes militärisches Verteidigungssystem entlang der Westgrenze des damaligen Deutschen Reiches, um sich mit Panzersperren aus Beton vor Angriffen aus dem Westen zu schützen…

Amerikanischer Soldatenfriedhof bei Henri-Chapelle

…den amerikanischen Soldatenfriedhof mit einer Gedenkstätte in der Nähe der belgischen Ortschaft Henri-Chapelle…

…und: den einstigen Zwergstaat Neutral-Moresnet bei Aachen, kurz hinter der deutsch-belgischen Grenze.

Was? Ein Mikrostaat sieben Kilometer hinter der deutschen Grenze? Warum hatte ich, dessen weltweite räumliche Orientierung sich nach Zwergstaaten ausrichtet, noch nie etwas davon gehört? Warum hatte uns Lehrer Marquardt nie etwas davon berichtet? Vermutlich, weil es dieses Land seit 1919 nicht mehr gab und die Informationen darüber – vor allem im vordigitalen Zeitalter – dünn gesät waren.

Lage der Gemeinde Kelmis im Dreiländereck Belgien – Deutschland – Niederlande

So begab ich mich zu dem Ort Kelmis neun Kilometer südwestlich von Aachen, im deutschsprachigen Teil Belgiens, und besuchte das dortige Göhltalmuseum in der Villa Bruch, eine Art Heimatmuseum, das sich mit der Vergangenheit von Kelmis und der Provinz Lüttich beschäftigte. Hier gab es auch einige Relikte zur Geschichte von Neutral-Moresnet. Ich lernte etwas über die Besonderheiten des Landes, der Informationsgehalt war jedoch eher gering. Immerhin erfuhr ich, dass dieses Land nur 3,5 Quadratkilometer groß war – aber siebenmal größer als der heutige Vatikanstaat.

Das Göhltalmuseum gibt es nicht mehr. Stattdessen wurde 2018 im ehemaligen Direktionsgebäude der Zinkgrube von Moresnet das Museum Vieille Montagne (deutsch: Altenberg) eröffnet – größer, schöner und moderner als sein Vorgänger. Im Juni 2025 unternahm ich eine weitere Reise nach Kelmis, und der Direktor des Museum Vieille Montagne, Jan Sabri Cetinkaya, nahm sich viel Zeit, mich umfassend zu informieren und mich durch die Moresnet-Ausstellung zu führen, die sich über zwei Etagen erstreckt.

Das Museum Vieille Montagne in Kelmis

Am Anfang war der Galmei

Alles begann mit Flora-kundigen Biologen aus der Römerzeit. Diese Botaniker erkannten, dass bestimmte Pflanzengruppen Rückschlüsse auf die Bodenbeschaffenheit zulassen. Die sogenannte Galmei-Grasnelke, die Galmei-Frühlinks-Miere, das leuchtend gelbe Veilchen und das Taubenkropfkraut lassen auf schwermetallhaltige Böden schließen. So wurden schon von den Römern in der Gegend um das heutige Kelmis/Moresnet Bodenschätze am Altenberg abgebaut.

Jean-Jacques Daniel Dony war ein Chemiker und Erfinder mit Visionen. 1805 übertrug ihm Kaiser Napoleon die alleinigen Rechte zur Ausbeutung des Galmei-Vorkommens in der Mine am Altenberg. Im Gegenzug verpflichtete er sich, Öfen zu entwickeln, mit denen man Galmei zu metallischem Zink reduzieren konnte. 1809 erbat er sich vom Kaiser das Patent auf den von ihm entwickelten Muffelofen zur Zinkgewinnung. Als Dank für das am 19. September 1810 erteilte Erfinderpatent baute er für Napoleon eine beheizbare Zinkbadewanne, die der Herrscher auf seinen Feldzügen mitnahm.

Reisebadewanne aus Zink im Museum Vieille Montagne

Ab 1813 war Dony wegen Geldschwierigkeiten gezwungen, Partnerschaften einzugehen. Die Kunden waren zunächst skeptisch gegenüber der neuen Zinkmetallurgie, so dass er 1819 seinen Bankrott erklären musste. Den Betrieb übernahmen der Bankier Dominique Mosselman und seine Kinder, die mit der Banque de Belgique die Société Anonyme des Mines et Fonderies de Zinc de la Vieille Montagne gründeten. Durch Beziehungen von Mosselmans Ehefrau Le Hon-Mosselman nach Paris ergaben sich Geschäftsbeziehungen, die dort zu Zinkpaneelen in zahlreichen Dachetagen der wohlhabenderen Viertel führten. Die Geschäfte florierten wieder.

Die Wurzeln von Neutral-Moresnet hängen also ursächlich mit dem reichhaltigen Galmei-Vorkommen zusammen. Galmei ist die heute wenig gebräuchliche Bezeichnung für eine Erzmischung aus Zinkkarbonat (Smithonit) und Zinksilikaten (Hemimorphit beziehungsweise Willemit), das in der Folge von Jean-Jacques Daniel Dony und von der Bergbaugesellschaft Vieille Montagne/Altenberg – zunächst im Tagebau – gefördert wurde. Dieser Grundstoff war für die Zink- Kupfer- und Messingherstellung unentbehrlich. Zink ist ein Metall, das nicht rostet und sich daher wunderbar zur Hausbedachung verwenden lässt. Weiter kann man es zu Dachrinnen, Waschbrettern, in Schiffsrümpfen oder zu Gießkannen verarbeiten. Das Vorkommen war so reichhaltig, dass die Bergbaugesellschaft Vieille Montagne in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die größte Zinkmine der Welt wurde.

Zinkwerke Neutral-Moresnet um 1850, Lithografie von Adolphe Maugendre

Das immense Rohstofflager sorgte für die wachsende Prosperität des Ortes. Unter dem Einfluss der Bergwerksgesellschaft wurden eine katholische und eine evangelische Kirche, eine Sparkasse und eine Schule in der Nähe des Abbaugebietes gebaut. Auch der Bedarf an Wohnraum stieg an. Verantwortlich für die wachsende Bevölkerungszahl in Moresnet waren die benötigten Arbeitskräfte. 1816 lebten hier – verteilt auf 56 Häuser – lediglich 256 Menschen. Der wirtschaftliche Aufschwung lockte immer mehr Arbeitskräfte an, und die Einwohnerzahl stieg bis zum Jahr 1914 auf 4.668 an. Die Männer und Frauen hatten dank der Zinkmine sichere Arbeitsplätze. Wenn es allerdings um die sozialen Rechte der Minenarbeiter ging, zeigte sich die Bergwerksgesellschaft nicht sonderlich arbeitnehmerfreundlich. 1901 wollten einige Arbeiter mehr Lohn und mehr Mitbestimmung und traten in den Gewerkschaftsverein christlicher Bergarbeiter Deutschlands ein. Der Bergwerksgesellschaft gelang es, das zu unterbinden. Sie berief sich auf ein Gesetz der Französischen Republik aus dem Jahr 1794 (!), dem „Les Chapelier-Gesetz“, das den Zusammenschluss von Arbeitern in Gewerkschaften verbot. So war die Gewerkschaft gezwungen, in die Illegalität abzutauchen.

Aber die Zeiten änderten sich. Die Mine wurde wirtschaftlich sehr erfolgreich betrieben. 1857 zählte die Bergbaugesellschaft Vieille Montagne 1.258 Arbeiter und Arbeiterinnen, die bei der „Erzwäsche“ oder an den Zinköfen ihr Geld verdienten, und Neutral-Moresnet, wie es inzwischen hieß, hatte schon 2.572 Einwohner. Die Bergbaugesellschaft zeigte sich aufgeschlossener gegenüber ihren Beschäftigten, Bezahlung und Versorgung waren gut, und man war sozialer eingestellt. Die Mine bezahlte die Priester, den Schullehrer, einen Arzt und sorgte für eine Apotheke. Es wurde eine Hilfskasse für kranke oder invalide Arbeiter eingerichtet, und man finanzierte ein Altenheim und ein Waisenhaus in Cointe bei Lüttich.

Auch für ungewollt schwangere und unverheiratete Frauen aus den Nachbarländern war Neutral-Moresnet eine Anlaufstelle. Eine Hebamme half ihnen, dort ihre Kinder zur Welt zu bringen, und die Frauen kehrten zurück in ihre Heimatländer. Die Babys wurden als sogenannte ‚Ziehkinder‘ von lokalen Familien aufgenommen und aufgezogen.

Die glorreiche Industriegeschichte von Neutral-Moresnet endete 1895, als die Gesellschaft Vieille Montagne den Galmeibergbau einstellte.


Neutral-Moresnet auf einer Postkarte um 1900

Der Kongress tanzt – und hat ein Problem

Der Ursprung einer Art Staatsgebilde mit dem Namen Neutral-Moresnet ging letztlich auf einen Streitfall bei der Festlegung neuer Grenzen nach der französischen Revolution und dem Untergang des französischen Kaiserreichs unter Napoleon Bonaparte zurück. Der französische Kaiser hatte die politische Landkarte des Kontinents durch seine Feldzüge zugunsten Frankreichs umgestaltet. Der Wiener Kongress, der vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 in der österreichischen Hauptstadt stattfand, legte zahlreiche europäische Grenzen neu fest, schuf neue Staaten und versuchte im Rahmen einer neuen Friedensordnung eine Gleichgewichtslage zwischen den Mächten herzustellen.

Unter der Leitung des österreichischen Außenministers und Staatskanzlers Fürst Klemens von Metternich berieten rund 200 Politiker, Beamte und Staatsoberhäupter aus den verschiedensten Nationen Europas, wie auch Vertreter von Körperschaften und Städten. Die österreichische Regierung versuchte als Gastgeber den Aufenthalt der Kongressteilnehmer so angenehm wie möglich zu gestalten. Die zahlreichen Freizeitvergnügungen und ausschweifenden Bälle veranlassten Charles Joseph Fürst von Ligne in einem Brief vom 1. November 1814 an den französischen Diplomaten Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord zu der Bemerkung: „Man schreibt mir das Wort zu: ‚Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts.‘ Es sickert auch nichts durch, als der Schweiß dieser tanzenden Herren. Ich glaube auch gesagt zu haben: ‚Dies ist ein Kriegskongress, kein Friedenskongress.‘“

Nach neun Monaten und zähen Verhandlungen war das ausufernde Politspektakel vorüber. Mitte des Jahres 1815 hatte man eine Art Vertrag. Aber es gab ein ungelöstes Problem. Der Artikel 25 der Kongressakte legte die preußische Westgrenze fest, der Artikel 66 die niederländische Ostgrenze. Das Dilemma war: In Höhe der Gemeinde Moresnet passten die Grenzziehungen nicht zueinander. Es blieb eine Lücke von bis zu zwei Kilometern. Just in dieser Lücke lag die Mine, die das begehrte Zinkerz förderte. Preußen und die Niederlande erhoben beide Anspruch auf das Gebiet.

Beilagenkarte zum Aachener Grenzvertrag von 1816

Der Streit wurde beim Wiener Kongress nicht entschieden. Es gab einen dürftigen Kompromiss, der von rund 50 Delegierten der Könige Preußens und der Niederlande in knapp zwei Monaten in Aachen verabschiedet wurde. Die beim Wiener Kongress ausgehandelten Grenzen wurden beibehalten. Mit dem sogenannten Aachener Grenzvertrag (Traité des Limites) vom 26. Juni 1816 wurden um das Gebiet rund um die Zinkmine Grenzen gezogen. Provisorisch setzte man Holzpfähle, um die Grenze sichtbar zu machen. Diese Pfähle wurden 1869/70 durch 60 nummerierte Grenzsteine ersetzt.

„Karte des neutralen Gebiets bei Aachen“, aus den Akten der preußischen Verwaltung, 1887

Steuerparadies im Niemandsland

Keine der Siegermächte wollte der anderen die alleinige Ausbeutung der Zinkmine zugestehen. Daher wurde der Zankapfel ein neutrales Gebiet „ohne rechtlichen Status“ und „vorläufig“ der gemeinsamen niederländisch-preußischen Verwaltung unterstellt. Jede der beiden Parteien setzte zur gemeinsamen Verwaltung des exterritorialen Gebiets einen Königlichen Kommissar ein. Ein ‚neutrales Territorium‘ ist ein militärischer und kein politischer Begriff, der in der internationalen Rechtsliteratur nicht vorkommt. Ein machtpolitisches Kuriosum war geboren, das der internationalen Presse nicht verborgen blieb. So berichtete die britische Tageszeitung The Alnwick Mercury am 6. August 1881 unter der Schlagzeile „A FORGOTTEN TERRITORY“ von diesem ‚vergessenen Land‘.

Wappen von Neutral-Moresnet
Inoffizielle Flagge von Neutral-Moresnet
Altes Logo des Bergwerks Vieille-Montagne

Da keiner der beiden Staaten zuließ, dass in Neutal-Moresnet das Recht des jeweils anderen Gültigkeit hat, blieben die Gesetze, die bis zum Wiener Kongress gegolten hatten, in Kraft. Es galt also der Code Civil (das Bürgerliche Gesetzbuch von 1804) und der Code Pénal (das Strafgesetzbuch von 1810), besser bekannt als Code Napoléon, das Recht des soeben verflossenen napoleonischen Kaiserreichs. Darüber hinaus gab es keine Gesetze. Die für einen normalen Staat damals wie heute sehr wichtigen Steuern auf Alkohol und Lebensmittel wurden außer Acht gelassen. So gab es plötzlich zwischen Preußen und den Niederlanden ein kleines Steuerparadies. Bei ihren Einkäufen durften die Bewohner mit preußischem, niederländischem oder französischem Geld bezahlen. Für Recht und Ordnung sorgte vor Ort lediglich ein einziger Gemeinde-Gendarm, der von der Bergbaugesellschaft Vieille Montagne bezahlt wurde.

Schild der Bürgermeisterei Moresnet in Kelmis

Neutral-Moresnet überstand die belgische Revolution von 1830, als sich die südlichen Niederlande zum Staat Belgien erklärten. Auch der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 ließ das neutrale Gebiet unangetastet. Vor Ort regelten ein vom niederländischen (und ab1830 belgischen) und vom preußischen Kommissar ernannter Bürgermeister und ein Gemeinderat die lokalen Belange. Natürlich hatte die Bergbaugesellschaft bei allen wesentlichen Entscheidungen ein gewichtiges Wort.

Belgien und Preußen betrachteten Neutral-Moresnet als Inland, daher konnten Waren, wie etwa Lebensmittel, zollfrei eingeführt werden. Umgekehrt war alles, was ausgeführt wurde, zollpflichtig. Das förderte den Schmuggel, und so entstanden in vielen Kellern von Neutral-Moresnet Schnapsbrennereien. Die legalen und illegalen Geschäfte florierten, und sogar Prostituierte entdeckten den Zwergstaat für ihr Geschäft.

In Neutral-Moresnet gab es zeitweise über 60 Kneipen, denn es gab preiswertes, da steuerfreies Bier. Ein munteres Vereinsleben mit Karnevalsveranstaltungen, mit Schützen-, Turn-, Musik- und Liederfesten bestimmte das Freizeitvergnügen. Als Belgien im Jahr 1902 das Glücksspiel verbot, gründete man im örtlichen Hotel Bergerhoff ein Spielcasino. Nach dem napoleonischen Code Civil war das erlaubt. So kamen Spieler aus den Nachbarstaaten, und das Leben in Neutral-Moresnet wurde lebhafter, bunter und internationaler. Auch junge Männer aus den Nachbarländern nutzten den rechtlichen Freiraum. Sie ließen sich einbürgern und „neutralisieren“, wurden so staatenlos und kamen um den Militärdienst in ihren Heimatländern herum.

Postkarte, nach 1886

Doktor Molly und Professor Roy

Eine illustre Persönlichkeit in diesem kleinen Land war der 1838 im preußischen Wetzlar geborene Mediziner Dr. Wilhelm Molly. 1863 wurde er Betriebsarzt der Minengesellschaft Vieille Montagne. Daneben eröffnete er eine Hausarztpraxis im Ort Kelmis. Der Arzt war sehr beliebt bei den Arbeiterfamilien, denn er behandelte arme Patienten ohne Bezahlung. Dr. Molly war begeisterter Briefmarkensammler und setzte sich dafür ein, dass Neutral-Moresnet eine ‚richtige Nation‘ werden sollte, mit Nationalflagge, Wappen, Nationalhymne – und eigenen Briefmarken. Wer einen Brief verschicken wollte, musste belgische oder deutsche Briefmarken verwenden und sich ins ‚Ausland‘ begeben, denn Neutral-Moresnet hatte kein Postamt und keine Postboten. Das wollte Dr. Molly ändern.

Briefmarken der Kelmiser Verkehrs-Anstalt für das „Territoire neutre de Moresnet“

Mit Gleichgesinnten gründete er die Privatpost Kelmiser Verkehrs-Anstalt. So erschienen am 1. Oktober 1886 sechzehn – in Paris gedruckte – Briefmarken mit Wertangaben in Pfennigen. Die für Neutral-Moresnet verantwortlichen Kommissare reagierten schnell und verboten schon am 19. Oktober 1886 die Marken und die Tätigkeit der Kelmiser Verkehrs-Anstalt mit Hinweis auf das in Neutral-Moresnet geltende alte französische Recht, das ein staatliches Postmonopol vorsah.

Dr. Molly kurbelte ein letztes Mal das Briefmarkengeschäft an und verkaufte die Marken bogenweise an Pariser und Brüsseler Briefmarkenhändler. Noch heute sind diese Marken wertvolle Sammlerstücke, da sie nur gut 14 Tage im Umlauf waren.

Diese Aktion hat Dr. Molly nicht geschadet, er wurde noch populärer und war so etwas wie ein Held in Neutral-Moresnet. Zwanzig Jahre später schaffte er es noch einmal, die Weltpresse auf den Zwergstaat aufmerksam zu machen. 1906 erschien bei ihm der Aachener Gymnasialprofessor Gustave Roy. Professor Roy war ein früher Anhänger der Kunstsprache Esperanto, die 1887 von dem polnischen Augenarzt Lazarus Ludwik Zamenhof entwickelt wurde. Roy unterbreitete Molly den Plan, das neutrale Gebiet in einen Esperanto-Staat umzuwandeln. Dr. Molly griff begeistert die Idee auf und erlernte in wenigen Wochen Esperanto. Professor Roy und Dr. Molly kontaktierten die Presse in aller Welt, und Kelmis sollte in der neuen Sprache „Amikejo“ (Ort der großen Freundschaft) heißen.

Die Esperanto-Gruppe von Amikejo a.k.a Neutral-Moresnet

Vor Ort fanden sich weitere Befürworter für diese Idee, und einige Läden zeichneten ihre angebotenen Waren sogar in Esperanto aus. Die erste Strophe der Nationalhymne von Neutral-Moresnet – nach der Melodie des Weihnachtsliedes Oh Tannenbaum – war auf Deutsch und begann mit der Zeile: „Oh Altenberg, Oh Altenberg, du kannst mir sehr gefallen.“ Die zweite lautete auf Esperanto: „Nova vorto flugas tra la mondo, En Esperantujo jam konata; Amikejo eĥas en la rondo, Vort‘ de tiuj ĝoje akceptata.“ Zu Deutsch: „Ein neues Wort fliegt durch die Welt, das auf Esperanto bereits bekannt ist. Eine freundliche Stimme hallt im Kreis, ihre Worte werden freudig aufgenommen.“

Doch ausgerechnet auf dem Esperanto-Weltkongress 1908 in Dresden gab es Gegenwind. Namhaften Esperantisten war ein Esperanto-Staat eine zu politische Idee. Auch den königlichen Kommissaren für Neutral-Moresnet gefiel diese Entwicklung nicht. Die Esperanto-Staat-Euphorie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Der Aktivist Dr. Molly starb 1919 und wurde auf dem evangelischen Friedhof in Neutral-Moresnet beerdigt. Auf seinem Grabstein steht: „Geheimer Sanitätsrat Dr. W. Molly. 1838 – 1919, 58 Jahre im treuen Dienst am Nächsten“.

Postkarte mit Grüßen vom „Vierländereck“


Mit Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 wurde Neutral-Moresnet von Deutschland militärisch besetzt und nach Ende des Krieges 1918 dem Staat Belgien zugesprochen. Am 10. Januar 1920 trat der Versailler Vertrag in Kraft, und Neutral-Moresnet hörte auf zu existieren.

103 Jahre bestand das erstaunliche Konstrukt. In all den Jahren hatte niemand die Einwohner des Gebietes gefragt, was sie selbst möchten. Die große Politik hatte immer wieder über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden.

Das einzigartige politische und soziale Kleinod Neutral-Moresnet verdiente es durchaus, als immaterielles Kulturerbe auf den UNESCO-Listen zu stehen.

Museum Vieille Montagne

Lütticher Straße 278, B-4720 Kelmis

https://mvm-kelmis.be/de/

Werner Biedermann mit Jan Sabri Cetinkaya, Direktor des Museums Vieille Montagne

Die Dauerausstellung des Museums Vieille Montagne in Kelmis zeigt, zeitgemäß aufbereitet, die Geschichte von Neutral-Moresnet. Differenziert werden die Exponate auf mehrsprachigen Schrifttafeln erläutert. Methodisch interaktiv können auch schon Kinder und Jugendliche die Historie kennenlernen. Es gibt eine Museums-Rally, die zu einem ganzheitlichen und handlungsorientiertem Verstehen beiträgt. Ergänzend zeigt das Museum immer wieder Sonderausstellungen zu Themen wie z. B. „Grenzüberschreitung“ mit Exponaten von 19 Künstlerinnen aus vier Ländern oder zuletzt „Comic Art @ MVM“ mit Comic-Kunst aus Belgien mit sechs Künstlern und Künstlerinnen aus der Region.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag  von 10 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag von 11:30 bis 17 Uhr

Eintrittspreise inkl. Audioguide DE/FR/NL/EN: Erwachsene 7,50 €, Kinder (7 -16 Jahre) 5 €, Kinder (0 – 6 Jahre) 0 €, Rentner und Studenten 6 €, Personen mit Beeinträchtigung 6 €, Gruppen (ab 8 Personen) 5 € pro Person, Schulgruppen gratis im Rahmen einer bezahlten (vorab gebuchten) Führung, Familien 21,50 € (max. 2 Erwachsene und 3 Kinder). Kostenloser Eintritt mit MuseumPASSmusées, Passeport 365, Carte Prof, Leerarenkaart, ICOM-Karte. Ermäßigung 20%: Pass Province de Liège Tourisme.

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Das Museum Vieille Montagne stellt sich vor


  • Werner Biedermann

    Dipl.-Designer, Autor von Filmfachpublikationen, Regie bei vier abendfüllenden und zahlreichen Kurzfilmen, 20 Jahre Leitung des Kommunalen Kinos in Essen, zwei Amtsperioden im Vorstand des Filmbüro NW e.V.

Bildnachweise

Ansichtskarte vom „Vierländereck“ Niederlande, Belgien, Deutschland, Neutral-Moresnet / Reisebadewanne aus Zink / Die Esperanto-Gruppe von Amikejo / Postkarte mit Grüßen vom „Vierländereck“: © Museum Vieille Montagne

Westwall bei Aachen / Werner Biedermann mit Jan Sabri Cetinkaya: © Mariele Rupieper

Amerikanischer Soldatenfriedhof bei Henri-Chapelle / Das Museum Vieille Montagne in Kelmis / Schild der Bürgermeisterei Moresnet in Kelmis: © Werner Biedermann

Lage der Gemeinde Kelmis: © El Bubi, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons

„Galmey“ aus Altenberg/Moresnet: © Montanhistorisches Dokumentationszentrum, Bochum – CC BY-NC-SA

Zinkwerke Neutral Moresnet um 1850 / Neutral-Moresnet auf einer Postkarte um 1900 / Wappen von Neutral-Moresnet / Inoffizielle Flagge von Neutral-Moresnet / Altes Logo des Bergwerks Vieille-Montagne: Public domain via Wikipedia

alle anderen Abbildungen: Public domain / unbekannt

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ARTE Crazy Borders: Neutral-Moresnet in 11 Minuten erklärt

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Goethe Institut: Neutral-Moresnet in 3 Minuten erklärt
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