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Aus der grauen Welt der Mitmacher

Sieben Anmerkungen zum neuen Buch von Christoph Hein:

Das Narrenschiff

von Wolfgang J. Ruf

Der aus der DDR stammende Christoph Hein hat ein monumentales Epos zur Deutschen Demokratischen Republik, von ihrer Gründung bis zu ihrem Untergang, vorgelegt. Wolfgang J. Ruf hat es gelesen und setzt sich mit ihm unter verschiedenen Aspekten auseinander. Sein Fazit: Wer über die DDR Bescheid wissen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

I

Vor einiger Zeit war ich zu Besuch an der Schule, an der ich einst das Abitur ablegte. Man hatte mich eingeladen, in einer Gesprächsrunde zur Berufsberatung Fragen zu beantworten und Tipps zu geben. Da saßen mir drei durchaus aufgeweckte 17-Jährige gegenüber, die sich besonders für Geschichte interessierten. Ob ich ihnen mal kurz erklären könnte, was eigentlich die DDR war, fragte der eine. Unser Geschichtslehrer meinte, das sei ein Teil von Deutschland gewesen, wo viele mit Russen befreundet waren, sagte ein anderer. Etwas verdutzt habe ich da wohl schon dreingeschaut, denn das Gespräch fand an einem nach wie vor renommierten Gymnasium statt, in einer südwestdeutschen Großstadt, die von jeher bildungsbürgerlich geprägt ist.

Der Ost-Berliner Schriftsteller Stefan Heym, der für die PDS noch in den gesamtdeutschen Bundestag einzog, hatte schon 1990 das Ergebnis der ersten freien Wahlen in der DDR mit folgenden Worten kommentiert: „Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte.“ Sein jüngerer Kollege Christoph Hein sagte erst kürzlich: „Von der DDR wird nichts bleiben. Sie wird vergessen werden wie die Bauernkriege.“ Er sagte das allerdings in einem Gespräch (SPIEGEL 15/2025) anlässlich seines neuesten Buchs Das Narrenschiff, in dem er die Geschichte der DDR von ihrem Beginn bis zu ihrem Ende mit den literarischen Möglichkeiten eines großen Gesellschaftsromans zu erfassen trachtet – ein bei allen Brüchen, Aussparungen und Unzulänglichkeiten doch beindruckend monumentales Erinnerungs- und Entdeckungswerk. Bei der Lektüre des 750 Seiten-Wälzers fragte ich mich aber immer wieder, ob die ratlosen Schüler von heute, denen ich unlängst begegnete, hier eine schlüssige Antwort finden könnten.

II

Die Hauptfiguren des Romans, vom Verlag dankenswerterweise auf ein Lesezeichen gedruckt und dem Buch beigegeben.

Einige der wichtigsten Personen, über deren Leben Hein von der Gründung der DDR bis zum Mauerfall berichtet, tragen alle ihr Stück Vergangenheit mit sich, das ihr Verhalten im Heute entscheidend beeinflusst. Karsten Emser hat im Moskauer Exil erlebt, wie Stalins ‚Säuberungen‘ Genossen und Freunde von seiner Seite rissen. Er hat geschwiegen und schweigt noch immer über diese Zeit. Johannes Goretzka wurde in sowjetischer Kriegsgefangenschaft vom Nazi zum Kommunisten; auch er schweigt über sein früheres Leben, wohl immer in der Angst, dass es aufgedeckt werden könnte. Benaja Kuckuck, der gesprächsfreudigste dieser drei, die sich regelmäßig treffen, ist im britischen Exil in die Kommunistische Partei eingetreten; nun bleibt ihm deswegen im deutschsprachigen Westen ein Lehrstuhl verwehrt, und in der DDR gilt er wegen seiner Exiljahre im Westen als unzuverlässig. Widerwillig akzeptiert er die Berufung zum Referatsleiter für Kinder- und Jugendfilm in der Hauptverwaltung Film im Kulturministerium, später wird er Herausgeber der kulturellen Wochenzeitung Sonntag. Dabei ist er stets darauf bedacht, mit seiner Homosexualität diskret umzugehen, denn trotz liberaler Gesetze ist er gegen die Ablehnung, die nach wie vor in den Köpfen steckt, nicht gefeit. So sind diese drei gezeichnet, wenn nicht gar gebrochen, und werden zu willigen Mitmachern des herrschenden Systems.

Als Johannes Goretzka mit seiner realistischen Ansicht zur ökonomischen Entwicklung bei der Parteispitze aneckt, wird er von seinem Posten entbunden, nochmals auf eine Parteischule geschickt und dann auf eine unbedeutende Stelle versetzt. Mit der Faust in der Tasche nimmt er das hin. So vergleichsweise sanft konnte in der DDR der Sturz eines leitenden Funktionärs auch ausfallen. In der Realität wurde etwa der Generaldirektor der DEFA-Filmstudios, Joachim Mückenberger, 1966, nachdem zwölf DEFA-Filme vom 11. Plenum des ZK der SED verboten worden waren, abgesetzt und auf die Leitung der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci abgeschoben. Aber es ging auch anders: Walter Janka, zunächst auch DEFA-Direktor und dann Leiter des Aufbau-Verlags, wurde in einem Schauprozess 1957 wegen seiner Forderung nach mehr Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt; der Schriftsteller Erich Loest wegen seiner Beteiligung an Debatten über die Entstalinisierung 1958 zu mehr als sieben Jahren verschärfter Haft – Durch die Erde ein Riss, sein Bericht über diese Erfahrung, der zuerst 1981 im Westen erschien, ist noch immer ein erschütterndes Stück Aufklärung über die Realität im deutschen Osten von damals.

Aber solche Opfer hat Hein hier ebenso wenig im Blick wie andere Tabuzonen der DDR-Wirklichkeit. Ihm geht es vor allem um eine aufmerksame – weder allzu verständnisvolle, noch nur verurteilende – Schilderung der Nomenklatura der SED und ihrer Blockparteien und deren Versuch, sich wider besseres Wissen an die immer fragwürdiger werdenden Verhältnisse anzupassen, um die eigene privilegierte Existenz und die ihrer Angehörigen nicht zu gefährden. Dieses Schweigen über das selbst Erlebte und die Zurückhaltung der eigenen Meinung, sei sie noch so begründet, liegt wie ein Schleier über dem Geschehen. Man ahnt den Mehltau über dem ganzen Land. Hein versteht es immer wieder, diese graue Welt eindringlich und doch fast wie nebenbei zu beschwören, so wie in dieser Szene: Als Karsten Emser dem Drängen seiner Frau Rita nachgibt und sich um einen Ferienplatz auf der geheimnisvollen Insel Vilm bemüht, erlebt sie den „schlimmsten Urlaub“ ihres Lebens, „grauenhaft, einfach grauenhaft“. Denn auf der für die Öffentlichkeit gesperrten Insel im Rügeschen Bodden, die hochgestellten Politikern und Funktionären als Urlaubsdomizil vorbehalten war, kennen sich fast alle der Gäste persönlich, doch sie gehen sich aus dem Weg. Keiner sucht das Gespräch oder gar einen Meinungsaustausch. Emser erklärt das seiner deswegen doch konsternierten Frau: „Keiner will sich zu weit aus dem Fenster lehnen bei all jenen Problemen und Fragen, in denen sich das Politbüro noch nicht festgelegt hat. Man will nicht schiefliegen, nicht die Parteilinie verlassen, denn anderenfalls schützt keine noch so hohe Funktion vor einem möglichen Absturz.“

Hein liefert hier auch Antworten auf die immer wiederkehrenden Fragen, weit über die DDR hinaus, in die Zeit vor ihr, aber auch in die Gegenwart, wie diese Mischung aus gleichermaßen staatstragendem und untertänigem, dabei auch verantwortungslosem und feigem Verhalten gedeihen kann. Franz Kafka, der bezeichnenderweise in der DDR verpönt war, schaut da mit seiner profunden Berufserfahrung in einer halbstaatlichen Versicherungsanstalt auch um die Ecke.

III

Der Titel von Christoph Heins außergewöhnlichem Spätwerk irritiert durchaus, wie ich schon in so manchem Gespräch erfuhr. Für die DDR das Bild des Narrenschiffs zu verwenden, mit dem der Straßburger Sebastian Brant im 15. Jahrhundert die ganze Welt satirisch erfasste und das seither immer wieder benutzt wird, scheint nicht nur Ex-DDR-Bürgern, sondern auch manch westlichen Linken immer noch unangemessen.

Titelseite aus Sebastian Brants Narrenschyff, deutsche Ausgabe Basel 1494
Hieronymus Bosch: Das Narrenschiff, ca. 1494-1510

Hein ist schon früher auf dieses Bild gekommen. In seinem Stück Die Ritter der Tafelrunde, das vom mutigen Intendanten Gerhard Wolfram im April 1989 unter der Regie von Klaus Dieter Kirst in Dresden auf die Bühne gebracht wurde, als es noch keine Aufführungserlaubnis, aber auch kein ausdrückliches Verbot gab, berichtet der Ritter Lancelot, zurück von der erfolglosen Suche nach dem Gral, dem alten König Artus, dass draußen im Land keiner mehr an diesen Traum von einer erlösten Welt glaube. „Für das Volk sind die Ritter der Tafelrunde ein Haufen von Narren, Idioten und Verbrechern“, lautet sein vernichtendes Urteil über die vielleicht verfehlte, auf jeden Fall gescheiterte Utopie. „Bereits ein halbes Jahr später konnte man dieses Urteil auf den Transparenten der Demonstranten in Dresden lesen“, berichtet Hein in seinem Buch Gegen-Lauschangriff – Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege (Berlin 2019), in dem er genau und sarkastisch von seinen Erfahrungen in der Kultur der DDR und ihrer Bürokratie berichtet, also über die Welt, in der er vor allem zuhause war.

Christoph Heins Die Ritter der Tafelrunde, April 1989, Staatsschauspiel Dresden

Im Narrenschiff rückt er die Wirtschaft in den Blickpunkt, nicht zufällig sind zwei der Protagonisten in ihr tätig. Entschieden reagierte Hein im eingangs erwähnten SPIEGEL-Gespräch auf die Frage, ob er die DDR zurecht als Narrenschiff tituliere: „Was sollte sie sonst gewesen sein? Die Wirtschaftspolitik der DDR basierte auf der Grundannahme, dass man die Inflation per Befehl abschaffen könnte. Die Preise in der DDR wurden künstlich auf dem Niveau von 1944 konserviert, ob für ein Brötchen oder für die Miete einer Wohnung. Das konnte nicht gut gehen. Das war Narretei, die reine Dummheit.“ Ein derart deutliches Urteil über die aussichtslose Misswirtschaft in der DDR habe ich von einem deutschen Schriftsteller unserer Zeit, mal abgesehen von Heiner Müllers apokalyptischen, gelegentlich aber auch nur zynischen Sentenzen, noch nicht vernommen. Sichtlich hat Hein sich entsprechend kundig gemacht und kann so manches dieser Probleme veranschaulichen; und dies sogar vergnüglich, wenn er berichtet, wie technisch völlig unbedarfte Politbüro-Mitglieder die Kriterien für die Entwicklung des Trabant als Gegenentwurf zum westdeutschen Volkswagen erörtern und beschließen.

Hein führt den Leser tiefer in die Welt der Ökonomie ein als in der Belletristik üblich. Er lässt Karsten Emser sogar von Gesprächen mit Ota Šik, dem Berater von Alexander Dubček und Wirtschaftsminister des ‚Prager Frühlings‘ berichten. Auf Šik gehen die Begriffe ‚Der Dritte Weg‘ und ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ zurück, die damals auch im Westen viel Beachtung fanden und auch heute noch Anhänger finden. Emser und Kuckuck kommen, als sie das diskutieren, schnell auf den Gedanken, dass sie sich auf einem verlorenen Narrenschiff befinden. Doch als Kuckuck fragt, ob die Narren auch in der Kapitänskajüte seien, hebt Emser mahnend einen Finger. Er hat seine Lektion in Moskau gelernt.

Ota Šik (1919 – 2004)

Inwieweit auch Hein an diesen ‚Dritten Weg‘ zwischen marxistischen Wirtschaftsprophezeiungen und Kapitalismus noch glaubt, oder ob er hier lediglich die damaligen Hoffnungen und Sorgen seiner Protagonisten wiedergibt – da bin ich mir nicht so sicher. Jedenfalls hat er diese zentrale Sache seines Buchs wohl nicht bis zum Ende recherchiert. Denn Ota Šik, der nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten (ohne die DDR, die gern wollte, aber nicht durfte, und ohne das eigensinnige Rumänien) in St. Gallen in der Schweiz als Wirtschaftsprofessor tätig war, gab nach der ‚Samtenen Revolution‘ in der Tschechoslowakei ein Interview, das es in sich hat, noch heute: „Sehen Sie, wir konnten damals nicht alle unsere Ziele vollständig präsentieren. Also war auch der dritte Weg ein verschleierndes Manöver. Schon damals war ich davon überzeugt, dass die einzige Lösung für uns ein lebendiger Markt kapitalistischer Art ist.“ Mehr noch: Šik bestätigte, dass sein großes Vorbild die soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard war. Diese späten Bekenntnisse dürften bei vielen alten und neuen Linken für Kopfschütteln und Stirnrunzeln sorgen. Aber den Markt als Kern eines für alle guten Wirtschaftens hatte bekanntlich schon Karl Marx zu sehr vernachlässigt. Und der als Wirtschaftsminister erfolgreiche, als Bundeskanzler glücklose Erhardt ist gewiss ein liberaler Denker von Format gewesen.

IV

Mitten im Buch, auf Seite 384 in der Hardcover-Ausgabe, stößt man auf einen etwas gestelzten, kursiv gesetzten Absatz, ein überraschend eingeschobenes Bekenntnis des Autors:

„Was das nun Folgende betrifft, kann ich mich nur eingeschränkt für die Wahrhaftigkeit verbürgen. Denn wenn ich ansonsten nur erzählte, was ich mit eigenen Augen gesehen, mit Augen Ohren gehört habe, wenn ich nur Personen schildere, die ich zu meiner Freude oder zu meinem Leidwesen persönlich kennenlernte, sie schätzen durfte oder fürchten musste, die mir auf meinem Lebensweg behilflich waren oder mir Knüppel zwischen die Beine warfen, spreche ich in dem folgenden Bericht über Ereignisse, von denen ich nur oberflächlich und zudem nur sehr eingeschränkte Kenntnisse aus zweiter Hand besitze. Aus diesem Grund bitte ich um Nachsicht (…) Ich werde weiterhin berichten, was ich vermag, und der Leser wird erkennen und anerkennen müssen, dass ich beschreibe, wofür ich mich verbürgen kann, für die Kapriolen, welche die deutsche und die Weltgeschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schlugen, sowie für die höchst seltsamen und unerwarteten Wendungen…“.

In dieser hier so zurückhaltend angekündigten Episode geht es um eine neue Mitschülerin von Kathinka, die von allen gemobbt wird – weil sie die Tochter von Walter Ulbricht sei. Es stimmt, dass Lotte und Walter Ulbricht eine Adoptivtochter hatten, eine Halbwaise aus der Ukraine, der sie den Namen Beate gaben. Aber Hein will uns hier wohl sagen, dass seine Chronik der DDR weitestgehend authentisch ist, selbst erlebt oder gründlich recherchiert. Es ist mir allerdings nicht immer klar, inwieweit er den auktorialen Erzähler gibt, der auch die Zukunft seiner Figuren und ihrer Welt schon kennt, oder ob er oft doch nur die Perspektive des einen oder anderen aus der gerade beschriebenen Situation und Zeit vermittelt.

An jähen Wendungen und atemberaubenden Kapriolen hat es in der deutschen Geschichte wahrlich nie gemangelt, und wir erleben gerade wieder die erstaunlichsten. So bilden die historischen Ereignisse dieser Jahrzehnte, sofern sie auch die DDR betreffen, ein Skelett in dieser schier überbordenden Fülle von Szenen. Der Aufstand vom 17. Juni 1953, Chruschtschows Rede über Stalins Verbrechen von 1956, die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands im selben Jahr, der immer wieder aufflammende Widerstand in Polen gegen die sowjetische Bevormundung, die gewaltsame Unterdrückung des ‚Prager Frühlings‘ 1968 – das alles beunruhigt Heins zwischen Hoffnung und Resignation taumelnden, im Zweifel sich dem Opportunismus ergebenden Reigen von Prototypen der gehobenen DDR-Gesellschaft. Man erfährt auch von erstaunlichen Vorgängen. So etwa, dass die Errichtung der Mauer am 13. August 1961 von der Regierung der USA unter John F. Kennedy vorab akzeptiert wurde. Aus Sicht der Romanfiguren scheint das eine beruhigende Zustimmung zur DDR-Politik. Aus westlicher Sicht ist diese Haltung, die wohl inzwischen belegbar ist, verständlich, weil man noch den Versuch des Ostens, sich West-Berlin einzuverleiben, und die Luftbrücke zur Abwehr dieser Aggression in Erinnerung hat. Eine befestigte Grenze bei Garantie der Transitwege nach West-Berlin und der Rechte der westlichen Alliierten im ganzen Berlin würde den Status quo sichern – so war es dann auch.

Interessantes erfährt man auch zu Walter Ulbricht. Er soll schon früh bei Stalin in Ungnade gefallen sein, weil er zur Stärkung der jungen DDR die Rückgabe der deutschen Ostgebiete gefordert habe. Sein Rücktritt von allen Partei- und Staatsämtern im Mai 1971 wurde schließlich durch einen Putsch Erich Honeckers erzwungen, der Ulbrichts Sommersitz in Groß Dölln in der Uckermark mit bewaffneten Staatsicherheitsleuten umstellen ließ. Hein hat sich auch das nicht ausgedacht, er hat es von Markus Wolf erfahren, dem Leiter der Auslandsspionage der DDR. Im Buch tritt dieser als Markus Fuchs auf, der hin und wieder in alter Verbundenheit Karsten Emser besucht, meist mit einem in Prawda-Seiten eingewickelten Batzen Kaviar als Mitbringsel und auch manch internen Informationen. Ein Anwalt, der sich um eine Erbschaft aus dem Westen kümmert, heißt Amsel; klar, da denkt man an Wolfgang Vogel, der in den Beziehungen zwischen DDR und BRD aktiv war. Das sind Anspielungen, die man auch als nicht Eingeweihter aufnimmt. Aber als typischen Schlüsselroman habe ich Das Narrenschiff nicht gelesen.

Es liegt durch Kuckucks und Yvonne Goretzkas Tätigkeit nahe, dass das Verbot eines großen Teils der DEFA-Produktion im Jahr 1966 Heins Figuren beschäftigt. Verwundert bin ich aber, dass die Ausbürgerung des Dichters und Sängers Wolf Biermann und die Proteste dagegen im Jahr 1976 so gut wie keine Rolle spielen. Dieser Vorgang erschütterte doch die DDR, zumindest ihre Kulturszene. Es mag aber sein, dass er für die Emsers und Goretzkas nicht von Bedeutung war. Auch ich hörte schon von Ex-DDR-Bürgern, dass sie damals keinen aus dem Westen Zugewanderten brauchten, der ihnen sagte, welches ‚das bessere Deutschland‘ sei.

Etwas unklar bleibt am Ende, wie entscheidend die Demonstrationen gegen das SED-Regime für dessen Kollaps waren. In seiner denkwürdigen Rede am 4. November 1989 am Alexanderplatz in Berlin sagte Hein noch selbst: „Es war die Vernunft der Straße, die Demonstrationen des Volkes. Ohne diese Demonstrationen wäre die Regierung nicht verändert worden.“ Das mag auch der Aufregung jener Tage geschuldet sein. Aber angesichts der schrecklichen, lange im Westen verkannten Politik Wladimir Putins sollte man nicht vergessen, dass vom Kreml in Moskau damals ein großartiges Signal der Befreiung ausging. Ohne Michail Gorbatschows Respekt für die nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit wäre auch in Berlin die Mauer nicht gefallen.

V

Ein Buch besteht nicht nur aus dem Text, den der Autor abliefert, sondern auch aus dem, was der Verlag, sein Lektorat, seine Gestalter und seine Werbeleute daraus machen. Der Schutzumschlag zu Christoph Heins Buch ist ein besonderer Glücksfall. Er zeigt einen Ausschnitt des Mosaikfrieses Unser Leben von Walter Womacka (1925 – 2010) am Haus des Lehrers am Alexanderplatz in Berlin.

Mosaikfries Unser Leben (1964) von Walter Womacka am Haus des Lehrers, Berlin, Abschnitt an der dem Alexanderplatz zugewandten Seite

Der im Westen kaum bekannte Künstler war einer der wichtigsten Vertreter des ‚Sozialistischen Realismus‘ in der DDR, zeitweise auch Rektor der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee, wo unter ihm 40 Studenten aus politischen Gründen exmatrikuliert wurden; er begrüßte die Niederschlagung des Prager Frühlings und lobte die Berliner Mauer auch nach ihrem Fall noch. In seinem Fries dienen Elemente der leichten Stilisierung und minimalen Abstraktion der Überhöhung eines im Grunde trivialen Panoramas des Alltags. Aber das könnte ein Bild der ‚neuen Welt‘ und der ‚neuen Menschen‘ sein, wie sie sich die Ulbrichts, Honeckers, Emsers und Goretzkas wohl selbst vorstellten. Jemand hat mal gesagt, Prosa sei auch eine Art Mosaik; Heins Buch misst wie ein sprachlicher Mosaikfries die Weltsicht eines Womacka an der Realität.

Bleibt man noch etwas bei Womacka, entdeckt man eine geradezu unglaubliche Geschichte, eine Realsatire sondergleichen. Er war einer der erfolgreichsten DDR-Künstler, sein Bild Am Strand von 1962 war die meistverkaufte Gemäldereproduktion aus der DDR, in die ganze Welt wurde sie vertrieben. Auch eine Briefmarke erschien mit diesem Bild, dessen Original Walter Ulbricht zu seinem 70. Geburtstag geschenkt wurde. Das Präsidium des Verbands Bildender Künstler der DDR entblödete sich nicht, eine Eloge darauf zu veröffentlichen: „Das Bild entspricht in seiner künstlerischen Aussage der lebensbejahenden, optimistischen Grundhaltung des Künstlers, seiner Freude am Schönen in unserem Leben, seinem ständigen Drang, dieses Schöne den Werktätigen immer wieder durch seine Kunst zu entdecken, ästhetisch erlebbar zu machen und mit den ethischen Vorstellungen des sozialistischen Menschen eng zu verknüpfen…“ usw. usf.

Walter Womacka: Am Strand (1962)

Heins Kollege Ulrich Plenzdorf (1934 – 2007) urteilt in seiner Erzählung Die neuen Leiden des jungen W. kürzer und weitaus treffender. Er benennt dieses Bild neben van Goghs Sonnenblumen als Beispiel für die spießerhafte Ausstattung einer bürgerlichen DDR-Wohnung: „Ein echtes Brechmittel, im Ernst.“

Es ist schade, dass das Lektorat des Verlags weniger aufmerksam mit Heins Text umging, aber das ist eben heutzutage so. Die Vermeidung dieser und jener Redundanz hätte dem Text gutgetan; allerdings habe ich gelesen, dass so etwas im Hinblick auf die Vermarktung als Hörbuch eigens eingebaut wird. Wenn ich an die ahnungslosen Schüler denke, die ich zu Beginn erwähnte, könnte als Zugabe auch eine kleine historische Zeittafel zur DDR nützlich sein, auch ein Paar Basisdaten. Denn heutzutage wird über die West-Ost-Beziehung oft so gesprochen, als gehe es um zwei ähnlich große und entsprechend zu repräsentierende Teile Deutschlands. Dabei lebten in der DDR nicht mehr Menschen als allein im Bundesland Nordrhein-Westfalen.

VI

Die Innenansichten von der DDR, die Hein seinen Lesern vermittelt, sind beklemmend. Auch ohne dass er auf die finstersten Seiten der DDR eingeht, auf die unmenschlichen Verhältnisse in Haftanstalten, in Jugendwerkhöfen oder in der NVA, auf die jedem drohende Zwangsarbeit und die allgegenwärtige Bevormundung, ganz zu schweigen vom Schießbefehl an Mauer und Staatsgrenze und gar der Todesstrafe, die zuletzt 1981 auf heimtückische Art vollzogen und erst 1987 abgeschafft wurde. Wo man da auch genauer hinschaut, entdeckt man mehr Kontinuität zur vorangegangenen Nazi-Zeit als im Westen des Landes, dem die DDR-Oberen dies immer wieder anhängten.

Eine Eigenheit dieses Romans scheint mir eine gewisse Distanz des Autors zu den meisten seiner Figuren zu sein. Abgesehen vielleicht vom in die DDR verirrten Kuckuck, der mit Ironie und Sarkasmus auf die Politik reagiert, und von Kathinka Lebinski, die Hein im Gedenken an seine 2002 verstorbene Frau Christiane gestaltete, berühren die Figuren dieses Romans bei aller Genauigkeit und Subtilität der Beschreibung doch nicht so wie etwa die Ärztin Claudia, die an Einsamkeit und Beziehungslosigkeit als Folge von Ängsten, Misstrauen und Frustrationen in der DDR-Gesellschaft leidet, in der Erzählung Der fremde Freund (im Westen: Drachenblut) von 1982 – oder der vierzehnjährige Daniel, dem als Sohn eines Pfarrers die höhere Schule verwehrt wird und der deswegen auf ein Gymnasium in West-Berlin geht, bis ihn der Mauerbau wieder ganz in die DDR zwingt, in dem autobiographischen Roman Unterm Staub der Zeit von 2023. Den Sog, der sich dank Heins anschaulicher Sprache in diesen Werken schon nach wenigen Seiten einstellt, erfährt man hier erst nach einem längeren Einlesen.

Christoph Hein 2025

Das mag einerseits daran liegen, dass Hein hier weniger erzählt, sondern berichtet, sehr akkurat und durchaus hin und wieder auch mit leicht ironischen Spitzen. Hinzu kommt, dass die von Hein treffend geschilderte Realität auch atmosphärisch sein Buch bestimmt. Die Mitglieder einer Nomenklatura, denen man hier begegnet und die Tag für Tag im ängstlichen Taktieren zu überleben trachten, strotzen eben nicht von Gefühlen, von Leidenschaften gar. Sie sind nicht extrovertiert, sondern stecken in Rollen und hinter Masken.

Eines der letzten Kapitel, das unmittelbar nach Honeckers Rücktritt spielt, hat den Titel: „Die Krankheit Alter Mann“. Karsten Emser sagt das ironisch, als ihn sein Arzt mit der Möglichkeit einer unangenehmen Diagnose konfrontiert. Er wird schnell an Bauchspeicheldrüsenkrebs sterben. Goretzka folgt ihm nach Sturz und Koma mit Herz- und Kreislaufversagen, und Kuckuck versinkt in der tödlich endenden Demenz. Ob dieses mit dem Untergang ihres Staates zusammenfallende Ende der drei Protagonisten, die Prototypen des DDR-Establishments sind, literarisch geglückt ist, weiß ich nicht. Mir ist das etwas zu bedeutungsschwanger. Dass Hein immer wieder auf alte Männer und ihr Ende kommt, hat mich schon früher irritiert. In der vergreisten Entourage um König Artus in seinem Stück Die Ritter der Tafelrunde sahen viele damals ein satirisches Porträt des SED-Politbüros, auch wenn Hein das nicht so Eins-zu-Eins gemeint haben wollte. Auch in seiner immer noch eindrucksvollen Rede vom 4. November, in der er vor allzu viel Euphorie warnt, erinnert Hein an den alten Mann – an Erich Honecker, dessen Jugendträume sich nun nicht erfüllen.

Alte Männer und ihr Starrsinn gelten schnell als Hindernis gesellschaftlicher Erneuerung. Ich erinnere mich, dass wir uns früher oft in der kulturpolitischen Diskussion fragten, warum die Herrschenden im Realsozialismus so altersstarr und uneinsichtig sind, wenn es nur um ein bisschen mehr Liberalität ginge. Doch im Rückblick denke ich, dass sie genau wussten, dass dies schnell zu einem Dammbruch in ihrem Machtgefüge führen könnte. Moskau schickte die Panzer einst nicht nach Berlin, Budapest und Prag, weil man für die dortigen Reformvorhaben zu wenig Verständnis hatte, sondern weil man genau verstand, um was es ging.

VII

Heins Buch beginnt – noch bevor die Ankunft Karsten Emsers im Gefolge der Gruppe Ulbricht am 1. Mai 1945 auf einem Flugfeld bei Calau, südwestlich von Frankfurt/Oder, geschildert wird – mit einer Szene, die sich Jahre später in einer nach Wilhelm Pieck, dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, benannten Schule abspielt. Vielleicht ist es das heutige Rosa Luxemburg-Gymnasium (ehemals Wilhelm-Pieck-Schule) in Berlin-Pankow, wo einst viele Mitglieder der DDR-Führung lebten. Die kleine Kathinka Lebinski darf als beste Schülerin bei einer Feierstunde neben dem Präsidenten sitzen, der mit ihr schäkert und sich dabei wohl auch ablichten lässt. Solche Bilder lassen sich schnell finden – schon weil Diktatoren, Autokraten und ähnlich eingestellte Staatschefs gern mit Kindern (und Hunden) posieren. Im letzten Kapitel, als die DDR untergegangen ist, Kathinka ihre Stellung in einem Verlag, der auf bibliophile Reprints für den Westen spezialisiert war, verloren hat und nun ein Arbeitsangebot vom Bertelsmann-Unternehmen erhält, das nach Leipzig expandieren will, findet sie beim Kramen in Fächern eine Postkarte von jener Szene in der Schule vor 40 Jahren. Sie erinnert sich, lächelt versonnen. Heins Buch endet nun mit dem Satz: „Sie drückte einen Kuss auf das Foto, dann zerriss sie die Postkarte in kleine Schnipsel und warf diese in den Papierkorb.“

DDR-Präsident Wilhelm Pieck mit Jungen Pionieren der Pankower Wilhelm-Pieck-Schule. Aus einer Sammelbildreihe, 1956 herausgegeben von der Volkseigenen Zigarettenindustrie.

Doch so einfach ist es nicht, diese Vergangenheit zu entsorgen. So wenig wie „Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte sind“, wie der Partei- und Fraktionschef der AfD, Alexander Gauland, 2018 behauptete, ist auch der Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts entgegen Christoph Heins Meinung vielerorts nicht vergessen und wird die DDR, anders als Stephan Heym prophezeite, nicht nur eine „Fußnote in der Weltgeschichte“ sein.

Immerhin 40 Jahre bestand diese merkwürdige Welt mitten in Europa, die Hein als Narrenschiff beschreibt – neben einem Dutzend ähnlich konstruierter Staatsgebilde, die allesamt mehr oder weniger lautlos von heute auf morgen zusammenbrachen. In ihrer vielfältigen Bedeutung ist sie bislang wohl nur ansatzweise erfasst; Heins Buch ist zweifellos ein bedeutsamer Schritt dazu. Sogar im Westen wusste man oft nicht, wie man diese Welt korrekt benennen sollte. Von ‚sowjetischen Kolonien‘ zu sprechen, was zutreffend gewesen wäre, traute sich niemand. Vom Ostblock hat man in den späteren Jahren eher nicht gesprochen, weil das doch nach Kaltem Krieg klang. Immer häufiger benutzte man den Begriff ‚Real existierender Sozialismus‘, obwohl dieser doch die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und empirischer Realität zukleisterte. Diesen Euphemismus für das Ergebnis des Versuchs der gewaltsamen Umsetzung einer linken Utopie hat Erich Honecker in die Welt gesetzt, auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED im Mai 1973. Und aus der DDR verbreitete er sich auch in den Westen.

So manch zunächst absurd erscheinende, aber vielleicht doch weiter zu verfolgende Überlegung geht mir durch den Kopf. Ist der Untergang der DDR und ihrer sogenannten Bruderstaaten vielleicht auch eine Ursache für den Niedergang der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien im Westen? Immerhin lud der Hegemon in Moskau gerade auch die traditionelle Arbeiterbewegung in Deutschland, damals vielleicht die wichtigste, dazu ein, sich unter seiner Vormundschaft aufgehoben zu wähnen, und nicht wenige sahen sich dabei sogar auf dem richtigen Weg. Die SPD in der Bundesrepublik ließ die närrischen Ideen von Klassenkampf und proletarischer Diktatur erst 1959 endgültig hinter sich, als sie sich in Bad Godesberg ein neues Programm gab, in dem die Marktwirtschaft als wichtiges Element einer demokratischen Gesellschaft anerkannt wurde. Aber so wie nationalistische Wahnvorstellungen spuken auch sozialistische nach wie vor durch so manche Köpfe. Manchmal vermischen sie sich auch wieder wie einst.

Beim Blick auf die Welt, die Heins Buch uns zeigt, aber auch auf die aktuellen Zeitläufte fällt mir dieser Satz von George Bernard Shaw ein: „We learn from history that we learn nothing from history,“ zu Deutsch: „Wir lernen aus der Geschichte, dass wir nichts aus der Geschichte lernen.“

Christoph Hein

Das Narrenschiff

Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2025
750 Seiten
Hardcover 28,00 € / E-Book 23,99 €

Leseprobe

Wolfgang J. Ruf

(* 1943 in München) ist Autor, Publizist und Dozent. Sein Themenspektrum umfasst Kulturpolitik, Theater, Film, Medien, Literatur, Geschichte, Politik und Zeitgeschichte. Er war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne und Pressereferent des Deutschen Bühnenvereins, danach u. a. Chefdramaturg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Von 1975 bis 1985 leitete er die internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen.

Bildnachweise

Titelseite aus Sebastian Brants Narrenschyff: Public domain
Hieronymus Bosch: Das Narrenschiff: Public domain, via Wikimedia Commons
Christoph Heins Die Ritter der Tafelrunde: © Robert-Havemann-Gesellschaft / Hans-Ludwig Böhme
Ota Šik: © Universitätsarchiv St.Gallen / Regina Kühne HSGH 022/000156/04 CC-BY-SA 4.0, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Mosaikfries Unser Leben : © OTFW, Berlin, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37364456
Walter Womacka: Am Strand , DDR-Präsident Wilhelm Pieck mit Jungen Pionieren: © DDR-Museum
Christoph Hein 2025: © Hanna Wiedemann
Porträtfoto Wolfgang J. Ruf: © James Ulmer

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In dieser Sonderfolge von Dichtung & Wahrheit spricht Christoph Hein mit dem Soziologen Steffen Mau und dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe über sein neues Buch, Das Narrenschiff. Die Aufzeichnung stammt aus einer Veranstaltung im Suhrkamp Verlag. Ergänzend zum Gespräch liest Christoph Hein Passagen aus seinem Roman – und gibt Einblicke in seine Haltung als Erzähler: kein Ankläger, kein Verteidiger, sondern jemand, der verstehen will.

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