
„Alles war politisch“
Wolfgang J. Ruf war von 1975 bis 1985 Leiter der Westdeutschen Kurzfilmtage, wie das Festival damals hieß. Der Film-, Theater- und Literaturkritiker, der auch heute noch als Autor und Dozent aktiv ist, spricht über seine Erfahrungen mit der Filmauswahl für Oberhausen im damaligen Ostblock.

Das Interview wurde zuerst veröffentlicht auf der Webseite der 71. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen.
Danke an Madeleine Bernstorff, Susannah Pollheim und Sabine Niewalda.
Hatten Sie eine Verbindung zu Oberhausen, bevor Sie Festivalleiter wurden?
Ich war damals in München Film- und Fernsehkritiker, vor allem für die Süddeutsche Zeitung, für das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt, für den Bayerischen Rundfunk und für Fachzeitschriften wie Fernsehen und Film, Jugend-Film-Fernsehen, Medium, auch für Fachkorrespondenzen wie epd-Kirche und Film/Fernsehen. Das Oberhausener Festival habe ich seit 1969 oder 1970 regelmäßig besucht.
Und hatten Sie vor Ihrer Arbeit als Festivalleiter schon eine Beziehung zum Ostblock?
Ich habe zwar keinerlei familiäre Wurzeln im Ostblock, war aber schon frühzeitig neugierig auf die Welt jenseits des Eisernen Vorhangs geworden. Nicht zuletzt durch wichtige Filme, vor allem aus den UdSSR und aus Polen, die auch im Westen im Kino liefen und die ich schon als Gymnasiast sah. Als Student fuhr ich mit Freunden 1969 auf eigene Faust nach Prag. Ein Studentenaustausch mit Rumänien war der Beginn einer langwährenden Beziehung zu diesem hier wenig bekannten Land – sowohl privat als auch beruflich. Als junger Filmkritiker besuchte ich recht oft Filmfestivals im Osten, sogar bis Taschkent bin ich da gekommen. Über die Leipziger Dokfilmwoche berichtete ich seit 1970 regelmäßig. Ich war der Meinung, dass die DDR ohne Anführungszeichen existiert, und argumentierte auf der Linie von Willy Brandts neuer Ostpolitik.
Gehe ich richtig in der Annahme, dass man die Geschichte des DDR-Films in Oberhausen in die Zeit vor 1969, also vor Willy Brandt und seiner Neuausrichtung der Ostpolitik, und in die Zeit danach einteilen kann?
Ja. Aber es gab noch eine dritte Phase, die meine Jahre in Oberhausen besonders spannend machte. Brandt war bis 1974 Kanzler, 1975 kam ich nach Oberhausen. Da war bereits länger klar, dass die Brandt‘sche Ostpolitik Teil des Selbstverständnisses des Festivals war. Früher gab es auch Auseinandersetzungen mit der Bundesregierung in Bonn. Es existierte ein interministerieller Ausschuss, der die Vorabsichtung aller Filme aus dem Ostblock verlangte, andernfalls würde es keine Fördermittel geben. Die Oberbürgermeisterin Luise Albertz, das war noch vor meiner Zeit, hat das abgelehnt und auf Bundesmittel verzichtet. Aber als ich kam, war das alles vom Tisch, und Oberhausen wurde durchaus auch aus Bonn gefördert. Und ich lernte schnell, dass die Oberhausener Kurzfilmtage, die man im Westen als ‚rotes Festival‘ sah, für Filmemacher im Osten, die um mehr künstlerische Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit rangen, eine etwas andere Bedeutung hatten: als wichtigste Bühne, ihr Schaffen frei von ideologischen Einflussnahmen einem internationalen Fachpublikum vorstellen zu können. Zu meiner Zeit gab es nur einen Fall, in dem ich sogar selbst als Festivalleiter eine Vorabsichtung aus juristischen Gründen veranlasst habe.
Welcher Film war das denn?
Wir hatten einen Film aus der Tschechoslowakei über einen Naziverbrecher, der angeblich unbehelligt in der Bundesrepublik lebte. Den filmisch nicht interessanten Film wollten die Partner in Prag unbedingt in Oberhausen zeigen – vermutlich im Glauben, dass sie damit in der BRD eine bewusst verschwiegene Sache aufdecken würden – das mochte zwar in den 1950er Jahren so sein, aber nicht mehr in den 1970er Jahren. Für uns war das aber auch Teil eines Deals, um einen Film zu bekommen, den wir unbedingt haben wollten. Ich habe den Film dann akzeptiert, aber mir war klar, dass das rechtlich abgeklärt werden musste. Wir haben einen Spezialisten von einer Institution zur Verfolgung der NS-Verbrechen kommen lassen. Der hat sich mit uns den Film angeschaut und bestätigt, dass die darin geschilderten Sachverhalte alle stimmen. Es gab allerdings nicht genügend Beweismittel, um ein Verfahren einzuleiten. Aber das war der einzige Vorgang dieser Art in meiner Zeit.


Gab es denn Versuche aus den sozialistischen Ländern, das Programm zu beeinflussen?
Das erlebte ich durchaus – und das hat mit der Zeit nach Brandts Rücktritt zu tun, als seine einst so bahnbrechende Ost-Politik zum Beharren auf dem Status quo verkümmerte. Das kulminierte, denke ich, in der Warnung des Brandt-Beraters Egon Bahr, dass die polnische Gewerkschaft Solidarność eine Gefahr für den Weltfrieden sei. Kurz nach meinem Amtsantritt, im August 1975, war ja in Helsinki die Schlussakte der KSZE unterzeichnet worden, in der auch von den Regierungen im Ostblock die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zugesichert wurde. Das stärkte die Dissidenten und Oppositionellen im Osten, die sich fortan auf diese vertraglichen Vereinbarungen berufen konnten. In Moskau, aber vor allem auch in der DDR nahm man nun immer wieder Anstoß an Filmen in unseren Programmen, die sich mit den Freiheitsbewegungen im real existierenden Sozialismus beschäftigten. Vor allem in der DDR maßte man sich eine Deutungshoheit über unser Festival an, wenn man etwa die Präsentation polnischer Filme kritisierte. Ja, aber darauf habe ich mich nie eingelassen. Vielen Funktionären im Osten war es allerdings auch unvorstellbar und deswegen auch unglaubwürdig, dass in Oberhausen die Festivalleitung unabhängig war und der Festivalleiter das letzte Wort hatte.
Aber was aus diesen Ländern gezeigt werden konnte, war schon abhängig davon, was die jeweiligen staatlichen Filmbehörden vorschlugen.
Ja – in der DDR war das die Hauptverwaltung Film im Kulturministerium. Alles was auf einem Festival stattfand wurde politisch interpretiert– das galt für alle sozialistischen Länder.
Selbst ganz kurze Animationsfilme wurden unter dem Gesichtspunkt gesehen, ob sie ein Land auf einem Festival zutreffend repräsentieren würden. Ob etwa die bulgarischen Filme in Oberhausen am Nachmittag oder am Abend im Programm standen, also zu einer schlechteren oder besseren Uhrzeit, wurde als politisches Signal aus Bonn gedeutet. Denn warum sollte es im Westen anders sein als zuhause? Ich erinnere mich da an ein richtig komisches Erlebnis beim international renommierten Moskauer Filmfestival in Moskau. Während das Festival lief, wurde von der Sowjetregierung ein Vertrag mit der Türkei geschlossen. Es ging wohl um Wirtschaft, vielleicht auch um Kulturbeziehungen, aber mit dem Festivalprogramm in Moskau hatte das nicht unmittelbar zu tun. Dennoch musste nun noch schnell ein türkischer Film ins Wettbewerbsprogramm gehievt werden. Dass dann nur so eine Art türkischer B-Film mit regelmäßigen Bauchtanzszenen verfügbar war, spielte keine Rolle. Wichtig war, dass es ein türkischer Film war – egal wie schlecht. Dass solches Denken in den Rastern von Repräsentation und Protokoll selbst bei an sich gebildeten und vernünftigen Partnern aus der Kulturszene im Osten so stark verinnerlicht worden war, erstaunte mich immer wieder.
Der Kontakt zu den DDR-Stellen war aber doch recht eng, oder? Zum Festival kamen ja meist nicht die Filmemacherinnen und Filmemacher angereist, sondern Delegationen, die sich aus Kulturpolitikern zusammensetzten.
Es ging dabei nicht nur um Kulturpolitiker, es kamen nicht nur Funktionäre, sondern auch Filmkritiker und Filmemacher. Es ging aber dabei stets um die Frage, ob Filmemacher oder Kritiker, die wir einluden, sogenannte Reisekader waren und überhaupt in den Westen fahren durften. Am schwierigsten war es, unsere Erwartungen, wen wir in Oberhausen gern begrüßen würden, in Moskau zu vermitteln. Besonders kompliziert wurde es, wenn es um ein Mitglied der Internationalen Jury aus der UdSSR ging. Dort lief es oft so: Regisseur X hatte gerade für einen Tourismusfilm in Italien einen Preis bekommen, zur Belohnung und weil er so zuverlässig schien, wollte man ihm eine Westreise gestatten. Das Festival in Oberhausen war dann halt der nächste Termin, auch wenn er keinerlei Bezug zu unserem Festival hatte. Schwierig war es auch manchmal in der CSSR, wo es Funktionäre gab, die gern Deals machten – so nach dem Spiel: Zeigst du diesen Film, den wir wollen, dann erhältst Du auch jenen Film, den du zeigen willst. Auch mit kuriosen Korruptionsangeboten sah ich mich konfrontiert. Mir wurde schon klar, dass der Kulturaustausch zwischen West und Osten, vor allem die Filmfestivals, wo so viele Begegnungen stattfanden, stets auch im Fokus der Geheimdienste war, vor allem der östlichen. Viele wohlmeinende Linke im Westen wollten das nicht wahrnehmen und liefen so auch in manche Falle.
Bei anderen Ostblockländern lief das besser, aus Polen durften in der Regel immer die Filmemacher kommen, die wir einluden, aus Ungarn sowieso.
Aber gab es denn Versuche einer direkten Einflussnahme auf die Programmgestaltung von DDR-Seite aus?
Ja. Einmal, das muss Anfang der Achtzigerjahre gewesen sein, schickten die Dokumentarfilmer Gerhard Scheumann und Walter Heynowski zu Beginn des schon laufenden Festivals einen gerade fertiggestellten Film und verlangten, dass der im internationalen Wettbewerb gezeigt wird. Ich habe das abgelehnt, das Programm war fertig, das war alles schon gedruckt. Ich habe angeboten, dass sie den Film in einer sogenannten Tradeshow zeigen könnten, in der jeder seinen Film Interessenten vorstellen konnte. Daraufhin wollten H & S, wie dieses außerhalb der DEFA, also der staatlichen Filmproduktion, tätige Studio firmierte, die Teilnehmer aus der DDR dazu bringen, geschlossen zu protestieren und abzureisen. Delegationsleiter war in auch in diesem Jahr Ronald Trisch, der damalige Direktor des Leipziger Dokumentarfilmfestivals. Er zeigte eine überraschend klare Haltung gegenüber seinen Delegationsmitgliedern und den Vertretern von H & S – ob einer von den beiden persönlich unter den H & S-Abgesandten war, weiß ich nicht mehr. Aber was Trisch sich zu sagen traute, erinnere ich noch sehr gut: „Dieses Festival hat sein Reglement. Wir halten uns an das Reglement, die DDR-Filme sind ausgewählt und laufen im Wettbewerb und von Abreise ist überhaupt nicht die Rede! Tschüss, Genossen.“ Das hat mich sehr beeindruckt.
Heynowski und Scheumann haben auf die Absage eines dieser Kongo-Filme, Kommando 52, mit einem eigenen Film geantwortet, Wink vom Nachbarn, das war 1966, also vor Ihrer Zeit als Festivalleiter. Wink vom Nachbarn läuft in diesem Jahr in Oberhausen, damals lief er natürlich nicht.
Meines Wissens war Wink vom Nachbarn in Oberhausen gar nicht angeboten worden. Es war auch kein typischer H & S-Film, der sich agitatorisch zu den großen Konflikten im Kalten Krieg zu äußern versuchte. Es war eine Reportage über das immer mehr beachtete Oberhausener Festival fürs DDR-Fernsehen, die natürlich auch polemisch zuspitzte, sich aber auch selbst desavouierte. Irgendwann habe ich Wink vom Nachbarn dann mal gesehen. Ich halte den Film für nicht so relevant. Warum damals Kommando 52 abgelehnt wurde, weiß ich nicht. Aber der Film enthielt ja auch keine aufregend neuen Informationen. Die schockierenden Bilder von einer Legionärseinheit im Kongo, hatten Heynowski und Scheumann von der bundesdeutschen Illustrierten Stern erworben, in der Gerd Heidemann eine preisgekrönte Reportage über den Bürgerkrieg im Kongo veröffentlicht hatte – Heynowski und Scheumann haben dieses Material allerdings, wie bei ihnen üblich, manipulativ und propagandistisch benutzt.

Der Film Wink vom Nachbarn wirkt heute nicht zuletzt unfreiwillig komisch.
Das sehe ich auch so. Der Film eignet sich sehr gut, wenn man die kleinbürgerliche, letztlich oft auch bildungsferne Welt vieler Kulturfunktionäre der DDR zeigen will. Wie dieser furchtbare Moderator völlig kenntnisfrei, aber abwertend über die Festivalbeiträge aus der Tschechoslowakei schwadroniert, etwa über den Film Die Hand von Jiri Trnka, des damals längst schon international renommierten Meisters des Puppentrickfilms, ist geradezu peinlich… Wink vom Nachbarn – was für ein spießiger Film!
Spießig auch in dem Sinne, dass er einen in Oberhausen gezeigten Film kritisiert, in dem nackte Körper zu sehen sind – aber die dann trotzdem noch einmal im Ausschnitt lange zeigen will.
Ja, da geht es, wenn ich mich recht erinnere, um den Film Oh dem Watermelons von Robert Nelson aus der damaligen Avantgarde in San Francisco mit Musik von Steve Reich und dem Ensemble einer wichtigen Theatergruppe aus der freien Szene. Das zeigte natürlich eine Kunstwelt, die mit ihren surrealistischen Anspielungen für die meisten Kulturleute der DDR verschlossen, unverständlich war. Der Film Wink vom Nachbarn ist letzten Endes ein Beleg dafür, dass die DDR unter allen sogenannten sozialistischen Ländern das spießigste war. Wenn ich damals mit dem stellvertretenden Kulturminister, dem sogenannten Filmminister, gesprochen habe, saß ich einem kulturell unbedarften Wesen gegenüber. Wenn ich dagegen in Polen mit dem stellvertretenden Kulturminister sprach, war das jemand, der Botho Strauß übersetzt hat. Gewiss, die kulturpolitischen Funktionäre der DDR meinten oft, sie müssten mir den Stellenwert unseres Festivals und die Aufgaben, die dieses Festival hat, erklären: Fortschritt und Frieden und so weiter. Wenn irgendwas im Programm gestört hat, hat das hin und wieder Aggression ausgelöst. Ich erinnere mich an einen Film, ich weiß nicht, ob Sie auf den schon gestoßen sind, kennen Sie BRDDR?
Leider nein.
Das ist ein Film, den zwei junge Studentinnen von der dffb, also der Westberliner Filmakademie, 1981 gemacht haben. Auch die Westseite der Mauer in Berlin war Ostgebiet. Nun haben die beiden, Lilly Grote und Irina Hoppe, aus einem Westberliner Fenster die Mauer gefilmt. Da hat sich ein Türchen geöffnet, und Bauarbeiter kamen unter militärischer Bewachung auf die Westseite, um Graffiti zu beseitigen, also: um die unmenschliche Grenze wieder ordentlich und reinlich zu machen. Das wurde gefilmt, und drübergelegt wurden zwei Kommentare mit einer Kinderstimme: einmal der Text aus dem Brockhaus über die Mauer in Berlin und einmal der Text aus einem DDR-Lexikon über den antifaschistischen Schutzwall. Und dazwischen wurde mal die bundesdeutsche Hymne und mal die der DDR gespielt. Kein weiterer Kommentar. Ich war der Meinung, den Film zeigen wir im internationalen Wettbewerb. Es gelang mir, auch die Festivalkommission davon zu überzeugen, dass im Jahr 1981 eine derartige Dokumentarsatire möglich sein sollte. Das gab in der DDR einen ungeheuren Aufstand, heftiger als wir es erwartet hatten. Selbst ein befreundeter Filmkritiker, damals Chefredakteur der wichtigsten Filmzeitschrift der DDR, schrieb von einer ungeheuren Provokation, aus Bonn gesteuert und so weiter. Später hat er erzählt, dass er das schreiben musste. Jedenfalls schien ein nur wenige Minuten langes Filmchen zweier Studentinnen in den Augen der offiziellen Kulturpolitik der DDR eine unheimliche Bedrohung sein.
Gab es eine solche Aufregung denn auch in der Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Ländern?
Nur einmal. In meinem letzten oder vorletzten Jahr als Festivalleiter stand der britische Film Prisoners of Conscience auf dem Programm, Gefangene des Gewissens. Eine Produktion von Amnesty International, die heimlich aufgenommene Bilder aus dem Archipel Gulag enthielt und im internationalen Wettbewerb lief. Einige Wochen vor dem Festival bekam ich einen Anruf vom Kulturattaché der sowjetischen Botschaft, er möchte mich zu einem Gespräch treffen und nach Oberhausen kommen. Der kam dann auch und hat mir erklärt: „Herr Ruf, ich schätze Ihr Festival und Ihre Arbeit sehr. Aber Sie haben in Ihrem Programm einen Film mit illegal gedrehten Aufnahmen aus sowjetischen Straflagern.“ Und ich darauf: „Woher wissen Sie das?“ Und er dann wörtlich: „Von unserem Mann in London.“ Wir sollten den Film aus dem Programm nehmen, sonst gäbe es Konsequenzen. Ich habe den Kulturdezernenten der Stadt informiert, und der hat mit dem obersten SPD-Genossen gesprochen. Der kam und sagte zu mir: „Schmeiß den Film aus dem Programm! Wenn die abreisen, weil du aus unserem Festival eine Westwichserei machst, wirst du bei den nächsten Haushaltsberatungen sehen, was dann passiert.“
Das ist dann aber auch ein Bespiel für eine kulturpolitische Einflussnahme von westdeutscher Seite.
Ja. Ich habe den Film natürlich nicht aus dem Programm genommen. Es gab noch ein Treffen mit dem klugen sowjetischen Kulturattaché, dieses Mal in Bad Godesberg. Er hieß Igor Fjodorowitsch Maximytschew, wechselte dann an die sowjetische Botschaft in Berlin und spielte beim Mauerfall eine konstruktive Rolle. Von dem Treffen mit den Oberhausener SPD-Genossen hab ich ihm nichts erzählt, aber ich hab ihm erklärt: „Wir sind ein unabhängiges Festival und können uns die Blöße nicht leisten, einen Film auf Druck von außen aus dem Programm zu nehmen.“ Und er hat das verstanden und versprochen, dass er sich etwas einfallen lässt. Er schlug dann diese Lösung vor: Die Kurzfilmtage sollten am 9. Mai, am sowjetischen Feiertag der Kapitulation von Nazi-Deutschland, einen Empfang veranstalten. An diesem würde die ganze sowjetische Delegation teilnehmen, und der inkriminierte Film sollte zur selben Zeit im Programm laufen. „Dann müssen unsere Leute da nicht hingehen. Die werden bei Ihnen Protest einlegen, aber dann zu dem Empfang kommen und mit Ihnen anstoßen,“ sagte Maximytschew. So lief’s dann – den damaligen Oberhausener Ober-Genossen mag das indes geärgert haben.
Es brauchte also eine sehr feinstoffliche Festivaldiplomatie.
Ja, allerdings bin ich einer solchen auf DDR-Seite fast nie begegnet. Bei den übrigen Ostblock-Staaten schon. Die Delegationsleiter kamen der Reihe nach zu mir und haben in dem hier geschilderten Fall Protest eingelegt. Der aus Ungarn zum Beispiel meinte „Hallo Wolfgang, du weißt, ich soll bei dir Protest einlegen.“ Erledigt. Viele waren auch der Meinung, dass es gut war, den Film zu zeigen. Prisoners of Conscience war eine Gelegenheit, bei der die Filmdelegierten aus den sozialistischen Ländern begriffen haben, dass das Festival nicht von irgendwoher gesteuert wird. Merkwürdig fand ich damals, dass die professionellen Festivalteilnehmer aus dem Westen das alles gar nicht richtig mitbekamen. Immerhin schwelte da im Hintergrund doch eine ernsthafte Festivalkrise.
Man musste trickreich sein.
Und findig, ja.
Wie schätzen Sie denn das Festivalmotto Weg zum Nachbarn rückblickend ein?
Das Festivalmotto Weg zum Nachbarn wurde von engstirnigen Oberhausenern auch mal als „weg zum Nachbarn!“ verballhornt. Weg zum Nachbarn meinte schon jeden Nachbarn – gerade auch die im Osten! Die Idee war, durch den Austausch über Filme einander kennenzulernen und einen Dialog herzustellen. Das ist friedensstiftend, und das war auch ganz im Sinne von Willy Brandts Ostpolitik. Ich habe aus meinen vielfältigen Wahrnehmungen im Osten dann schon bald das Motto so definiert: Oberhausen ist ein Festival der Gegeninformation. Wir zeigen Filme, die in den Medien ansonsten zu kurz oder gar nicht vorkommen. Und das gilt nicht nur für die Filme aus dem eigenen Land, aus westlichen Ländern oder aus Lateinamerika, sondern auch für die aus den sogenannten sozialistischen Ländern.
Nach welchen Kriterien haben Sie denn die Filme aus der DDR ausgesucht?
Ich war für das Festival immer auf der Suche nach Filmen, die in ihrem Informationsgehalt, künstlerischen Ausdruck oder der Nutzung der filmischen Mittel unabhängig waren – selbstständig, persönlich. Von Helke Misselwitz wird dieses Jahr ein Film gezeigt, der vor vierzig Jahren in Oberhausen lief, Stilleben – Eine Reise zu den Dingen. Ich war sehr froh, dass wir den damals im Programm hatten. Da kommen Themen wie Vergänglichkeit und Tod vor, alles ist im Wandel. Das war ein Film, der nicht so war, wie die DDR sich selbst dargestellt sehen wollte. Ein weiteres Beispiel für einen starken künstlerischen Ausdruck eines DDR-Filmemachers ist Verwandlungen von Jürgen Böttcher, ein filmisches Triptychon, in dem Böttcher, der eigentlich Maler war, aber dann Dokumentarfilme machte, auch einen Spielfilm, der aber verboten wurde, sich auf sein ureigenes Terrain der Bildenden Kunst besinnt. Den Film Verwandlungen, in dem Böttcher drei berühmte Bilder aus der Kunstgeschichte verschieden übermalt und mit visuellen Reflexen aus der DDR-Gegenwart deformiert, hat uns der stellvertretende Kulturminister verweigert, mit der seltsamen Begründung, das seien Experimentalfilme, die passen nicht nach Oberhausen. Die sollten besser auf dem Experimentalfilmfestival im belgischen Knokke gezeigt werden. Aber dieses Festival gab es zu dem Zeitpunkt schon seit fünf Jahren nicht mehr. Das hat er nicht gewusst. Als ich ihn darauf hinwies, war er beleidigt. So verdruckst war man in den anderen Ostblockländern nicht. Wenn es schon mal knallte, dann richtig. Mit Polen gab es bei der Filmauswahl eigentlich nie Problem, nur ein einziges Mal mit dem Film Stolarz (Der Tischler) von Wojcech Wiszniewski. Da sagte man ganz dreist, dass ich einen Film eingeladen hätte, den es gar nicht gibt. Aber viele polnische Filmleute signalisierten mir ihr Verständnis. Als der Film dann ein paar Jahre später, 1981, in Oberhausen laufen konnte und den Großen Preis gewann, hatte das Warschauer Studio das Produktionsjahr 1977, in dem ich den Film sah und einlud, in den Credits stehen lassen. Das sind so Vorgänge, die ich mir in der DDR nicht vorstellen kann.
Bei den Filmen des DDR-Schwerpunkts in diesem Jahr haben mich die von Helke Misselwitz und Hinter den Fenstern von Petra Tschörtner am meisten beeindruckt. Da spürt man eine künstlerische Radikalität, die sich behaupten konnte.
Wichtig ist mir an dieser Stelle, dass das Wort „Dissident“, das man oft in diesem Zusammenhang hört, nicht immer passt. Nicht für Helke Misselwitz oder Jürgen Böttcher, das waren ja in dem Sinne keine Dissidenten. Und für Petra Tschörtner passt es wohl auch nicht. Sie alle waren wohl nicht feindlich gegenüber der sozialistischen Ideologie, forderten aber mehr Freiheiten – im alltäglichen Leben und in ihrer künstlerischen Entfaltung.
Trifft es der Begriff Eigensinn für Sie?
Ja, der trifft es. Oder besser noch Eigenwilligkeit. Das sind Filmemacherinnen und Filmemacher mit einem eigenen Ton, einem eigenen Ausdruck. Statt Bevormundung brauchten solche Künstler vor allem Freiheit. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“, sagte einst Hannah Arendt. Zu erfahren, dass das im real existierenden Sozialismus nicht so war, diese bittere Lektion lernte ich in meiner Oberhausener Tätigkeit schnell. Und diese Einsicht leitete mich auch bei der Filmauswahl.
Das Interview führte Benjamin Moldenhauer.

Wolfgang J. Ruf
(* 1943 in München) ist Autor, Publizist und Dozent. Sein Themenspektrum umfasst Kulturpolitik, Theater, Film, Medien, Literatur, Geschichte, Politik und Zeitgeschichte. Er war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne und Pressereferent des Deutschen Bühnenvereins, danach u. a. Chefdramaturg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Von 1975 bis 1985 leitete er die internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen.
Bildnachweise
Wink vom Nachbarn : © Harry Hornig
Wojciech Wiszniewski 1980: © Piotr Jaxa / Forum, via https://pleograf.pl
Porträtfoto Wolfgang J. Ruf: © James Ulmer
alle anderen Abbildungen: © Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen