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Die Oberhausener Kurzfilmtage als Austragungsort für politische Kontroversen: Das war früher nicht anders als heute. Festivalleiter Wolfgang Ruf (rechts) bei der Preisverleihung 1981 mit demonstrierenden Instandbesetzern.

Ein Wimmelbild der Erinnerungen

Westdeutsche Kurzfilmtage Oberhausen 1975 – 1985

von Wolfgang J. Ruf

Einst ließ die Stadt Oberhausen entlang der Schwartzstraße zwischen dem Hauptbahnhof und dem Hotel Ruhrland, wo die Mitglieder der Internationalen Jury und andere Ehrengäste untergebracht wurden, und der Luise Albertz-Halle, wo damals das Festival stattfand, die Flaggen der Länder hissen, aus denen Filme vertreten waren. Ich erinnere mich, wie der Leiter der ungarischen Delegation sich offiziell für die Ehre bedankte, dass die ungarische Flagge als einzige auf dem Rathausturm wehe. Er wolle aber doch darauf hinweisen, dass sie falschherum hängt. Auf dem Rathaus sei das nicht die ungarische Flagge, antwortete ich, sondern die von Nordrhein-Westfalen.

Auf einer Tournee mit preisgekrönten Filmen aus Oberhausen durch Indien musste ich mehrfach der Vermutung widersprechen, dass die Westdeutschen Kurzfilmtage die Veranstaltung eines „Upper House“ seien. Nein, Oberhausen sei keine parlamentarische Institution, sondern ganz einfach die Stadt, wo das Festival stattfindet.

Veranstaltungen mit preisgekrönten Filmen aus dem Archiv der Westdeutschen Kurzfilmtage fanden schon vor meiner Zeit statt. Ich habe diese Aktivitäten ausgebaut und war auch selbst oft dabei. Auf einheimischem Terrain war ich besonders gern jedes Jahr im Münchner Filmmuseum bei Enno Patalas zu Gast. Im Ausland fanden unsere Veranstaltungen meist in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut statt. Auf Kuba gab es kein Goethe-Institut, aber die Cinemateca Cubana (oder war es das Filminstitut ICAIC?) lud mich ein, in Havanna eine Oberhausen-Retrospektive zu zeigen. Die bundesdeutsche Botschaft nutzte meine Anwesenheit, um einen Empfang für die Filmszene auszurichten. Da ich, also der Leiter dieses ‚progressiven‘ Festivals im ‚reaktionären‘ Westen, persönlich einladen konnte, kamen selbst diejenigen, die sonst auf Distanz zur BRD-Botschaft blieben. Auch Santiago Álvarez, der mit seiner die Videoclips vorwegnehmenden Montagetechnik polemische Dokumentarfilme machte und damit vor allem die Linken im Westen entzückte. Bei ihm war ich ein paar Tage später zum Frühstück eingeladen. Auf seiner Terrasse mit karibischem Meerblick mischte er sich erstmal einen größeren Drink: halb Milch, halb Rum. So war es offensichtlich leichter, den Sozialismus unter Palmen auszuhalten.

Santiago Álvarez (1919 -1998)
Der experimentelle Kurzfilm NOW! (1965) von Santiago Álvarez auf Vimeo. Thema ist der Kampf der schwarzen US-Amerikaner gegen rassistische Diskriminierung.

Als ich im Jahr 1975 kommissarischer Leiter des Festivals wurde, erklärte mir der Kulturdezernent der Stadt mit knarziger Stimme die politische Linie: Mit der DKP könne ich durchaus zusammenzuarbeiten, das sei kein Problem – aber vor den Maoisten sollte ich auf der Hut sein. Nach dem Festival, als noch über meine definitive Berufung diskutiert wurde, legte er mir eine Akte vor, die ihm aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zugegangen war. Darin fand sich eine Ausgabe der Festivalzeitung der Leipziger Dokfilmwoche, in der ich mit höflichem Lob zum Festival in der DDR zitiert wurde. Man bewerte das aber nicht zu meinem Nachteil, betonte der Kulturdezernent. Ich sollte lediglich davon Kenntnis haben. Wohin war ich da geraten? Komisch, in der Erinnerung vermischen sich so manche Gespräche mit den Oberhausener Verantwortlichen in Politik und Verwaltung mit denen, die ich mit Funktionären im Osten führte.

Als ich 1975 mit der Festivalleitung beauftragt wurde, wusste ich, dass die Westdeutschen Kurzfilmtage zur Hochzeit des Kalten Kriegs auf der Naht zwischen West und Ost balancierten. Schnell lernte ich auch, wie unterschiedlich die Vorstellungen von diesem Festival waren und wie wichtig es war, es selbst immer wieder durch das Programm als unabhängigen Ort der Gegeninformation zu definieren.

Die erste Lektion dazu erfuhr ich im Juni 1975, als ich die preisgekrönten Filme aus Oberhausen beim Kurzfilmfestival in Krakau vorstellte. Der Dokumentarfilm Ein Streik ist keine Sonntagsschule von Mathias Knauer, Hans und Nina Stürm hatte den Großen Preis gewonnen, ich zeigte ihn als ersten Film. Schon nach wenigen Minuten begann sich das überfüllte Kino zu leeren.

Ein Streik ist keine Sonntagschule (Schweiz 1975)…
… ausgezeichnet mit dem Großen Preis der Westdeutschen Kurzfilmtage

Die ausführliche und einfühlsame Schilderung des ersten Streiks in der Schweiz seit langem traf nicht den Nerv des polnischen Publikums. Weder schätzte man, wie hier beim Arbeitskampf in einer Klavierfabrik die eidgenössischen Klischees unterlaufen wurden, noch wollte man sich im Gegensatz zu westlichen Linken daran delektieren, wie ein Klavierstimmer immer wieder die Melodie der Internationale anschlug. Dass Gegeninformation in Ost und West etwas anderes war, lernte ich schnell. In den damals noch ‚Dritte Welt‘ genannten Ländern habe ich mit Filmen aus dem Oberhausener Archiv noch weitaus überraschendere Erfahrungen gemacht.

Die größte Herausforderung meiner Oberhausener Zeit war immer wieder die Verteidigung der Unabhängigkeit des Festivals. Die Zeit, als man sich gegen Auflagen aus Bonn wehren musste, war mit Willy Brandts Ost-Politik vorbei. Aber sowohl wohlmeinende Unterstützer wie Kritiker der Kurzfilmtage wollten oft nicht wahrhaben, dass nichts im Programm von Kräften außerhalb oder über der Festivalleitung gesteuert wurde. Die Partner im Osten neigten dazu, ihre zuhause üblichen, von Parteipolitik und Geheimdienst geprägten Herrschaftsstrukturen auch bei uns vorauszusetzen – oder uns gar vorzuschreiben, wie das Oberhausener Festival zu agieren habe.

Diese Auseinandersetzungen wurden anhand von Filmen geführt, die wir zeigen wollten, aber nicht zeigen konnten – oder unbedingt zeigen sollten, aber nicht zeigen wollten. Der polnische Film Stolarz („Der Tischler“) von Wojciech Wiszniewski, den ich 1977 sah und einlud, der dann von der polnischen Seite als nicht existent bezeichnet wurde und wegen meines Beharrens auf der Einladung zum polnischen Boykott des Festivals führte, ist der besonders tragische und auch nach vielen Jahren noch schmerzende Fall einer solch parteipolitisch-bürokratischen Instrumentalisierung von Kunst. Als der Film dann 1981 doch in Oberhausen gezeigt werden konnte und mit dem Großen Preis ausgezeichnet wurde, war der Regisseur wenige Wochen zuvor im Alter von 35 Jahren einem Herzinfarkt erlegen.

Wojciech Wiszniewski 1980
Auf Vimeo: Stolarz (Der Tischler), Polen 1976

Es gab aber auch den Fall, dass ein Film sich geradezu angeboten hat, zur Überwindung von ideologisch gezogenen Barrikaden eingesetzt zu werden. Mit Errichtung und Enthüllung des Denkmals für den großen serbischen Satiriker Radoje Domanovic und andere Kundgebungen zur Feier seines 100. Geburtstags von Vuk Babic gelang das exemplarisch – auch dank der damaligen Festivalleiter-Kollegen in Krakau, Moskau und Leipzig. So erreichte diese treffsichere Verspottung jeglicher Obrigkeit mit dokumentarischen Mitteln, die wir in Belgrad entdeckt hatten, über Oberhausen auch das Festivalpublikum im Osten, das weitaus empfänglicher für so etwas war.

Wolfgang Ruf (links) mit Vuk Babic, 1975

Die bitterste Erfahrung machte ich 1981, als der gesamte Ostblock mit dem Boykott drohte, weil wir mit Prisoners of Conscience von John Willis einen Film im Programm hatten, der Bilder aus dem aktuellen Gulag zeigte. Auf einmal war die Unabhängigkeit des Festivals gegen den eigenen Rechtsträger und die Partei, die damals die Stadt und die Region dominierte, zu verteidigen. Der oberste SPD-Genosse empfahl mir, den Film aus dem Programm zu nehmen. Würde ich mich weigern und so den Boykott des Ostens verursachen, hätte ich mich auf Einsparungen gefasst zu machen. Ausgerechnet der sowjetische Kulturattaché, der mit dem Boykott gedroht hatte, löste mit einem diplomatischen Schachzug das Problem. Der Film blieb im Wettbewerb, die Delegationsleiter aus dem Osten protestierten pro forma, keiner reiste ab. Beim Genossen Heinz, der später auch Landesminister wurde, hatte ich mich mit diesem Gelingen nicht beliebter gemacht. Schon damals gab es in der SPD die Untertänigkeit gegenüber den Herrschenden im Osten, die später auch zur Unterschätzung Putins führte.

Von Jahr zu Jahr galt es einen neuen Anlauf, die Westdeutschen Kurzfilmtage als unabhängiges Forum künstlerischen und politischen Ausdrucks zu behaupten. Nach zehn Jahren und elf Festivals war es mir genug, zumal für mich eine andere Herausforderung in Sicht war. Bei den 31. Westdeutschen Kurzfilmtagen stellte ich eine Internationale Jury auf der Bühne vor, der ausschließlich Frauen angehörten. Manche waren verblüfft, aber letztendlich wollte ich nur darauf verweisen, dass es an kompetenten Frauen im Film nicht mangelt.

Wege zum Nachbarn: Plakat der Westdeutschen Kurzfilmtage 1975, dem ersten Dienstjahr von Wolfgang Ruf…
… und das Plakat von 1985, dem letzten Festival, das Wolfgang Ruf kuratierte.

Zu meinem Abschied wurde erwogen, wie ich zu ehren sei. Verlegen überreichte man mir eine keramische Nippes-Figur, die ich am Abschlussabend hinter einer Gardine im Foyer der Luise Albertz-Halle abstellte. Der Vorführer Manuel Camacho hatte an meinem letzten Festivalabend Tränen in den Augen. Er stammte aus San Sebastian, und war mir ein wichtiger Führer, wenn wir im Dezember non stop zum Kurzfilmfestival in Bilbao fuhren. Im Kofferraum hatten wir schon 1975, als Spanien noch unter Francos Schatten lag, einen Film des ominösen DDR-Studios Heynowski & Scheumann über den Putsch in Chile dabei. In der Hotelbar in Bilbao trafen wir den Kameramann dieses Studios, der nach ein paar Gläsern Brandy mit seinem BRD-Pass prahlte.

Im Kofferraum meines Wagens hatte ich auf dem Weg nach oder von Polen auch stets Filme dabei, was beim Transit durch die DDR immer wieder für Irritationen sorgte. Als die DDR-Grenzer 1982 auf den langen Dokumentarfilm Sierpien über den Streik auf der Danziger Werft im August 1981 stießen, fragte einer, ob das ein Tourismusfilm über Serbien sei. Ich nickte – und durfte weiterfahren. „Sierpien“ ist polnisch und heißt „August“.

Wolfgang J. Ruf

(* 1943 in München) ist Autor, Publizist und Dozent. Sein Themenspektrum umfasst Kulturpolitik, Theater, Film, Medien, Literatur, Geschichte, Politik und Zeitgeschichte. Er war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne und Pressereferent des Deutschen Bühnenvereins, danach u. a. Chefdramaturg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Von 1975 bis 1985 leitete er die internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen.

Sein Beitrag Ein Wimmelbild der Erinnerungen erschien zuerst im Katalog der 70. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024. Danke an den Autor.

Bildnachweise

Santiago Álvarez (1919 – 1998): © santioagoalvarez.org
Plakat und Szenenfoto Ein Streik ist keine Sonntagschule : © Filmkollektiv Zürich AG
Wojciech Wiszniewski 1980: © Piotr Jaxa / Forum, via https://pleograf.pl
Porträtfoto Wolfgang J. Ruf: © James Ulmer
alle anderen Abbildungen: © Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen

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