Lars Henrik Gass: Haltung, wo andere den Mund halten
Ein persönliches Porträt
von Achim Forst
Lars Henrik Gass hat als Leiter der Internationalen Kurzfilmtage 27 Jahre lang innovativ, stilbildend und erfolgreich gewirkt. Jetzt überrascht er uns mit der Mitteilung: Er verlässt Oberhausen und wird ab Februar 2025 als Gründungsdirektor das neue Haus für Film und Medien in Stuttgart aufbauen.
Der jugendlich wirkende Mann, der jetzt eigentlich hinter dem Pult am Bühnenrand seine erste Rede halten sollte, lief ruhelos mit dem Mikrofon in der Hand über die Bühne, immer wieder von rechts nach links und zurück. Dabei hielt er seine Rede, ohne Manuskript, assoziativ, sprunghaft, und doch mit rotem Faden und irgendwie brillant. Es schien, als könnten die Zuschauer dem Redner in der physischen Bewegung live beim Verfertigen und Aussprechen seiner Gedanken zuschauen.
Ich erinnere mich nicht genau, aber es ging – natürlich – um das Kino und um die Präsenz und die Rolle des Kurzfilms im öffentlichen Raum. Der Redner konstatierte und analysierte Defizite, doch er klagte nicht. Dabei führte er irgendwie Kurzfilm, Kultur und Öffentlichkeit in großen rhetorischen Bögen zusammen. Und so spürte wohl jeder Besucher, jede Besucherin der Eröffnungsveranstaltung der Kurzfilmtage Oberhausen 1998: Dieser neue Festivalleiter will als leitender Kurator tiefer bohren und hat viel mehr vor, als nur jedes Jahr international die besten Kurzfilme an Land zu ziehen und dann für einen ordentlichen Festivalablauf und zufriedene Gäste zu sorgen.
Intellektueller und Festivalmacher
Und so kam es: Lars Henrik Gass, gesellschaftlich engagierter Filmhistoriker und cinephiler Intellektueller, wurde ein äußerst erfolgreicher Festivalmacher, der sowohl in der Filmszene als auch in der Wissenschaft und in der Filmpolitik bestens vernetzt ist – dort auch aktiv als Impulsgeber, Autor und Verbandsgründer. Seine vielen kuratorischen Errungenschaften kann und will ich hier nicht alle würdigen und möchte nur als Beispiel seinen souveränen Umgang mit den Corona-Bedingungen erwähnen: Das virtuelle Festival 2020 und die damit verbundene und erhaltene Neuerung eines Video-Channels mit Gesprächen vor und während der Kurzfilmtage.
Ich kenne Lars Henrik Gass seit diesem ersten Eröffnungsabend 1998 als verlässlichen Partner bei der gemeinsamen Arbeit an der Medienpartnerschaft zwischen den Kurzfilmtagen und ZDF/3sat, die schon ein Jahr später begann und nach vielen Höhen und einigen besonderen Tiefen noch immer besteht. – Nein, wir sind und waren nicht immer einer Meinung, und die haben wir uns dann gegenseitig immer deutlich gesagt. Doch ich schätze sehr an Lars Gass, dass er klar, manchmal auch scharf Kritik und Bedenken formuliert, wo andere lieber den Mund halten, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen.
Kampf um den Kulturauftrag
Doch die großen Krisen unserer Zusammenarbeit fanden auf der institutionellen Leitungsebene statt: zuerst während des Irak-Kriegs, der zum Anlass für politische Querelen zwischen den Führungsetagen wurde, und dann 2020, als die ZDF/3sat-Leitung die Medienpartnerschaft kündigen wollte, weil für den Kurzfilm ihrer Meinung nach kein Platz mehr im Portfolio des Kulturkanals sein sollte.
Dass dieses Sich-davon-Stehlen aus dem öffentlich-rechtlichen Kulturauftrag –anders als geplant – überhaupt nicht reibungs- und geräuschlos durchgeführt werden konnte, ist Lars Henrik Gass zu verdanken – und natürlich seinen vielen namhaften Unterstützern aus der Film- und Medienbranche. Unter den Protestierenden waren auch fast alle Gewinner und Gewinnerinnen des (damaligen) 3sat-Förderpeises. Schließlich beschäftigte sich zum ersten Mal in der Geschichte des ZDF der Fernsehrat mit der Gattung Kurzfilm; danach wurde auf Rat und Initiative des damaligen Programmdirektors (und heutigen Intendanten) Norbert Himmler die Medienpartnerschaft fortgesetzt.
Seine schwerste Belastungsprobe als Festivalleiter musste Lars Gass nach dem Massenmord-Anschlag der Hamas im Oktober 2023 bestehen. Ein Facebook-Post, in dem er sich gegen die darauffolgenden pro-palästinensischen Freudekundgebungen in Berlin und gegen den dort und andernorts öffentlich praktizierten Antisemitismus ausgesprochen hatte, führten zu einem anonym organisierten Teil-Boykott der 70. Kurzfilmtage 2024. Wir haben die Ereignisse in unserem Oberhausen-Schwerpunkt behandelt:
Was ich infrage stelle, ist die sehr regressive Form der Politisierung. Dass man nur noch schreit und nicht zuhört. Man reklamiert Widerspruchsfreiheit. (…) Das hat nichts mehr mit Widerstreit um die bessere Kunst, um das bessere Argument, um die interessantere Weltsicht zu tun, sondern nur noch mit Partikularinteressen und der Durchsetzung von Meinungshoheit. (…) Wir müssen einen neuen Gesellschaftsvertrag in der Kultur aushandeln, wie wir miteinander umgehen wollen, auch mit dem grassierenden Antisemitismus dort. Dass Antisemitismus hier zum kulturellen Code gehören soll, oder gegenseitige Boykotte gar, darf nicht sein.
Welche Rolle die psychisch belastende und kräftezehrende Festivalvorbereitung unter Boykottbedingungen, noch dazu für ein Jubiläumsfestival, bei seiner Entscheidung gespielt haben mag, die Leitung der Kurzfilmtage aufzugeben und eine neue Aufgabe zu übernehmen, darüber wird bereits munter spekuliert. Wir wissen es nicht. Wenn Gass uns darüber Auskunft geben will, dann wird er es zu einer Zeit und in einer Form tun, die er für die richtige hält.
Avantgarde mit Offenheit
Was wir aber wissen: Lars Henrik Gass hat über eine Strecke von 27 Jahren das Festival nicht nur am längsten geleitet – gefolgt von Hilmar Hoffmann (16 Jahre) –, er hat die Kurzfilmtage auch mindestens so entscheidend geprägt wie deren ‚Gründungsvaterʻ. Gass schaffte in diesen Jahren beides: Dank eines hervorragend organisierten Festivalteams, das er vielleicht glücklich, aber auch mit viel Gespür auswählte – die meisten Mitglieder für viele Jahre – festigten die Kurzfilmtage ihren Ruf, die beste und wichtigste Bühne für die internationale Avantgarde zu sein. Parallel führte Gass Entwicklungen seiner Vorgängerin Angela Haardt (1990-1997) weiter und öffnete unter anderem das Festival für Musikvideos. Der MuVi-Wettbewerb feierte im vergangenen Jahr seinen 25. Geburtstag.
Was ich ebenfalls nicht weiß, aber sicher vermute: Lars Gass wird auch in Zukunft zur Film- und Medienpolitik und überhaupt zur gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes laut und deutlich seine Meinung sagen.
Danke und alles Gute für deine neuen Herausforderungen, Lars!
Bildnachweise
alle Fotos: © Achim Forst/Gespenster der Freiheit