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Bourdalou trifft Bohnenschnippler

Die Ausstellung Ausrangiert im Trierer Stadtmuseum erweckt den Zauber vergessener Dinge

von Manfred Etten

Lohlöffel und Versehgarnitur, Notkleid und Pulsette, Chromoplast und Tefifon, Stromdieb und Bourdalou: Die Namen sind zauberhaft, aber auch rätselhaft. Müssten wir raten, welche Dinge sich hinter diesen Namen verbergen, wären wir einigermaßen ratlos. Was eine Bahnsteigkarte ist, werden zumindest die Älteren unter uns noch wissen. Unter einem Bohnenschnippler kann man sich immerhin noch etwas vorstellen. Aber was zum Kuckuck ist eine Dröppelminna?

Das beliebte hr3-Ratespiel Dings vom Dach läuft andersherum: Der Moderator präsentiert zuerst ein rätselhaftes Ding (meist ein altes Werkzeug, einen aus der Mode gekommenen Gebrauchsgegenstand), und die Kandidaten im Studio müssen erraten, welchem Zweck dieses ominöse Objekt dient oder einst gedient hat. Bei der Auflösung des Rätsels erfahren wir dann auch, wie das Ding heißt.

Versehgarnitur, Stromdieb und Dröppelminna, Bahnsteigkarte und Bohnenschnippler sind nur einige von mehr als 200 zauberhaften, teils auch skurrilen und obskuren Dingen, die das Stadtmuseum Simeonstift Trier in seiner Sonderausstellung Ausrangiert – Vergessene Alltagsgegenstände und ihre Geschichten zusammengestellt hat. Hier werden die Dinge und die Namen, die uns beide fremd geworden sind, gewissermaßen wieder miteinander kurzgeschlossen. Die Art, wie das in Trier geschieht, beschert uns nicht nur viele lehrreiche Aha-Erlebnisse, sie bereitet auch ein sinnliches Vergnügen. Die Ausstellung ist überaus inspirierend. Um nicht zu sagen: zauberhaft.

things to remember: Ausrangiertes im Trierer Stadtmuseum

Zehn thematische Kapitel – von „Wohnen und Haushalt“ über „Arbeitsalltag“ und „Unterhaltung und Kommunikation“ bis zu „Körperpflege und Medizin“ – bilden die Stationen einer „nostalgischen Zeitreise in die jüngere Vergangenheit“, wie das Museum seine Präsentation nennt. Die Zeitspanne umfasst rund 100 Jahre, vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1990er. Die Exponate stammen aus dem Archiv des Museums und von privaten Sammlern, Leihgeberinnen und Leihgebern aus der Region. Das Spektrum reicht vom lebenswichtigen und lebenserhaltenden Gebrauchsgegenstand, bei dem allein die Nützlichkeit zählte, bis zum skurrilen Nippes und zu all dem schönen Kram, der streng genommen überflüssig ist, der aber unseren Alltag und den unserer Vorfahren aufgehübscht und bereichert hat. So versammeln sich in den hellen und luftigen Ausstellungsräumen des Simeonstifts Babyrassel und Lava-Lampe, Bonanza-Rad und Rattenfalle, Diddl-Maus und Nähkästchen, Grammophon und Rabattmarke, Glasmarker und Lochkartengerät, Sparschwein und Kackstuhl zu einem bunten, diversen und mitunter heiter-befremdlichen ‚Parlament der Dinge‘, in dem es keine Rangunterschiede und keine Hierarchien zu geben scheint. Denn alles ist etwas Besonderes, ist gleich wertvoll und gleichermaßen sehenswert.

Erhellendes zum Thema Beleuchtung. Vorne: der berüchtigte Stromdieb.

„Ausrangiert“ wurden die Parlamentsmitglieder im historischen Prozess und im Namen des Fortschritts. „Rund 10.000 Gegenstände kommen in einem durchschnittlichen Haushalt zusammen – mit zunehmender Mobilität und Lebensgeschwindigkeit gerne in mehrfacher Ausführung“, erläutert das Museum. „Vor 100 Jahren besaßen die Menschen viel weniger. Etwa 180 Dinge zählte der Hausstand einer Familie in Deutschland. Diese wurden gehegt und gepflegt, geflickt und repariert, geliebt und geschätzt und oftmals über Generationen weitergegeben. (…) Der Alltag veränderte sich, die Technik entwickelte sich weiter, Funktionen würden überdacht, Formen wurden dem Zeitgeschmack angepasst. Manche Dinge blieben dabei auf der Strecke. Ausrangiert oder unmodisch landeten sie in einer Kiste auf dem Dachboden. Oder im Museum.“

Dachboden und Museums-Archiv wären demnach so etwas wie Schlaf- oder Zwischenlagerstätten, wo das Ausrangierte im Verborgenen darauf harrt, irgendwann wieder aufgeweckt, ans Licht geholt und sozusagen wieder einrangiert zu werden: als Flohmarkt-Artikel in irgendeiner Grabbelkiste, als Vintage-Objekt auf dem Kleinanzeigen-Markt oder im günstigsten Fall sogar als Exponat in einer Ausstellung. An neuer Wirkungsstätte können die Dinge noch einmal ausleben, was in ihnen steckt. Doch in vielen Fällen ist dem Ausrangierten, so werthaltig es auch sein mag, kein zweites oder drittes Leben mehr gegönnt: Es bleibt endgültig auf der Strecke und landet auf dem Müll.

In deutschen Schubladen schlummert ein Schatz: Diese Schlagzeile war in letzter Zeit öfters zu lesen. Die Rede ist aber nicht von Bahnsteigkarten oder Bohnenschnipplern, gemeint sind die sogenannten Schubladenhandys (auch: Schlafhandys). Laut Branchenverband Bitcom lagen im Jahr 2022 in deutschen Haushalten rund 210 Millionen ausrangierte Handys herum. Die darin enthaltenen Mengen an Gold, Platin, Palladium, Kobalt und Lithium würden zusammengenommen ausreichen, um uns zehn Jahre lang mit neuen Smartphones zu versorgen. Schubladenhandys zählen zu den anthropogenen Rohstoff-Lagern, den sogenannten Urban Mines. Anders als die klassischen Minen im Erdinneren enthalten sie menschengemachte Schätze, die gerade heute in Zeiten der immer knapper werdenden natürlichen Ressourcen gehoben werden wollen. – Betreibt nicht auch die Trierer Ausstellung ein solches Mining? Auch hier werden menschengemachte Schätze gehoben, ihre Potenziale geweckt und wieder in Wert gesetzt. Nur dass der daraus entstehende Mehrwert kein materieller ist, sondern kognitiv, emotional und ästhetisch.

So gesehen ist die Ausstellung im Simeonstift eine Maßnahme zur Erkundung, Sicherung und Aktivierung unserer geistigen Ressourcen, die möglicherweise genauso knapper werden wie die natürlichen – auf einem Terrain, das lange Zeit als banal und wenig beachtenswert angesehen wurde. Ausrangiert fügt sich in einen Trend, den man als ‚Wiederentdeckung der Materiellen Kultur‘ und ‚Nobilitierung der gewöhnlichen Dinge‘ bezeichnet hat. Seit Ende der 1990er Jahre blicken Forscherinnen und Forscher, Publizistik, Medien und natürlich auch die Museumsleute neu und anders auf die Welt der Dinge, auf die ‚nichtsprachlichen Manifestationen‘ unserer Kultur und auf das Reich der Gegenstände als einen weitgehend noch unentdeckten Kontinent mit großer Artenvielfalt, den es zu erkunden und zu schützen gilt. Die Kulturwissenschaftlerin Gudrun M. König hat schon 2012 eine „anhaltende Leidenschaft der Dingerkundung“ beobachtet, die inzwischen längst nicht mehr nur auf akademische Kreise beschränkt, sondern im Mainstream angekommen ist.

Materielle Kultur

bezeichnet die physischen Objekte, Artefakte und Materialien, die von einer Gesellschaft hergestellt und genutzt werden. Dazu gehören Dinge wie Werkzeuge, Kleidung, Möbel, Kunstwerke, Architektur und technische Geräte. Materielle Kultur spiegelt unsere Bedürfnisse, Gewohnheiten, Werte, Überzeugungen, Ideologien und sozialen Strukturen – und wirkt auf sie zurück. Sie hilft dabei, das Verständnis für historische und gegenwärtige Gesellschaften zu vertiefen, indem sie zeigt, wie Menschen ihre Umwelt bewusst oder unbewusst gestalten und mit ihr interagieren.

Dingforschung, auch als Object Studies oder Material Culture Studies bekannt, ist ein kulturwissenschaftliches Forschungsfeld, das sich mit der Untersuchung von Objekten und deren Funktionen in verschiedenen kulturellen, sozialen und historischen Kontexten beschäftigt. Forscher analysieren nicht nur die physischen Eigenschaften von Objekten, sondern auch deren symbolische Bedeutungen und die Beziehungen, die wir zu diesen Dingen haben beziehungsweise in sie hineinprojizieren. Ob als Handwerkszeug, Souvenir, Wegwerfartikel oder Statussymbol: Es geht darum, wie Dinge hergestellt, genutzt, verbraucht, wahrgenommen und interpretiert werden und welche Rolle sie in bestimmten Epochen, unter wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen und in unterschiedlichen Kulturgemeinschaften spielen.

Dingforschung ist grundsätzlich interdisziplinär angelegt. Sie kann Aspekte und Methoden aus verschiedenen Fachgebieten wie Anthropologie, Archäologie, Ethnologie, Soziologie, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Konsumforschung und Design adaptieren und integrieren. Umgekehrt gibt sie Impulse für (und interveniert oft auch kritisch in) viele Sparten der Geisteswissenschaft bis hin zu Philosophie und Wissenschaftstheorie. Für die Museumskunde (Museologie) ist die Dingforschung besonders belangvoll, denn: „Alle Museen gründen auf der Hoffnung – auf der Überzeugung –, dass das Studium der Dinge zu einem besseren Verständnis der Welt führen kann.“ (Neil MacGregor, ehemaliger Direktor des British Museum)

Das boomende Thema hat auch in die TV-Welt Einzug gehalten in Gestalt der sogenannten Trödel-Shows mit dem ZDF-Dauerbrenner Bares für Rares an der Spitze. Seit 2012 wird dort über Wert und Unwert ausrangierter Dinge befunden und verhandelt – zum Glück lässt er sich am Ende meistens in Euro beziffern, sodass keine der beigebrachten Raritäten in die Tonne wandern muss. Das Format hat aber auch ein finsteres Double, einen diabolischen Begleiter. In Nicht nachmachen! (ZDF 2012-2013, seither regelmäßig wiederholt auf ZDFneo) ist das Ausrangierte nichts mehr wert, jeglicher Bedeutung und Bedeutsamkeit beraubt und nur noch lebloses Material, nackte Physik: Ein abbruchreifes Haus samt Vintage-Inventar wird von den beiden Comedians Wigald Boning und Bernhard Hoëcker lustvoll demoliert, zerdeppert, abgefackelt und stückweise in die Luft gejagt, wobei die Zerstörungs-Orgie von modernster Technik mit nahezu wissenschaftlicher Akribie ins Bild gesetzt wird. Nicht nachmachen! ist gleichsam die böse Rückseite von Bares für Rares, die andere Seite der Medaille. Sie erinnert uns daran, dass unsere Ökonomie auch von destruktiver Energie getrieben ist, dass unsere Beziehung zur materiellen Welt der Stoffe und Dinge nicht zu trennen ist von Machtmissbrauch und Ausbeutungsinteresse, dass die Schönheit und Vielfalt unserer kulturellen Artefakte, der Zauber unserer Konsumwelt mit Vernichtung, Raubbau und dem massenhaften Ausrangieren von Wertvollem erkauft ist – dass unser Zusammenleben mit den Dingen also nicht so friedvoll ist, wie wir es uns gerne vorstellen oder vormachen.

Im Simeonstift spielt diese dunkle Seite keine Rolle, und das ist ein großes Glück. Ich durfte mich dort ausgiebig und in aller Ruhe auf der hellen Seite umtun: zwei sehr angenehme, spannende und produktive Stunden, in denen mir die Augen übergingen und die Erinnerung auf Touren kam. Als ich danach ‚guter Dinge‘ durch die Trierer Fußgängerzone ging, vorbei an den Klamotten-Boutiquen, Souvenir-Shops und 1 Euro-Läden, musste ich daran denken, dass all diese schönen und weniger schönen Artikel und Utensilien, das Teure und das Billige, das Nützliche und das Überflüssige, der Luxus ebenso wie der Ramsch eines Tages ausrangiert sein wird. Vielleicht wird das eine oder andere Ding nach dem Ende seines ersten Lebens noch ein weiteres Bonus-Leben gewährt bekommen – irgendwo von irgendwem recycelt, in einer noch ungewissen Form und Funktion. Aber nur wenn es Glück hat. Die Ausstellung gemahnt auch an die Vergänglichkeit unserer Dingwelt (und bei längerem Nachdenken auch an unsere eigene).

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Ein kurzer Rundgang durch die Ausstellung mit Kuratorin Alexandra Orth

Den Zauber der Dinge nutzen

Ein Gespräch mit Kuratorin Alexandra Orth

Frau Orth, Ihre Ausstellung ist nicht chronologisch nach Jahrzehnten oder Epochen gegliedert, sondern thematisch nach Sachgebieten. Das hat zur Folge, dass sehr oft ältere neben neueren Gegenständen platziert sind. Als Kuratorin geben Sie den Dingen also sozusagen die Chance, über die Zeitdistanzen hinweg einander zu begegnen – auf demselben Tisch oder in derselben Vitrine, in einer Nähe und einem Direktkontakt, die sie in ihrem jeweiligen ‚früheren Leben‘ zueinander nicht hatten. Damit wird der Wandel sinnfällig, den Gebrauchsgegenstände, die dieselbe Funktion haben, im Lauf der Zeit durchgemacht haben. Hat das Konzept darüber hinaus noch weitergehende museologische oder kulturwissenschaftliche Hintergründe? Wie ‚postmodern‘ ist Ihre Ausstellung?

Alexandra Orth: Das haben Sie sehr schön beschrieben, und ich freue mich, dass diese Präsentationsdidaktik aufgeht. Wir wollten zudem mit dem Auffindungskontext der Dinge spielen: In einer Kiste auf dem Dachboden oder auf dem Flohmarkt findet sich Ausrangiertes aus verschiedenen Jahrzehnten nebeneinander und lädt zum Entdecken und Wiederentdecken ein. Es ist verblüffend, wie viel Zeit man dabei mit dem Stöbern in Erinnerungen verbringen kann. Diesen Effekt wollten wir für den Aufenthalt im Museum nutzen. An den Begriff ‚postmodern‘ haben wir dabei gar nicht gedacht, aber schön, dass Sie ihn aufgreifen. Eine eklektizistische Art der Präsentation bereitet natürlich auch ein großes Vergnügen.

Die Ausstellung überrascht durch ihre ungewöhnliche Präsentationsform: Die Exponate sind auf Spanplatten ausgebreitet, die auf einfachen Holzböcken liegen, und Dokumente, Plakate und Bilder sind mit buntem Klebeband an die Wände geklebt – eine Anmutung irgendwo zwischen IKEA-Ästhetik und Flohmarkt-Feeling. Das Ganze kommt betont schlicht daher, ohne große Geste, hat fast Werkstatt-Charakter und wirkt deshalb sehr nahbar und einladend. Was sind die Ziele und Vorteile einer solchen Rahmung, außer dass sie dabei hilft, beim Publikum eine eventuell vorhandene Schwellenscheu abzubauen?

Alexandra Orth: Tatsächlich war die Idee des Flohmarkts auch für die Ausstellungsarchitektur eine große Inspiration. Sie soll die Besucher dazu einladen, mit den Objekten direkter in Kontakt zu treten – manche darf man daher sogar anfassen und benutzen. Außerdem hat uns das die Möglichkeit geboten, eine große Vielzahl an Gegenständen zu präsentieren. So konnten wir die vielen Objektvorschläge berücksichtigen, die von den Besucherinnen und Besuchern an uns herangetragen wurden. Hätten wir die Auswahl begrenzt und nur eine kleine Objektzahl in einer Vitrine geadelt, wäre die Fülle des Erinnerungsschatzes, den die Dinge mitbringen, nicht so groß geworden.

Kann man Ihre Ausstellung nicht auch als Kunst-Ausstellung betrachten? Manches wirkt in seiner unverhofften Zusammenstellung ja tatsächlich wie die berühmte Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Seziertisch. Und einige Ensembles, einige Vitrinen könnten eins zu eins in eine Avantgardekunst-Ausstellung übernommen werden: Ausrangiertes als Assemblage-Kunst.

Assemblage-Kunst oder Alltagskultur? Der Unterschied liegt im Auge des Betrachters.

Nach der Aufwertung zum Kulturgut, die die ‚armen‘ und kunstlosen Dinge erfahren haben, indem sie ins Museum kamen, wäre es zu einer weiteren Aufwertung zum Kunstobjekt eigentlich nur noch ein kleiner Schritt…

Alexandra Orth: Der Anspruch war insofern künstlerisch, als dass wir sehr viel Zeit in die Anordnung der Objekte investiert haben. Es war uns wichtig, dass im Zusammenspiel von Form und Farbe ein ansprechendes Gesamtbild entsteht, durch das selbst einfachste Alltagsdinge plötzlich zu einem Kleinod werden. Dieses Arrangement trägt sehr zur Emotionalisierung bei. Wir wollten den Zauber der Dinge nutzen, um die Aufmerksamkeit auf ihre Geschichten zu lenken.

Was wir in der Ausstellung sehen, ist ja das Resultat von Auswahl-Entscheidungen. Die Dinge sind vorher durch einen Casting-Prozess gegangen. Nicht alles, was in Ihrem Archiv liegt, hat es in die Ausstellung geschafft, und nicht alles, was Sie bei privaten Sammlern entdeckt haben, wurde für geeignet befunden.

Alexandra Orth: Wir haben fast nur Dinge aussortiert, die uns mehrfach angeboten wurden. Das kam allerdings häufiger vor. Insofern sind die Objekte, die wir zeigen, sozialgeschichtlich ganz interessant für Trier und die Region Mosel, Saar, Eifel und Hunsrück. Sie erzählen viel über Traditionen und Gepflogenheiten, aber auch Moden und Trends, die hier in den vergangenen 100 Jahren eine größere Rolle gespielt haben. Für weitere Forschungszwecke wäre die Auswahl daher sehr spannend.

Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt?

Alexandra Orth: Bei den Dopplungen war am Ende der Zustand ausschlaggebend. Grundsätzlich hatten die Leihgeberinnen und Leihgeber aber ein gutes Gespür, was für die Ausstellung relevant sein könnte. Wir hatten einen Aufruf über die Medien gestartet: Haben Sie auf Ihrem Dachboden einen Alltagsgegenstand von früher, der heute in Vergessenheit geraten ist und eine besondere Geschichte zu erzählen hat? So kamen Objekte mit einem großen Storytelling-Potential zusammen. Wir hatten bereits im Vorfeld eine Wunschliste, was wir persönlich gerne in der Ausstellung zeigen würden. Die hat sich tatsächlich weitestgehend mit den Objekten gedeckt, die uns angeboten wurden. Es hat uns sehr verblüfft, wie groß letztlich die Schnittmenge an gemeinsamen Erinnerungen ist. Dieses verbindende Element lässt sich auch bei den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung beobachten.

Insgesamt zeigt die Ausstellung nur die Spitze eines Eisbergs der „vergessenen Dinge“, quasi deren Elite. Den Dingen ist dadurch, dass sie zum Ausstellungsstück erkoren wurden, gewissermaßen ein später Karriere-Höhepunkt in ihrer Objektbiografie gegönnt worden. Dem steht die ungeheure Menge derjenigen Alltagsgegenstände gegenüber, die in der Hierarchie des Vergessenwerdens ganz unten rangieren, die es noch nicht einmal in den Archivkeller eines Museums oder in eine Privatsammlung geschafft haben, geschweige denn in eine Ausstellung. Man könnte zugespitzt auch sagen: Ist die Grenze zum Kunstwerk die nach oben, dann ist die Grenze nach unten die zum Müll. Wenn ich die Redeweise vom ‚Eigenleben der Dinge‘ beim Wort nehme, muss ich fragen: Ist das nicht schrecklich unfair? Und: Hat Ihre so positiv gestimmte (und stimmende) Ausstellung deshalb nicht auch einen verborgenen traurigen Zug, weil sie indirekt auch von riesigen Verlusten, einem großen Verschwinden und einem endgültigen Vergessenwerden erzählt?

Alexandra Orth: Oh ja, das stimmt. Es schwingt auch Melancholie mit. Daher berühren mich tatsächlich am meisten die ganz banalen Dinge. Eine ältere Dame hatte uns bei einer unserer Veranstaltungen einen Holzkochlöffel gezeigt, den sie von ihrer Großmutter geerbt hat. Dieser Löffel war durch den täglichen Gebrauch von drei Generationen auf nur noch wenige Zentimeter geschrumpft – wie auf Puppenküchengröße. Wir konnten sie nicht überreden, uns den Löffel für die Ausstellung auszuleihen, weil er für sie einen unersetzlichen ideellen Wert hat.

Welches ist Ihr Lieblings-Ding in der Ausstellung?

Alexandra Orth: Auch eins meiner persönlichen Lieblingsstücke in der Ausstellung ist ein Küchenartikel, den viele wahrscheinlich entsorgt haben: ein grellbunter Plastikeierschneider aus den 70er-Jahren. Als Kind hat mich dieses kleine Gerät immer sehr fasziniert. Nicht, dass ich es heute im Haushalt vermisse, aber als ich es in der Ausstellung nach Jahrzehnten wiedergesehen habe, hatte ich unwillkürlich ein Bild von Familienleben und Kindheit im Kopf. Auch wenn wir die Objekte nicht retten können, versuchen wir daher, mit einer Oral History-Aktion die Erinnerungen festzuhalten.

Was sollen die Gäste aus der Ausstellung mitnehmen? Sollen die Besucherinnen und Besucher zum Beispiel künftig weniger wegwerfen beziehungsweise vorher die Objektbiografien bedenken? Was wären die möglichen und auch gewünschten Konsequenzen für unser weiteres Leben im Umgang mit den Dingen?

Alexandra Orth: Wenn man in der Ausstellung etwas wiederentdeckt, das man selbst einmal besessen und auf den Müll geworfen hat, kommt man natürlich ins Grübeln. Vor allem, weil die Dinge alle noch – mehr oder weniger – funktionsfähig sind. Insofern soll die visuelle Freude der Ausstellung auch den aktuellen Trend bekräftigen, Vintage-Produkten eine zweite Chance zu geben. Ich würde mir aber auch wünschen, dass die Besucherinnen und Besucher etwas ganz Persönliches für sich mitnehmen: dass durch die Objekte unserer Ausstellung bei ihnen Erinnerungen geweckt wurden, die sie längst vergessen geglaubt hatten. Es fällt auf, wie sehr unsere Gäste miteinander ins Gespräch kommen. Menschen unterschiedlicher Generationen und Kulturkreise tauschen sich über ihre Alltagserfahrungen aus. Das ist für alle bereichernd.

Ausrangiert.

Vergessene Alltagsgegenstände und ihre Geschichten

Eine Sonderausstellung im Stadtmuseum Simeonstift Trier vom 07. Juli bis 27. Oktober 2024

Stadtmuseum Simeonstift Trier, Simeonstraße 60, neben der Porta Nigra, 54290 Trier

Öffnungszeiten: Di. bis So. von 10 bis 17 Uhr

Eintritt: 6 €, ermäßigt 4,50 €, Gruppen ab 10 Personen: 4,50 € p. P., Kinder bis 10 Jahre frei

zum Weiterlesen

Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 22014

Hans Peter Hahn (Hrsg.): Vom Eigensinn der Dinge. Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen. Berlin: Neofelis Verlag 2015

Gudrun M. König: Das Veto der Dinge. Zur Analyse materieller Kultur. In: Karin Priem (Hrsg.); Gudrun M. König (Hrsg.); Rita Casale (Hrsg.): Die Materialität der Erziehung. Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte. Weinheim u.a.: Beltz 2012 via www.pedocs.de (PDF-Volltext)

Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2001

Andreas Ludwig: Materielle Kultur. Zeithistorische Forschung Potsdam e.V. 2020, Docupedia-Zeitgeschichte (PDF-Volltext)

Andreas Ludwig: Geschichte ohne Dinge? Materielle Kultur zwischen Beiläufigkeit und Quelle. Historische Anthropologie 2015 (PDF-Volltext)

Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. München: Verlag C.H. Beck 2011

Wolfgang Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2016

Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2016


Manfred Etten

Autor & Leser, verfertigt Schriftstücke & Bilder. Wenn er das nicht tut, wandert er am liebsten durch die offene Landschaft. Motto: „Ain’t talkin‘, just walkin'“ (Bob Dylan).
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Ausrangiertes in der Kunst

Der Schweizer Daniel Spoerri (*1933 in Rumänien) wurde für seine Arbeiten im Bereich der Konzeptkunst und der Assemblage bekannt und war Mitbegründer der Bewegung Nouveau Réalisme, die sich einer „neuen Annäherung der Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale“ verschrieb. Berühmt sind seine Essenfallen (Tableaux Piégés), bei denen er Tischszenen mit den Überresten von Mahlzeiten als Kunstwerk arrangiert. Spoerri thematisiert hintersinnig die Vergänglichkeit des Lebens und die Beziehung zwischen Kunst und Alltag. Sein Werk leitet uns an, die Schönheit und Bedeutung in den scheinbar trivialen Aspekten des Lebens zu erkennen und zu schätzen.

Der Frankfurter Sammler und Konzeptkünstler Karsten Bott (*1960) betreibt seit 1988 das Archiv für Gegenwarts-Geschichte. Darin sammelt er Alltagsgegenstände, die von Museen und Archiven oft vernachlässigt werden. Er möchte „eine Kopie, ein netzartiges Abbild unserer Umwelt“ schaffen. Die Sammlung ist auf Vollständigkeit angelegt, wird aber wohl nie vollendet sein. Sie beinhaltet inzwischen mehr als 500.000 Objekte. 1.507 davon sind seit 2021 ist der Dauerausstellung Von jedem Eins im Historischen Museum Frankfurt zu sehen und können auch online von daheim aus angeschaut werden.

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Der Bildende Künstler, Musiker und Filmemacher Michael Schulze (*1952) beschäftigt sich seit Jahrzehnten intensiv mit Ausrangiertem. Sein Kindheitsschrank (1993) enthält 12 „Schubladen-Reliefs“: Assemblagen aus Alltagsdingen, Dokumenten und Fotos, die jeweils für prägende Erfahrungen und Ereignisse in seiner frühen Biografie stehen. Der körperliche, haptische, lebensweltlich konkrete und „morphologische Umgang mit den Dingen“ sowie die „Empathie für Formen, Farben und Materialien“, mit der er den Dingen begegnet, spielen eine zentrale Rolle in seinem Kunstverständnis.

Orhan Parmuk und sein Museum der Unschuld

Das Museum der Unschuld ist sowohl ein Roman von Orhan Parmuk als auch ein von ihm erbautes Museum in Istanbul. Der Liebesroman erzählt vom Leben in Istanbul zwischen 1950 und 2000 und von zwei Familien, die eine reich, die andere bürgerlich. Im Museum werden die Alltagsgegenstände, welche die Figuren des Romans benutzen, tragen, hören, sehen, sammeln und träumen, seit 2012 in sorgfältig arrangierten Kisten und Vitrinen ausgestellt. Ein interessanter Sonderfall künstlerischer Sachforschung: Transfer von erinnerungsträchtigen Dingen vom Buch ins Museum.

Bildnachweise

Hell, luftig und einladend… + Bild im Info-Kasten: © Stadtmuseum Simeonstift Trier

Alexandra Orth: © Stadtmuseum Simeonstift Trier, Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=tuty4wep37Q

Daniel Spoerri: © Ausstellungshaus Spoerri https://spoerri.at/de/

Karsten Bott-Archiv: © Camilo Brau

Orhan Parmuk und sein Museum der Unschuld: © Masumiyet Müzesi

alle anderen Fotos: © Manfred Etten/Gespenster der Freiheit

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