Streaming-Tipp
Das deutsche Kettensägenmassaker von Christoph Schlingensief, BRD 1990

Zeitreisen mit Stressfaktor

Nur noch bis Ende des Monats: die Filme der Kinemathek-Streaming-Reihe Selects #11 Cult and Quirky

von Achim Forst

Nein, früher war nicht alles besser, auch nicht alle Filme, die vor Jahrzehnten erfolgreich und/oder stilbildend waren und auch nicht alle damals übersehenen Werke. Die elfte Ausgabe von Selects, dem Streaming-Angebot der Deutschen Kinemathek in Berlin, enthält für mich persönlich nur wenige Filme, die ich 40 oder mehr Jahre nach ihrer Entstehung gerne noch einmal oder zum ersten Mal anschauen möchte.

Doch wahrscheinlich sind ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ in diesem Fall nur die falschen Begriffe. Wir können mit vielen in ihrer Zeit wichtigen Filmen heute einfach nicht mehr viel anfangen: mit der Redseligkeit vieler Werke des Neuen deutschen Films der 1970er und 80er Jahre, den ermüdenden Selbstbespiegelungen, den Animositäten der Protagonisten, die meist auch die ihrer Darsteller(innen) und Regisseur(innen) waren, und den Versuchen mancher Autor(inn)en, auch die letzte Gefühlsregung ihrer Figuren in Dialogsätzen festzuhalten. Allerdings erinnere ich mich daran, dass das – bei jeweils unterschiedlichen Filmen – schon damals vielen Zuschauer(inne)n und auch mir selbst auf die Nerven ging.

Aber natürlich lohnt es sich trotzdem, die Filme der Auswahl Cult and Quirky anzuschauen oder zumindest hineinzuschauen. Der sorgsam kuratierte kostenfreie (!) Streaming-Service der Deutschen Kinemathek lädt auch hier wieder ein zu einer Zeitreise in die Vergangenheit, bei der wir durchaus interessante Retro-Erfahrungen machen können, auch wenn diese teilweise mit gewissen Strapazen verbunden sind.

Agenten, Kosmonautinnen, größenwahnsinnige und gescheiterte Existenzen tanzen, singen und morden in neun Filmen, die sich zwischen Kult, Genre und Trash bewegen. Immer geht es um das große Ganze: Liebe, Sex, die Abgründe der Seele und die Rettung der Welt vor dem Bösen. Mal pathetisch, mal komisch, aber auf jeden Fall schräg – die Geschichten nutzen Genrekonventionen als Spielwiese für visuelle und narrative Experimente. Die 11. Ausgabe von „Selects“ ergänzt mit einem Augenzwinkern das Filmprogramm der diesjährigen Retrospektive der Berlinale, die deutsche Genre-Filme der 1970er-Jahre präsentiert.

Deutsche Kinemathek

Der neueste, Christoph Schlingensiefs schwarze und wilde Vereinigungs- und Zerstückelungs-Satire Das deutsche Kettensägenmassaker, mit ihrem bunten Cast von Alfred Edel bis Irm Hermann und Udo Kier, hat angesichts der politischen Entwicklung, die unser Land seit 1990 und zumal in jüngster Zeit genommen hat, wohl noch das größte Kult- beziehungsweise Aktualitäts-Potenzial. Prädikat: erschreckend gut gealtert.

Rosa von Praunheims Anita – Tänze des Lasters, ein Film, den ich ehrlich gesagt damals gemieden habe, ist eine liebevolle, von Elfi Mikesch gut fotografierte, von Praunheim und Mike Shepard, seinem Co-Editor bis heute, ebenso hervorragend montierte Hommage an das deutschen Stummfilm-Kino der 1920er Jahre – das expressionistische und das linke, sozialkritische. Außerdem ist er auf einer zusätzlichen, eher realistischen Erzählebene eine Performance-Plattform für die einzigartige, damals 75jährige Tänzerin und Schauspielerin Lotti Huber, die als Jüdin in Konzentrationslagern der Nazis gesessen hatte und in Praunheims Filmen der 1980er Jahre zum Star wurde.

Anita: Berlin. Berlin ist ein Sündenbabel, und ich bin seine Königin. Ich tapeziere meine Wände mit Pelzmänteln. Ich werde bejubelt, gefeiert, bewundert, eingeladen. Ich lebe im Rausch, der wie eine Woge von Blut daherkommt.

Rosa: Blut! Spartakisten werden ermordet, und du tanzt! Wir stürmen das Polizeipräsidium, und du tanzt! Millionen Arbeitskräfte sind im Krieg hingeschlachtet, der am Leben Gebliebenen harrt bei der Heimkehr das grinsende Elend von Hunger und Arbeitslosigkeit, und du tanzt!

Anita: Hm, was geht mich das alles an? Ich will nicht aus dem dreckigen Landwehrkanal gezogen werden so wie du. Ich will’s den Spießern zeigen. Meine Revolution ist die Revolution der Hemmungslosigkeit. (…) Was interessiert mich die Zukunft? Ich lebe nur für den Augenblick!

Dialog zwischen Anita Berber (Lotti Huber) und einer Rosa Luxemburg (Eva-Maria Kurz) in der psychiatrischen Klinik

in „Anita – Tänze des Lasters“

Noch einmal Elfi Mikesch: Ihr Spielfilm Macumba ist ebenfalls eine Art ‚Star-Vehikel‘, nämlich für die Schauspielerin Magdalena Montezuma: an West-Berliner Schauplätzen gedreht, ästhetisch und thematisch aber angesiedelt in einer Phantasiewelt, aus der wir – heute vielleicht mehr als damals – das Knirschen des Dramaturgie- und Drehbuch-Getriebes überdeutlich heraushören.

Dazu passt gut Robert van Ackerens Belcanto oder Darf eine Nutte schluchzen? Der Regisseur, der als herausragender Kameramann schon vorher an wichtigen Werken des Neuen deutschen Films mitwirkte (zum Beispiel Roland Klicks Bübchen und Deadlock), verarbeitet hier sehr stilbewusst einen gesellschaftskritischen Roman Heinrich Manns zu perfekt gestalteten Schwarzweiß-Tableaus mit Stummfilm-Posen. Doch im Gegensatz zu den Filmen Praunheims und Mikeschs inszeniert van Ackeren schon hier eine spürbare kühle Erotik und spröde Sinnlichkeit, die später seine Kinofilme Die flambierte Frau und Die Venusfalle so erfolgreich machten. Nach einer Stunde freilich, als die Darsteller ihre Monologe nur noch sangen, wurde auch dieser Film für mich zunehmend zum Stressfaktor.

In einem ganz anderen filmischen Universum bewegte sich Lothar Lambert: Sein lakonischer und selbstironischer Low-Budget-Spielfilm Fucking City öffnet einen Blick in das Werk dieses besonderen, jahrzehntelang unermüdlich produzierenden autodidaktischen Underground-Regisseurs und in die gesellschaftlichen und erotischen Befindlichkeiten der West-Berliner in den letzten Mauerjahren.

Jetzt versuche ich mal was anderes. Möchte mal einen Film machen, der auch in Studentenkinos gezeigt werden kann oder so. Heute gibt’s ja eine Menge Leute, die so ’ne Ein-Mann-Produktion machen, für wenig Geld. Eine Story habe ich noch nicht, aber mir gehen eine Menge Ideen durch den Kopf. Es müsste was über Berlin sein, irgendwas, wo die Stadt ’ne große Rolle bei spielt. Mit viel Sex und Action und Gewalt – das alles muss rein. Das ist cool, alles was so passiert, halb dokumentarisch, halb erfunden. Das macht mir Spaß, das gefällt mir.

Hobby-Schmalfilmer Rüdiger (Stefan Menche)

in „Fucking City“

Auf der anderen Seite der Berliner Mauer: Die DDR-Familienkomödie Der Mann, der nach Oma kam nahm 1971 am Beispiel einer Künstlerfamilie der gehobenen DDR-Gesellschaft ironisch Geschlechterrollen und familiäre Arbeitsteilung aufs Korn. Als die Oma, die den Familienladen durch ihren Rund-um-die-Uhr-Einsatz immer am Laufen hielt, plötzlich wieder heiratet, taucht als Haushaltshilfe ein patenter junger Mann auf, der unerwartet und super erfolgreich den gesamten Haushalt schmeißt. Wie dieser Erwin Graffunda, gespielt von Winfried Glatzeder (zwei Jahre später Hauptdarsteller in Angela Merkels Lieblingsfilm Die Legende von Paul und Paula) aus diesem Plot wieder herauskommt, möchte man nach der turbulenten ersten Hälfte des Films schon gern wissen …

Der andere DDR-Beitrag, Im Staub der Sterne von Gottfried Kolditz, hat mich weniger neugierig gemacht, ist aber mit seinem pop-psychedelischem Styling, den merkwürdigen, wild eingestreuten Tanz-Choreografien und den für sozialistische Verhältnisse sehr freizügigen Nacktszenen auf jeden Fall ‚quirkyˋ. Das eigentliche Thema, die unterirdische Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung eines Planeten durch bösartige Machthaber, erinnernd an Fritz Langs Metropolis, wird dabei zur Nebensache.

Nicht ‚quirky‘, für das BRD-Mainstream-Kino der 1960er Jahre aber bemerkenswert schräg und selbstironisch ist die James-Bond-Parodie Serenade für zwei Spione von Michael Pfleghar und Alberto Cardone. Nun war der damals beim Fernseh-Publikum sehr beliebte westdeutsche Schauspieler Hellmut Lange kein so komödiantisches Agenten-Talent wie sein amerikanischer Kollege Don Adams in der auch in Deutschland erfolgreichen TV-Serie Mini-Max oder später die Comedy-Cop-Kanone Leslie Nielsen. Als John Krim, Agent 006, will und soll Lange keine lächerliche Figur abgeben, sondern bei seiner Mission doch ein bisschen Connery-Glamour produzieren. Co-Regisseur und Co-Autor Pfleghar inszenierte den Film aber mit so viel Sinn für Blödsinn und absurde Wendungen – dabei selbstironisch auch auf das im Vergleich zu den ‚echtenˋ Bond-Filmen sicherlich sehr bescheidene Budget anspielend –, dass man den Film auch heute noch wenigstens streckenweise mit Vergnügen anschauen kann.

Den Secret-Service-Boss und Auftraggeber von 006 spielte übrigens der große Kabarettist Wolfgang Neuss. Der hätte sich ganz bestimmt über die Trigger-Warnung der Kinemathek in der Inhaltsangabe lustig gemacht, dass der Humor dieses Films „dem Zeitkolorit der 1960er-Jahre entspricht und heute teilweise als frauenfeindlich empfunden werden kann‟.

Achim Forst
Liebt Filme-Editieren und Fahrradfahren, Podcasts- und Musik-Hören und -Spielen. War 30 Jahre Redakteur der Filmredaktion 3sat des ZDF, Autor von TV-Dokumentationen, vorher freier Film- und Musikjournalist, Hörfunkautor und Programm-Mitarbeiter von Filmfestivals.

Bildnachweise

alle Abbildungen: © Deutsche Kinemathek

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