Claus Peymann im Garten seines Hauses in Berlin-Köpenick, 2004

Ein Theater für die Republik – wo auch immer

Erinnerungen an Claus Peymann, ganz persönlich

von Wolfgang J. Ruf

An großen Worten fehlt es nicht zu Claus Peymanns letztem Abgang. Der Regisseur und Theaterleiter verstarb im Alter von 88 Jahren am 16. Juli 2025 in Berlin. Die Überschriften der Nachrufe überboten sich geradezu, hier nur ein paar Beispiele: „Der letzte König des Theaters“ (Süddeutsche Zeitung, München), „Der moralische Anstaltsleiter“ (taz, Berlin), „Vater und zugleich rebellischer Sohn“ (Frankfurter Rundschau), „Ein Meister der Standpauke und ein Liebender des Theaters“ (Berliner Zeitung), „Das Theater, das bin ich: Zum Tod des großen Bühnenkönigs“ (Tagesspiegel, Berlin), „Ein Besessener des Theaters“ (Berliner Morgenpost), „Ein Clown mit Haltung“ (stern, Hamburg). Am häufigsten wird der zweifellos bedeutende Theaterkünstler und -manager als „Legende“ tituliert, auch vom „Theaterpapst“ habe ich irgendwo gelesen. Die Esslinger Zeitung, die nah an Peymanns früherem Wirkungsort Stuttgart erscheint, nennt ihn wohl in Erinnerung an einstige Aufregungen einen „aufmüpfigen Querdenker“, und die Kleine Zeitung aus Graz und Klagenfurt raunt: „Sein Wiener Herz schlägt nicht mehr!“ – mehr zu dieser merkwürdigen Überschrift am Ende.

Aber es geht noch größer. „Er war ein Titan des Theaters“, verlautbarte der neue deutsche Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und fuhr fort: „ein Meister der Zumutung und Erneuerung – ein Regisseur, der die Bühne stets auch als Kampfschauplatz verstand: für Kunstfreiheit, Reibung, radikale Wahrhaftigkeit.“ (Deutschlandfunk Kultur, 18. Juli 2025) Handfester wurde das in Wien erscheinende Magazin profil: „Der Theaterberserker – Claus Peymann war nicht nur Theatergenie, Machtmensch, Despot und Kunstautist, sondern mit großem Vergnügen auch Staatsfeind.“

Derart pompöses Wortgetöse liegt mir nicht nur fern, es scheint mir auch überhaupt nicht dem Künstler und Menschen Peymann zu entsprechen. Meine Erinnerungen an ihn sind jedenfalls andere.

„Gewaltiges Entertainment“

Schon früh geriet der Regisseur Peymann in meinen Gesichtskreis. Als Student der Theater- und Literaturgeschichte in München erlebte ich seine Inszenierungen von Peter Handkes Theatertexten Publikumsbeschimpfung und Kaspar, 1966 und 1968 am Theater am Turm TAT in Frankfurt am Main, an dem er damals seine ersten weithin beachteten Inszenierungen machte. Vielleicht sah ich auch die Pantomime Das Mündel will Vorbild sein, ebenfalls von Peter Handke und auch von Claus Peymann am TAT auf die Bühne gebracht. Diese Frankfurter Inszenierungen gastierten bei den Werkraumtheater-Wochen der Münchner Kammerspiele, wo damals alljährlich außergewöhnliche Studio-Inszenierungen aus der ganzen Bundesrepublik gezeigt wurden.

Immer wieder ging es in diesen Stücken um Autorität und Unterwürfigkeit, um die Abhängigkeiten in einer strengen Gesellschaftsordnung – und um die Rollen, die das Individuum dabei übernahm oder in die es gezwungen wurde. Handkes Spielvorlagen nahmen damit durchaus die Unruhe auf, die von der damaligen Jugend ausging und schon vor 1968 vielerorts zu brodeln begann. Interessant, dass diese frühen Handke-Texte gleichzeitig auch am Stadttheater Oberhausen im Ruhrgebiet vom Regisseur Günter Büch uraufgeführt wurden und dort ebensolches Aufsehen machten. Auch die Wiederbegegnung mit Rüdiger Vogler, mit dem ich als Gymnasiast einst als Statist auf den Brettern am Badischen Staatstheater in Karlsruhe stand und der nun in diesen Peymann-Inszenierungen als Profi-Schauspieler brillierte, gehört zu dieser Erinnerung. Vor allem aber auch, dass diese Theaterereignisse, die vom älteren Publikum als so provozierend empfunden wurden, doch eigentlich sehr kurzweilig waren. Gerade die so heftig umstrittene Publikumsbeschimpfung, bei der es sogar zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen sein soll, habe ich noch als freches Theatervergnügen vor Augen und im Ohr.

Schlussszene des Handke-Stücks Publikumsbeschimpfung, 1966, Theater am Turm, Frankfurt am Main. YouTube, ca. 14 Min.
Peter Handke und Claus Peymann, 1970er Jahre

Auch Claus Peymann dachte später so an diese Inszenierung zurück. „Ich war ja jung. Wir waren alle jung. Es war wirklich so die Zeit der Beatles und der Rolling Stones. Und eigentlich hatten wir das Gefühl, dass wir das fortsetzen, was diese proletarischen Sänger uns zeigten. Nämlich Revolte gegen das Bestehende, Revolte gegen das Schlagergeschäft. Und im Grunde ist die Publikumsbeschimpfung ja das Stück der 68er gewesen, das heißt der Aufstand gegen das Bestehende“, erinnerte sich Peymann im Deutschlandfunk Kultur 50 Jahre nach der legendären Premiere. Aber das war kein unwirscher Protest, sondern, so Peymann, „gewaltiges Entertainment. Und zwar auf musikalisch-szenische Art. Es war ein Schmerzensschrei, aber zugleich auch eine große Freude. Aber es war auch ein Theaterfest. Wir haben es ja nicht auf Skandal angelegt. Das ist ein großer Irrtum. Der Handke hat klar gemacht, dass die bestehende Beziehung des Theaters auch mal hinterfragt werden soll.“ Diesen Impetus, wechselnd zwischen trotzigem Aufbegehren und der Lust daran, zu gefallen, bewahrte sich Peymann – wie späte Interviews mit ihm zeigen – bis ins Alter.

Ich war ja jung. Wir waren alle jung. Es war wirklich so die Zeit der Beatles und der Rolling Stones. Und eigentlich hatten wir das Gefühl, dass wir das fortsetzen, was diese proletarischen Sänger uns zeigten… Es war ein Schmerzensschrei, aber zugleich auch eine große Freude.

Claus Peymann

Der Skandal wurde also auch zum Erfolg, und das fiel mir damals gleich auf bei diesem Theatermacher und danach immer wieder. Er wollte sein Publikum nicht nur überraschen oder gar schockieren, sondern dabei auch bestens unterhalten. Sein wohl größter Theaterskandal war die Aufführung von Thomas Bernhards Stück Heldenplatz am Wiener Burgtheater im November 1988. Höhnisch hielten der Autor und die erste Bühne der rot-weiß-roten Republik ihrem Publikum die Wahrheit hinter dem euphemistischen Wort „Anschluss“ vor. Thomas Bernhards Stück in Claus Peymanns Inszenierung, „das wie ein Tsunami über das verdrängungssüchtige Österreich hereinbrach“, wie die Wiener Kronenzeitung nun zu Peymanns Tod feststellte, war in seiner 13jährigen Wiener Intendanz mit 120 Vorstellungen zugleich auch die meistgespielte Inszenierung am Burgtheater – ganz zu schweigen von den Wiener Neuinszenierungen dieses Stücks durch Philip Tiedemann 2010 am Theater in der Josefstadt und durch Frank Castorf im letzten Jahr wiederum am Burgtheater.

Die Jahre von Claus Peymann als Schauspieldirektor am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart, 1974 bis 1979, erlebte ich nicht aus der Nähe, denn beruflich war ich mittlerweile ganz in die Filmwelt geraten. Aber das Stuttgarter Schauspiel wurde ganz offensichtlich zu einem lebendig pulsierenden Zentrum des bundesdeutschen Theaters. Um Peymann fand sich das künstlerische Team, das ihn auch weiter nach Bochum, dann nach Wien begleiten sollte. Und es gedieh das Ensemble, das sein Theater über Jahrzehnte unverwechselbar und erfolgreich machte. Auch Peymanns Zusammenarbeit mit Thomas Bernhard begann hier als stetige Partnerschaft. Vor dem Ruhestand, die unheimliche Tragikomödie um einen Richter, der heimlich seine Nazi-Vergangenheit feiert, sorgte für politische Unruhe. Denn das Stück wurde auch als Kommentar zur vom Dramatiker Rolf Hochhuth losgetretenen Affäre um den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger gesehen, der wegen seiner Tätigkeit als Marinestabsrichter in der Nazi-Zeit zurücktreten musste.

Streitbar mischte sich Peymann in politische Diskurse ein. In der Tradition von Lessing, Schiller und Brecht verstand er sich als Aufklärer und das Theater als moralische Anstalt mit pädagogischem Auftrag. Politisch war er wohl bis ins hohe Alter ein Linker in der 1968er Tradition, als Künstler galt er vielen Kritikern später als konservativ, was seinem Erfolg keinen Abbruch tat. Letztlich sicherte sein Erfolg beim Publikum dem Berliner Ensemble, der einstigen Brecht-Bühne, das Überleben. Ich empfand, was ich von seinem Spätwerk sah, durchaus nicht als konservativ. Mir gefiel schon immer, dass er die Texte und Intentionen der Autoren ernst nahm und die Klassiker vergegenwärtigte, ohne sie zu malträtieren, zu entstellen oder gar kaputt zu machen.

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Der Schauspieldirektor Claus Peymann – Bericht über einen umstrittenen Theaterleiter, WDR 1979, ca. 43 Min.

Einen trefflichen Eindruck von seiner Stuttgarter Zeit und von Claus Peymann selbst, auch von den Stimmungen und Spannungen im Ensemble und den Schwierigkeiten des Wechsels nach Bochum, gibt die Dokumentation Der Schauspieldirektor Claus Peymann – Bericht über einen umstrittenen Theaterleiter von Michael Kluth aus dem Jahr 1979.

Der 2024 verstorbene Dokumentarist Kluth drehte ein halbes Dutzend sehenswerter Filme über Peymann und sein Theater, noch mehr allerdings über den Nagel-Künstler Günther Uecker.

Wegen einer Geldsammlung für Zahnbehandlungen der in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin endete Peymanns Stuttgarter Zeit schneller als erwartet. Peymann hatte zugelassen, dass am Schwarzen Brett seines Theaters ein Brief aufgehängt wurde, in dem die Mutter von Ensslin um Spenden bat, nicht in der Lage, das selbst zu bezahlen. Die an sich doch nur humane Geste war wochenlang Thema der Bild-Zeitung. Peymann wurde, wie das damals gang und gäbe war, als Sympathisant diffamiert, sein Vertrag wurde nicht verlängert, Ministerpräsident Hans Filbinger wollte Peymann noch schneller loswerden. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel, der später auch noch zu Peymann-Premieren nach Bochum fuhr, erreichte immerhin, dass er seine Vertragszeit bis zum Ende erfüllen konnte. Etwas bleibt bei solchen Vorgängen immer hängen, obwohl Peymann mehrfach klarstellte, dass er bei all seiner oppositionellen Haltung den Terrorismus ablehne und die RAF-Täter für tragisch gescheiterte Phantasten halte. Als er Bambule, Ulrike Meinhofs Auseinandersetzung mit der Heimerziehung von 1970, das als Fernsehspiel abgesetzt worden war, und Peter Paul Zahls Stück Johann Georg Elser. Ein deutsches Drama über den lange vergessenen Hitler-Attentäter in Bochum auf die Bühne brachte, als er mal bereit war, einen auf Bewährung aus der Haft entlassenen RAF-Terroristen als Praktikanten in der Technik zu beschäftigten, knüpften seine Gegner in ihrer Polemik immer an die alte Stuttgarter Zahnersatz-Spenden-Affäre an.

Ich kenne das auch: Als Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage unterstützte ich damals während des Festivals einen Aufruf zu Geldspenden für eine Kameraausrüstung des Filminstituts der PLO. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung prangerte mich daraufhin in einer tagelangen Kampagne an. Besonders befremdlich war aber, dass letztes Jahr, also mehr als 40 Jahre später, bei meinem ersten Oberhausen-Besuch seit vielen Jahren, der schlecht informierte Festival-Leiter mich bei einem Gespräch mit dem Publikum als einstigen Sympathisanten palästinensischer Terroristen bloßzustellen versuchte.

„Sorgen herzungewisse“

Im Herbst 1979 kamen die aus Stuttgart vertriebenen Theaterleute in Bochum an, der komplette Spielbetrieb konnte wegen Renovierungsarbeiten erst mit Verspätung aufgenommen werden. Aber was dann begann und sich immer weiter steigerte, sucht seinesgleichen. Das Schauspielhaus in der Industrie- und inzwischen auch Universitätsstadt mitten im Ruhrgebiet hatte auch früher schon immer wieder ein besonderes Profil gewonnen, zuletzt unter der Leitung von Peter Zadek. Vielleicht liegt das auch daran, dass es im Gegensatz zu den meisten Stadttheatern kein Mehrspartenbetrieb ist. Aber mit Claus Peymann, seinem Team und seinem Ensemble begann es eine derart nachhaltige Strahlkraft zu gewinnen, die man von einem Provinztheater, was es doch nach wie vor war, noch nicht erlebt hatte.

Peymanns erste eigene Inszenierung galt Johann Wolfgang von Goethes Torquato Tasso – und mich zog er damit vollends wieder in den Bannkreis des Theaters, zumal Peymann das in der Schule so oft zerlesene und langweilende Stück taufrisch, behutsam Goethes Sprachmusik aufnehmend und zugleich auch ganz gegenwärtig auf die Bühne brachte. „Claus Tasso“ setzte die Redaktion zwar damals über meine Rezension, aber ich schrieb unter anderem:

Torquato Tasso, Schauspielhaus Bochum 1979, Regie: Claus Peymann, Bühnenbild: Karl-Ernst Herrmann.

„Das einer schonungslosen offenen Selbsterforschung mehr als einer dramatischen Auseinandersetzung mit der historischen Situation des Renaissance-Dichters am Hof von Ferrara gleichende Stück nun freilich in seiner Bochumer Fassung vor allem nur als Schlüsseldrama über die Erfahrungen Claus Peymanns und seines Ensembles mit dem baden-württembergischen Landesfürsten zu begreifen, wie das in den Zeitungen des Reviers geschah, greift viel zu kurz.“ Denn die Aufführung, eingebettet in Vor- und Zwischenspiele mit Texten von Goethe, zielte „doch auf eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Situation des Künstlers in der Gesellschaft.“ (Magazin R Kultur an Rhein und Ruhr 2/1980).

Was mich aber bei der Erinnerung an diesen Theaterabend zuallererst in den Sinn kommt, ist meine Verblüffung über die szenische Aufmachung des Stücks: Indem Peymann und sein Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann über das heutige Ambiente auf der weiß ausgeschlagenen Bühne eine geschwungene Leuchtschrift mit dem irritierenden Hölderlin-Zitat „Tasso/politisch Sorgen herzungewisse“ hängten, stellten sie Goethes Drama gekonnt in die Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Zusammen mit der vorangegangenen Aufführung von Bertolt Brechts Die Heilige Johanna der Schlachthöfe, von Alfred Kirchner in einer stillgelegten Fabrikhalle als Stationen-Stück inszeniert, und der fulminanten Polit-Revue Unsere Republik von Uwe-Jens Jensen, wurde schnell die Bandbreite dieses neuen Bochumer Theaters deutlich und die Vielfalt seiner Stimmen und Bilder. Dazu gehört auch die Fülle von Autoren und Theaterkünstlern, denen man fortan in Bochum begegnete, ihren Werken wie auch ihnen selbst. Da saß man auf einmal mit Heiner Müller beim Italiener gegenüber, lernte den Regisseur B. K. Tragelehn aus der noch existierenden DDR kennen, geriet in ein Gespräch mit George Tabori und begegnete ganz unversehens dem großen Berliner Mimen Bernhard Minetti, wenn er in Bochum Thomas Bernhards Weltverbesserer probte oder spielte. In der Erinnerung an diese einzigartige Theaterzeit tauchen Schauspieler und Schauspielerinnen auf, auf die man sich immer wieder freute: Kirsten Dene, Gert Voss, Martin Schwab, Barbara Nüsse, Branko Samorovski, Traugott Buhre, Therese Affolter, Ulrich Pleitgen, Lore Brunner, Manfred Karge, Urs Hefti, Armin Rohde, Tana Schanzara die Aufzählung dürfte kein Ende finden… Und man erinnert sich an so viele funkelnde Details, die das eigene Denken, Entdecken und Fantasieren in Bewegung brachten.

Nur ein Beispiel: Nach der Premiere von Heinrich von Kleists Hermannsschlacht verstrickte ich mich weder in Diskussionen, ob der Kampf der Germanen gegen die Römer, mit denen Kleist eigentlich die Franzosen seiner Zeit meinte, nun als gültige Darstellung eines Freiheitskampfes in der Dritten Welt, wie der Globale Süden damals noch hieß, gesehen werden konnte, noch fragte ich stirnrunzelnd, ob dieses als fürchterlich nationalistisch abgelegte und schon lange als unspielbar geltende Stück eine derart aufwendige Wiederbelebung überhaupt verdiene. Stattdessen stürzte mich zuhause zu allererst auf eine Kleist-Ausgabe, weil ich nicht glauben wollte, dass der Kleistsche Hermann gegenüber seiner Frau Thusnelda einen derart saloppen Ton anschlägt wie Hauptdarsteller Gert Voss gegenüber Kirsten Dene. Aber tatsächlich steht im IV. Akt, im 9. Auftritt, als sich Hermann und Thusnelda begegnen: „Thusschen! Mein schönes Weib! Wie rührst du mich!“, und es geht in diesem Tonfall weiter. Trotz der seit Kleist deutlichen Bedeutungsverschiebung dieses Namens und besonders seiner Koseformen blieb der genau lesende Peymann hier beim Original und überraschte inmitten des martialischen Kampf- und Sprachgetümmels so mit einer unvermutet vergnüglichen Beziehungskiste.

Kleists Hermannsschlacht am Schauspielhaus Bochum, 1982: martialisches Kampfgetümmel…
… und vergnügliche Beziehungskisten mit Gert Voss und Kirsten Dene.

Neben meiner Tätigkeit für die Kurzfilmtage Oberhausen begann ich nun mehr und mehr ins Theater zu gehen. Nach Bochum sowieso, aber ich schrieb auch Rezensionen zu Aufführungen ringsum – das war ja damals eine besonders blühende Theaterlandschaft an Rhein und Ruhr: Jürgen Flimm war noch in Köln, Pina Bausch erneuerte das Tanztheater in Wuppertal, Roberto Ciulli begann sein Theater an der Ruhr in Mülheim, und auch im Musiktheater saß ich auf einmal wieder. Selbst auf Filmfestivals und bei Reisen zur Filmauswahl, in Krakau und Berlin, Moskau, London, Budapest, Paris und Bukarest, strebte ich am Abend ins Theater – aber der Anstoß zu meiner neu erwachten Theaterlust ging vor allem von Peymanns Bochumer Ensemble aus. Wir kamen auch ins Gespräch, er fragte mich, ob ich bei ihm mitmachen wolle, wir trafen uns zu einem intensiven Austausch unserer Vorstellungen. Irgendwie verloren sich dann aber diese Überlegungen zu einer festen Zusammenarbeit.

„Die Obrigkeit dieser Stadt ist nicht theaterfreundlich“

Dass er schon nach sieben Jahren in Bochum aufhörte, empfand ich als schmerzhaften Verlust, aber ich verstand ihn. In einem Gespräch, das ich damals mit ihm führte, und in dem er auch das Scheitern seines Vorschlags, das Bochumer Theater mit den Ruhrfestspielen zu verbinden, beklagte, sagte er: „In der Zeitung ist zwar immer die Rede vom großen Zampano Peymann, aber die wirkliche Beziehung zwischen unserem Theater und der Außenwelt besteht doch etwa zwischen Kirsten Dene und dem Zuschauer aus Oberhausen, Witten, Essen oder Bochum. Im Gegensatz dazu war die Arbeit mit der Stadt schon schwer. Denn da ist man unglaublich kleinbürgerlich, unglaublich feindlich diesem Schauspielhaus gegenüber. Immer wieder mussten wir bis aufs Messer kämpfen: gegen den Abriss der BO-Fabrik, gegen das Verbot politischer Manifestationen im Theater, gegen Kürzungen des Etats… Die Obrigkeit dieser Stadt ist nicht theaterfreundlich. Wer das sagt, der irrt sich. Es kann aber sein, dass das in Wien noch viel schlimmer wird und komplizierter.“ (Die Deutsche Bühne, 6/1986)

Claus Peymann in Bochum, Bundestagswahlkampf 1980

Vielleicht hatte er inzwischen auch erkannt, dass er das öffentliche Wohlwollen für sein Auftreten im Wahlkampf gegen den Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß in seinem ersten Bochumer Jahr doch etwas naiv gedeutet hatte. Auch ich machte damals die für mich erstaunliche Erfahrung, dass ich mit der Aufführung des umstrittenen Anti-Strauß-Films Der Kandidat von Alexander Kluge, Volker Schlöndorff, Stefan Aust u. a. auf einmal die wichtigsten Politiker der Stadt als Unterstützer des per Handstreich gegründeten Kommunalen Kinos in Oberhausen gewonnen hatte. Erst allmählich begriff ich, dass die damals im Ruhrgebiet dominierende SPD eine andere war als ich sie bislang kannte, dass da weniger per öffentlicher Debatte Politik gemacht wurde, sondern oft aus dem Hintergrund von Parteifunktionären, gerade auch die Kultur betreffend, und dass somit auf die Amtsträger vom Oberbürgermeister bis zum Kulturdezernenten nicht immer Verlass war.

Zu seinem Bochumer Abschied schenkte mir Claus Peymann die großformatige, bilderreiche, 650 Seiten dicke Dokumentation Das Bochumer Ensemble – Ein deutsches Stadttheater 1979-1986, die immer noch eindrucksvolle Dokumentation einer außergewöhnlichen Theaterzeit. In einer persönlichen Widmung stellte er die Fortsetzung unseres Gesprächs über die Zusammenarbeit in Wien in Aussicht. Nach Wien bin dann häufig gefahren, allerdings inzwischen ganz in der Welt des Theaters angekommen, beim Deutschen Bühnenverein und als Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne. Peymann und sein Ensemble spielten zwar immer noch aufregendes Theater, aber es war nun doch in eine andere Republik entrückt.

Das Wiener Burgtheater war zwar nun häufiger ein Ziel deutscher Berichterstatter. Im Zug nach Wien begegnete man stets Bekannten aus der deutschen Theaterszene, ich erinnere mich noch an Michael Kluth mit einem Fernsehteam. Das war eine an anregenden Gesprächen reiche Fahrt zur Premiere von Thomas Bernhards Heldenplatz. Aber so aufregend dieses Ereignis dann auch war, da pochte nicht mehr das Herz der Republik, in der wir lebten, sondern es wurden auf der Bühne Themen angeschnitten und Fragen gestellt, die dort nach Antworten verlangten und Politiker, Journalisten, Aktivisten aller Art geradezu in Raserei versetzten. Das wirkte auf unsereinen schon recht exotisch. Die Streitfrage, ob die Österreicher 1938 ganz und gar zum Opfer Hitler-Deutschlands wurden oder selbst Täter waren, ließ noch 1988 rund ums Burgtheater eine ungeheure Empörung auflodern. Bauern kippten vor dem hehren Theaterportal Mistfuhren aus, es gab Morddrohungen, es wurde gebuht, gepfiffen, geschrien und auch heftig applaudiert, vor dem Theater und darin, und dann lauschte das Publikum wieder atemlos den Schauspielern und Thomas Bernhards Schimpftiraden.

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Thomas Bernhard: Heldenplatz, Uraufführung 1988, Burgtheater Wien, ORF/ZDF, ca. 3 Stunden

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Schicksalstage Österreichs: Der Heldenplatz-Skandal, zeit.geschichte ORF III, 30.09.2023, ca. 48 Min.

Von den Theaterverwesern

Während seiner letzten Wiener Jahre und in seiner Zeit am Berliner Ensemble war mir Peymanns Theater vollends in die Ferne gerückt. Denn ich war nun doch noch ganz konkret in den Theateralltag geraten: als Chefdramaturg und Vertreter des Generalintendanten am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Vehement stürzte ich mich in die Vorbereitung unserer ersten Spielzeit 1997/98. Da ergab sich zunächst durchaus ein neuer Kontakt zu Peymann, wir sprachen über mögliche Koproduktionen; er wusste wohl, dass das kein armes Theater in Karlsruhe war. Als erstes sollte Uwe-Jens Jensen, ein Mitstreiter Peymanns schon seit Stuttgart (als Autor und Regisseur hatte er die erfolgreiche Revue Unsere Republik in Bochum gemacht, siehe oben) zur deutschen Revolution von 1848, deren 150jähriges Jubiläum im badischen Karlsruhe besonders wahrgenommen wurde, ein Programm entwickeln. Doch während der Arbeit daran verstarb Jensen mit erst 55 Jahren. Währenddessen geriet ich als Leiter des Vorausbüros der neuen Theaterleitung mehr und mehr in ein Kreuzfeuer von Behinderungen, Intrigen und Verdächtigungen der alteingesessenen Verwaltung des Theaters. Alles sollte laufen wie schon seit Jahren, jede kritische Nachfrage, jeder innovative Vorschlag, auch Kooperationen mit Bühnen und Theaterleuten aus dem dem nahen Frankreich wurden als Störung empfunden. Wie ein Schatten legte sich dieses kunstfeindliche Klima auch über das neue, erst allmählich zusammenfindende Leitungsteam.

Ich war am Theater in Karlsruhe, das durchaus auf eine beachtenswerte Tradition zurückblicken konnte, inspiriert von Peymanns Bochumer Jahren und musste doch schnell feststellen, wie groß der Widerstand vieler gegen jeden Versuch war, ein gemeinsames Auftreten bis hin zu einem Corporate Design zu etablieren. Sogar eine Kleinigkeit wie die einheitliche und auch dezent auf die Tradition anspielende Gestaltung der Programmhefte nach Bochumer Vorbild scheiterte an der Ichbezogenheit und Selbstdarstellungssucht vieler Regisseure und Dramaturgen. Dass sie dabei von der Spitze der bürokratischen und mächtigen Theaterverwaltung befeuert und manipuliert wurden, die die neue künstlerische Leitung zu spalten versuchte und den Generalintendanten und seinen Vertreter, also mich, loszuwerden trachtete, bemerken die meisten wohl gar nicht. Auf einen Regisseur, der einst Assistent bei Peymann in Bochum war, setzte ich besonders beim Versuch, ein zuverlässiges Team aufzubauen. Doch als das Mobbing gegen mich sich verschärfte und Solidarität vielleicht hilfreich gewesen wäre, nahm er erst einmal für einige Zeit Reißaus, ausgerechnet als Gastregisseur eines Jugendstücks, Pünktchen und Anton nach Erich Kästner. Wo? Natürlich bei Peymann in Wien.

Die schreckliche Erfahrung in Karlsruhe vergällte mir für lange Zeit die Freude am Theater. In Karlsruhe stand ich 1961 als „schwarzer Soldat“, wie Rüdiger Vogler auch, in Max Frischs Andorra auf der Bühne – unter anderem neben Marie-Luise Marjan, der späteren Mutter Beimer in der ewigen Fernsehserie Lindenstraße, Gustl Bayrhammer, dem späteren Münchner Tatort-Kommissar, und Traugott Buhre, der bei Peymann zum großen Theaterstar wurde, vor allem als Theatermacher Bruscon in Thomas Bernhards Stück. Doch als mein Jugendtraum, an dieser Bühne Chefdramaturg zu werden, sich sogar erfüllte, wurde er schnell und schmerzhaft beendet.

Im Rückblick ist mir klar, dass ich zwar von den inneren Spannungen und den von ihnen ausgehenden Gefahren in einem solchen Theater wusste, aber sie wohl in meiner Euphorie doch unterschätzte. Bei all seinem Draufgängertum, das er gern ausstellte, machte Claus Peymann um die sogenannten Mehrspartentheater, diese besondere Betriebsform des deutschsprachigen Theaters, bewusst oder instinktiv stets einen großen Bogen. Meines Wissens hat er nie an einer solchen Bühne gearbeitet. Das auf die vielen Hoftheater in deutschen Landen, die von den Bürgern in ihren Stadttheatern dann auch noch imitiert wurden, zurückgehende Mehrspartentheater leistet einer kunstfeindlichen und geldverschlingenden Kulturbürokratie besonderen Vorschub. „Die Intendanten, Generalmusik- und Schauspieldirektoren kommen und gehen, ich bleibe,“ pflegte der Karlsruher Verwaltungsdirektor, ein hoher Landesbeamter, zu sagen. Bei diesen Worten begann ich zu verstehen, warum sich Peymann, ebenso wie Dieter Dorn, Peter Zadek oder Peter Stein, also künstlerische Leiter herausragender Bühnen, nie im Deutschen Bühnenverein sehen ließen, wo es an Theaterverwesern, wie sie mir nun in Karlsruhe zu nahe kamen, nicht mangelte.

Claus Peymann war eben nicht nur als Regisseur im Umgang mit Autoren und Schauspielern ein Glücksfall, sondern er wies auch als Manager dem deutschen Theater wichtige Möglichkeiten zu einem sinnvollen Fortbestehen auf. „Nicht nur für das Ruhrgebiet, sondern für die ganze Republik waren das sieben fette Theaterjahre“, schrieb ich zum Ende von Peymanns Zeit in Bochum: „Beispielhaft wurde dabei deutlich, wie Schauspieler- und Regietheater sich verbinden können, wie mit höchstem Anspruch der große Publikumserfolg möglich wird, wie Ensemble- und Repertoiretheater heute dennoch möglich sind – wie ein großes Stadttheater der Zukunft aussehen könnte. Mit seiner Neigung zu kulturpolitischen Rundumschlägen erzeugte Peymann freilich auch viel heiße Luft. Manche der angesprochenen Kulturpolitiker nahmen ihn dann nicht mehr ernst, sahen in seinen hochfliegenden Plänen nur schlagzeilenträchtiges Klappern für die eigene Karriere. Aber die Probe aufs Exempel mancher seiner Vorschläge hat man allerdings auch kleinmütig verpasst.“ (Die Deutsche Bühne, 6/1986)

„Der Körper in Berlin, das Herz in Wien“

Die eingangs zitierte Überschrift der Kleinen Zeitung hat ihren Hintergrund in einem Interview, das Peymann dem österreichischen Blatt noch vor zwei Jahren gab: „Der Körper in Berlin, das Herz in Wien“, so stellte sich Claus Peymann seine letzte Ruhe vor. Denn „nichts wird in Wien mehr gefeiert als der Tod, die Beerdigung. Andererseits versammelt sich die deutsche Geisteselite nach ihrem Tod auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin: Bertolt Brecht, Immanuel Kant, die Wienerin Helene Weigel, Bernhard Minetti. Man sagt: Um Mitternacht tanzt die deutsche Intelligenz dort den Totentanz – das lasse ich mir doch nicht entgehen!“

Auf dem Friedhof in Berlin soll er sich schon zu Lebzeiten ein Grab gekauft haben. Als Ehrenmitglied des Burgtheaters hätte Claus Peymann auch den Anspruch auf ein Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof gehabt.

  • Wolfgang J. Ruf
    (* 1943 in München) ist Autor, Publizist und Dozent. Sein Themenspektrum umfasst Kulturpolitik, Theater, Film, Medien, Literatur, Geschichte, Politik und Zeitgeschichte. Er war von 1985 bis 1995 Chefredakteur der Zeitschrift Die Deutsche Bühne und Pressereferent des Deutschen Bühnenvereins, danach u. a. Chefdramaturg am Badischen Staatstheater in Karlsruhe. Von 1975 bis 1985 leitete er die internationalen Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen.

Bildnachweise

Claus Peymann im Garten seines Hauses: © Oliver Mark / CC BY-SA 4.0
Peter Handke und Claus Peymann, 1970er Jahre: © Falter, Wien
Torquato Tasso: © Abisag Tüllmann
Kleists Hermannsschlacht / Gert Voss und Kirsten Dene: © Schauspielhaus Bochum
Claus Peymann in Bochum 1980: © WAZ Bochum / Hartmut Beifuß
Wolfgang J. Ruf: © James Ulmer

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Günter Gaus im Gespräch mit Claus Peymann. Reihe Zur Person – Porträts in Frage und Antwort, RBB 1998, ca. 45 Min.

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Harald Schmidt spricht mit Claus Peymann über den großen Theaterautor Thomas Bernhard… und übers Essen. Café Brandstätter 2022, ca. 60 Min.
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