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Audio-Streaming-Tipp

Böser Konversationskünstler

Heinrich Heine in Paris im SWR-Podcast Musikstunde

von Achim Forst


Unsere Empfehlung zum Jahresende: Mit Podcasts entspannen und Neues kennenlernen. Zum Beispiel auf spannenden Hörreisen in die Vergangenheit in der Musikstunde des SWR.

Was wollte ich in diesem Jahr nicht noch alles an Themen für unsere Seite realisieren: neue Web-Porträts, die russischsprachige Opposition auf YouTube, die große, neue Welt der Podcasts … – Doch nun ist fast Weihnachten, das Jahr vorbei, und die Zeit hat nicht gereicht. – Also einfach hoffen und verschieben aufs nächste Jahr!?

Aber warum nicht schon mal ein bisschen vorgreifen, neugierig machen und eine Jahresend-Empfehlung abgeben? So wie es in diesen Wochen die Feuilleton-Kolleg(innen) von ZEIT, FAZ und SZ wie immer mit Büchern und anderen Geschenken machen.

Keine Berieselung

Okay, hier ist er – mein Streaming-Tipp für die Zeit ‚zwischen den Jahren‘ oder danach, ein bisschen ‚nerdig‘, weil es um die sogenannte Hochkultur geht und um überwiegend klassische Musik, eine Musiksparte, die nicht mehrheitsfähig ist. Deshalb vorab die Empfehlung an alle ‚Swifties‘, Anhänger der verblichenen Podcast-Rubrik Metal am Mittwoch*, Volksmusik- und Schlager-Fans sowie an alle Nur-Hörer von Hiphop, Rap und Pop: Bitte weiterklicken! Das gilt auch für alle, für die Musik nur als Hintergrundberieselung beim Bügeln oder Erstellen der Steuererklärung in Frage kommt.

Er ist einer meiner Lieblingspodcasts, und er spielt in einer eigenen Liga neben den alltäglichen Podcasts über Politik, Geschichte und Unterhaltungskultur*, die ich höre: die Musikstunde des SWR.

[ * im erfolgreichen Podcast Fest & Flauschig von Jan Böhmermann und Olli Schulz, den sie inzwischen wöchentlich nur noch ein Mal am Wochenende veröffentlichen. ]

Der Name der Sendung klingt nach Musikunterricht – was uns in der Schule so über Musik beigebracht wurde: Gattungen, Stile, Taktarten und überlebensgroße Komponisten (bis auf Clara Schumann, wenn sie denn erwähnt wurde, war ja keine Frau dabei).

Die Musikstunde ist dagegen ein – im besten Sinne – feuilletonistisches Format, wie ich es mir in meiner Schulzeit für den Musikunterricht gewünscht hätte: 55 Minuten lange, unterhaltsame Wissenssendungen, in denen es immer auch um persönliche Schicksale, Gesellschaft, Geschichte und Politik geht – mit sorgfältig ausgesuchter Musik. Früher nannte man das im Hörfunk ‚Feature‘, allerdings werden in der Musikstunde die Stücke nicht nur an-, sondern meist vollständig ausgespielt.

Bruckner, Farb- und Kinderspiele

Das Konzept: Ein Thema, nicht nur aus der Welt der Klassik, wird in einer fünfteiligen Reihe behandelt, kompakt jeweils in einer Woche gesendet. Dazu kommen Einzelsendungen wie Jazz global, Chanson, Singer-Songwriter, ein monatliches Rätsel und Lars Reichows Musikalische Monatsrevue. Die Themen – Beispiele aus dem aktuellen Angebot – reichen von konventionell klassisch (Anmaßend genial – Anton Bruckner zum 200. Geburtstag) über geografisch und politisch (Die Elbe – Flussabwärts von Böhmen bis zur Nordsee, Carl Theodor von der Pfalz – Herrscher über sieben Länder) bis offen assoziativ (Mein Grau ist bunt – Ode an eine unterschätzte Farbe und Kinderspiele – Musik und Kindheit ).

Der Stadtteil Montmartre – für Heinrich Heine das künstlerische Biotop seiner „Zauberstadt“ Paris

Worum es konkret geht, kann ich am Beispiel der gerade gesendeten und frisch gehörten neuen Folge der Musikstunde beschreiben: Der dritte Teil der Reihe Die schöne Zauberstadt – Heine in Paris führt uns Hörer durch die Konzertsäle und Salons der Stadt. Wir erfahren unter vielem anderen, dass der deutsche Dichter mit seinen perfekten Sprach- und Konversationsfähigkeiten nicht nur von seinen Freunden wie dem Schriftsteller Honoré de Balzac, sondern von der ganzen Pariser Gesellschaft als einer der ihren, als Franzose, angenommen wurde.

„Charmanter Gott und boshaft wie ein Teufel“

Heine gehörte als Freelancer zu den bestverdienenden Journalisten in der üppig erblühenden Pariser Zeitungslandschaft der 1830er Jahre. In seinen Kritiken scherte er sich nicht um musikwissenschaftliche Kriterien, sondern schrieb ganz aus dem Bauch heraus. Dabei verbreitete Heine gerne auch Yellow Press-artigen Klatsch. Ein „charmanter Gott und boshaft wie ein Teufel“ –so sein französischer Kollege Théophile Gauthier –, der schon mal einen Soloviolinisten als „geigerisches Brechmittel‟ oder einen Klaviervirtuosen als „Mumie aus dem Museum‟ beschrieb. Das subjektive Empfinden stand für Heine beim Musikhören ganz im Vordergrund. Er verehrte Chopin und Bellini, während ihm der große Meister Bach nur Anlass für eine Pointe war:

Die Verächter italienischer Musik werden einst in der Hölle ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen und sind vielleicht verdammt, die lange Ewigkeit hindurch nichts anderes zu hören als Fugen von Johann Sebastian Bach.

Heinrich Heine

Assoziative Musikauswahl

Wie assoziativ frei und spielerisch die Musikstunde manchmal mit Kultur umgeht, zeigt das Musikstück, das der Autor Daniel Finkernagel in der Sendung auf dieses Zitat folgen lässt: eine Fuge von Bach in der beschwingten Jazzversion der Swingle Singers.

Diese dritte Folge von Heine in Paris war für mich ein schöner Zufallsfund, denn ich höre die Musikstunde nur manchmal. Jetzt freue ich mich schon auf die vier anderen Folgen.

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Charles Aznavour und Zaz singen „J’aime Paris au mois de Mai“.

Nachtrag zur Musikauswahl: Nicht nur Klassik

Die erste Folge des Heine-Podcasts, die über seine Ankunft in Paris im Mai 1831 berichtet, enthält übrigens neben (unter anderem) mittelalterlicher Musik aus Nôtre Dame auch Jazz mit Charles Aznavour und Zaz (Jˋaime Paris au mois de Mai im Bigband-Duett) und etwas Musik von Nina Hagen.

Wenn die Musikstunde im Radio gesendet wird, wochentags morgens um 9 und als Wiederholung um 23 Uhr, habe ich grundsätzlich keine Zeit und Lust zu entspanntem, konzentriertem Hören. Doch zum Glück gibt es ja die SWR- und die ARD-Audiothek – in beiden kann man alle Sendungen der Reihe noch ein Jahr lang nach Ausstrahlung anhören. Das geht im Laptop- oder PC-Browser, aber viel bequemer mit einer der Audiotheken-Apps und Kopfhörer auf dem Handy. SWR Kultur, die Produktionsstätte der Musikstunde, bietet eine eigene an, doch ich empfehle die App der ARD-Audiothek, mit dem Zugang zum riesigen akustischen Kosmos der öffentlich-rechtlichen Hörfunk-Angebote (außer Deutschlandradio).

Dass darin einige kleine hervorragende Sendungen leider nicht angeboten werden, ist eine andere Geschichte. Fürˋs nächste Jahr.

Achim Forst
Liebt Filme-Editieren und Fahrradfahren, Podcasts- und Musik-Hören und -Spielen. War 30 Jahre Redakteur der Filmredaktion 3sat des ZDF, Autor von TV-Dokumentationen, vorher freier Film- und Musikjournalist, Hörfunkautor und Programm-Mitarbeiter von Filmfestivals.
Bildnachweise
Wikimedia Commons

Gemälde Heinrich Heine: Moritz Daniel Oppenheim (1831)
Foto La basilique du Sacré Coeur de Montmartre (Paris): Jean-Pierre Dalbéra
Creative Commons Attribution 2.0

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