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tempus fugit

Auf der Suche nach der vergeudeten Zeit

von Werner Biedermann

Gammeln, Warten, Driften: Die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen hat ein dickes Buch über Zeitverschwendung in Film und Literatur geschrieben. Die Rezension ist bedeutend kürzer. Und die Lektüre war keine vertane Zeit.

Als ich am 18. November 2024 in der 3sat-Sendung Kulturzeit hörte, wie Michaela Krützen den Inhalt ihres Buchs Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur mit dem Satz: „Es geht darum herauszufinden, was zu welcher Zeit als Zeitverschwendung gehandelt wird und was nicht, denn wenn man das weiß, weiß man, was diese Zeit auszeichnet“ zusammenfasste, dachte ich mir: Das Buch möchte ich lesen!

Auf den zweiten Blick stellte sich heraus, dass dies ein zeitintensives Unterfangen sein würde, denn das Mammutwerk hat 960 Seiten. Ist meine Lektüre möglicherweise auch Zeitverschwendung?

Denn allem Tun haftet im 21. Jahrhundert der Verdacht der Zeitverschwendung an.

Michaela Krützen

Gefallen hat mir zunächst, dass Michaela Krützen (seit 2001 Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film in München) im Vorwort ihrer Studie ihr ‚Handwerkszeug‘ und dessen Anwendung beschreibt. Des Weiteren benennt sie die zehn literarischen Figuren beziehungsweise Handlungsträger aus Film und Fernsehen, die ihre Analyseobjekte werden sollen, und begründet ihre Auswahl. Sie erklärt, welche Verbindungslinien sie aufzeigen möchte und von welchen Assoziationen sie sich leiten ließ. Klar ist, dass alle diese Themenfelder und diversen theoretischen Hintergründe zunächst einem subjektiven Erkenntnisinteresse und persönlichen Erfahrungen entstammen, aber im Abgleich mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen eine gewisse Objektivität erlangen können.

Weil ich mich selber stets im Verdacht habe, meine Zeit zu vergeuden, egal, was ich tue, haben mich Figuren, die ihre Zeit zu verschwenden scheinen, als Leserin oder Zuschauerin schon früh in besonderer Weise beschäftigt.

Michaela Krützen

So wird im ersten Kapitel detailreich das Zeremoniell am Hofe Ludwig XIV. durch die dort teilweise überzeichnet dargestellten – Rituale im Spielfilm Marie Antoinette (USA, 2006) von Sofia Coppola augenfällig gemacht und analysiert. Mögen diese zur Pose erstarrten Rituale auf den ersten Blick auch Zeitverschwendung sein, so ist genau das die Abgrenzung vom gemeinen Volk, denn Marie Antoinette benötigt keine Zeit für Arbeit, sondern höchstens für den Konsum, um sich die Zeit zu vertreiben. Krützens Assoziationen zu Paris Hilton oder Lindsay Lohan sind daher durchaus passend. Wenn auch die gesellschaftlichen Umstände und die politischen Gegebenheiten andere sind, so sind doch die Verhaltensweisen dieser Frauen verblüffend ähnlich.

In der Zuspitzung, die Figuren bieten können, liegt gerade ihre spezielle Qualität für das Thema. Was als Zeitverschwendung verstanden wird, kann an ihnen besonders deutlich herausgearbeitet werden.

Michaela Krützen

Ebenfalls um Konsum, aber auch um Mord, geht es im zweiten Kapitel. Beides dient dazu, ein sinnentleertes Leben zu füllen. Patrick Bateman ist der maßlose Käufer von Markenprodukten und der mutmaßliche Serienkiller aus dem Roman American Psycho des US-amerikanischen Autors Bret Easton Ellis aus dem Jahr 1991. Die schwarzhumorige filmische Adaption stammt von der kanadischen Regisseurin Mary Harron (USA 2000). Sein Selbstwertgefühl kann der antisoziale Anti-Held, der vermutlich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet, nur durch prestigeträchtige Einkäufe, frauenfeindliches Verhalten und sadistische Mordphantasien ausleben. Für den Leser/Zuschauer bleibt unklar, ob diese Morde tatsächlich stattfinden oder lediglich paranoide Phantasiegespinste sind. Erst als er erkennen muss, dass seine Konsumorgien und sein Morden keinerlei Konsequenzen haben, ist klar, dass diese keine adäquaten Kompensationen für sein – von ihm so empfundenes – sinnentleerten Daseins sind. Heilung gibt es nicht. Was bleibt, ist: Warten, weiter konsumieren sowie Zeit und Menschen totschlagen.

Einer der berühmtesten (Zeit-)Totschläger der neueren Literatur: Jason Bateman aus dem Roman American Psycho von Bret Easton Ellis, in der Filmversion gespielt von Christian Bale.

So geht es in den folgenden acht Kapiteln weiter mit fiktiven Figuren aus Film, Fernsehen und Literatur. Sie alle sind auf die eine oder andere Weise mit Gammeln, Warten oder Driften beschäftigt: Die Müßiggänger (Italien 1953) aus dem Film von Federico Fellini, Der große Gatsby (USA 1925) aus dem Roman des US-amerikanischen Autors F. Scott Fitzgerald, The Big Lebowski in der Filmkomödie (USA1998) von Ethan und Joel Coen mit Jeff Bridges in der Hauptrolle, ebenso Iwan Gontscharows Oblomow, der fast sein ganzes Leben im Bett verbringt, Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg sowie die Hausfrau und Mutter Betty Draper aus der Fernsehserie Mad Men (USA 2007 – 2025).

Jeff Bridges (links) als entspannter Späthippie in The Big Lebowski. Muss Gammeln wirklich als Zeitverschwendung bewertet werden? Und gibt es nicht sogar ein Recht auf Faulheit? Michaela Krützen wirft anhand von Texten kommunistischer Autoren wie Karl Marx und Paul Lafargue einen neuen Blick auf den Film und seine Hauptfigur.
In Thomas Manns Roman Der Zauberberg zieht sich der Protagonist Hans Castorp (hier gespielt von Christoph Eichhorn in der Verfilmung von 1981/82) in ein Sanatorium zurück. Wird ihm die Zeit dort lang oder kurz? Bei ihrer Analyse lässt sich Michaela Krützen von so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Susan Sontag, Henri Bergson und Albert Einstein inspirieren.

Treffenderweise sind die Kapitel nicht nach den jeweiligen Zeittotschlägern benannt, sondern heißen: Zeremoniell, Konsum, Gammeln, Liegen, Warten, Herumlungern, Warten und Driften, Arbeit, Routine, Ehe und Medien. Die genannten Handlungsträger sind Fallbeispiele für den jeweiligen „Aggregatzustand“ der individuellen Befindlichkeit, aus dem man die Befindlichkeit einer Gesellschaft ableiten kann.

Es gibt keine Tätigkeit, die per se Zeitverschwendung ist. Jede Epoche, jede Klasse und jede Kultur arbeitet sich daran ab, was sie für vergeudete Zeit hält.

Michaela Krützen

Betrachtet man all diese Literatur- und Filmfiguren, könnte man zu der Erkenntnis kommen, dass das ganze menschliche Leben Zeitverschwendung ist, diese jedoch für jedes Individuum seine spezifische Ausformung hat. Die fiktionalen Figuren leben uns vor, was Zeitverschwendung jeweils sein kann. Sie ist vielfach eine antikapitalistische Protesthaltung zum Leben, zur Arbeit und zum Konsum.

Zeit vergeht auf jeden Fall! Individuelle Lebenszeit kann sinnvoll genutzt oder vergeudet werden. Aber welche Instanz bestimmt, was sinnerfüllte Lebenszeit ist und was nicht: Sind es Staat, Arbeitgeber, Kirche, ist es die Wissenschaft oder etwa die Philosophie?

Michaela Krützens Buch ist eine erhellende Analyse der historischen, soziologischen und psychosozialen Zusammenhänge beim Umgang des Menschen mit der Zeit: detailreich, anschaulich, wissenschaftlich fundiert und doch äußerst kurzweilig!

Was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt, sagt aus, wie diese Welt ist.

Michaela Krützen

Michaela Krützen

Zeitverschwendung

Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur

Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 2024
960 Seiten
Buch 38,– € / E-Book 31,99 €


Werner Biedermann

Dipl.-Designer, Autor von Filmfachpublikationen, Regie bei vier abendfüllenden und zahlreichen Kurzfilmen, 20 Jahre Leitung des Kommunalen Kinos in Essen, zwei Amtsperioden im Vorstand des Filmbüro NW e.V.

Bildnachweise

tempus fugit: © Werner Biedermann
Michaela Krützen: © Bettina Flitner / S. Fischer Verlag
American Psycho: © American Film Institute
The Big Lebowski: © Universal Pictures Home Entertainment
Der Zauberberg: © Seitz GmbH Filmproduktion

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