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Streaming-Tipp

Das Millionenspiel

Ein deutscher TV-Klassiker in der ARD-Mediathek

von Manfred Etten

Meilensteine der deutschen TV-Geschichte gibt es viele – Das Millionenspiel (WDR 1970) ist aber ein ganz besonderes Exemplar dieser Gattung. Der Film ist jetzt wieder zu sehen: noch bis 08. Juli 2024 kostenlos und in einer digital restaurierten Fassung in der ARD-Mediathek.

Das Anschauen lohnt sich aus mehreren Gründen. Zum einen ist der Film ein nostalgisches Schaustück: Er katapultiert uns schnurstracks zurück in die Retro-Welt der alten Bundesrepublik. Wer die Zeit bewusst oder subkutan miterlebt hat, kann in sentimentalen Erinnerungen schwelgen. Und für die Spätgeborenen gibt es historisches Studienmaterial: So sahen die Leute, die Klamotten, die Tapeten, die Straßen, Bahnhöfe und Umgangsformen damals aus, so war das Flair einer mittlerweile untergegangenen westdeutschen Lebenswelt, die sich in den folgenden Jahrzehnten im Zuge diverser ‚Zeitenwenden‘ beinah bis zur Unkenntlichkeit verändert hat.

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Inzwischen steht Das Millionenspiel nicht mehr in der ARD-Mediathek, ist aber im Netz (wenn auch nicht in der Top-Qualität der restaurierten Fassung und mit Werbung) immer noch verfügbar.

Vor allem aber: Der Film ist eine Fundgrube für alle, die gerne wissen wollen, wie die Vor- und Frühgeschichte unserer Medienproduktion und unseres Bilderkonsums aussah, wie sich der ‚Zeitgeist‘ damals in Themen und Formen niederschlug und was sich seitdem aus den seinerzeit gelegten Grundlagen entwickelt hat. So können wir früher mit heute vergleichen und vielleicht besser verstehen, einordnen, bewerten, was uns gegenwärtig so alles unverlangt aufs Auge gedrückt und um die Ohren gehauen wird.

Denn dieser ‚Straßenfeger‘ ist nicht nur ein Stück TV- und Mediengeschichte, er handelt auch von ihr. Wolfgang Menge (Buch) und Tom Toelle (Regisseur und Co-Autor) haben eine grimmige Dystopie entworfen. Ihr Millionenspiel – angesiedelt in einer nicht näher bezeichneten, aber damals nahen Zukunft – ahnt voraus, nimmt vorweg, malt als Menetekel an die Wand und treibt auf die Spitze, was ein paar Jahre später zum Erfolgsmodell des kommerziellen Privat-Rundfunks werden sollte. ‚Mediensatire‘ steht auf dem Etikett, aber zu einem befreienden Lachen gibt es hier weder Grund noch Anlass.

Die Story: Bernhard Lotz aus Leverkusen rennt um sein Leben. Er ist Kandidat einer TV-Show, die von einem mächtigen Medienkonzern gesponsert wird und die ganze Nation an die Heimempfänger fesselt. Als Gewinnprämie winken ihm 1 Million D-Mark. Aber nur, wenn er es bis ins Finale schafft und nicht vorher von den Killern des Senders aufgespürt und zur Strecke gebracht wird. Die Menschenjagd findet in aller Öffentlichkeit statt. Die Kameras sind überall dabei. Und die Zuschauer sind zum Mitspielen eingeladen. Sie können dem Kandidaten dabei helfen, den Häschern zu entkommen – oder ihn verraten. Egal wie das Spiel ausgeht: Die Traumquote ist auch diesmal garantiert.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Transeuropa TV und der Stabilelite Trust, der Konzern Ihres Vertrauens, begrüßen Sie zum letzten Spieltag des Millionenspiels und weisen noch einmal auf das große öffentliche Finale am heutigen Abend mit dem Schlusseinlauf unseres Kandidaten hin. Sollte der Kandidat jedoch vorzeitig den Tod finden, so erwartet Sie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm mit vielen bekannten Künstlern.“

Das Millionenspiel ist ein genialer Fake, der außerordentlich geschickt Fernsehspiel-Fiction mit Mockumentary, angebliche Live-Bilder aus dem Studio mit getürkten Vor-Ort-Reportagen vermischt, so hinterlistig und versiert, dass nicht wenige das Ganze damals für bare Münze nahmen und einem realen Unterhaltungsprogramm beizuwohnen glaubten. Zu dem Authentizitäts-Eindruck tragen auch die Cameo-Auftritte von prominenten Sport- und News-Reportern bei: Heribert Faßbender (ARD-Sportschau), Arnim Basche (Sportschau, später Moderator im ZDF-Sportstudio), Werner Sonne (später Leiter des ARD-Hauptstadtstudios) spielen sich selbst und verleihen dem Ungeheuerlichen, das da vorgeführt wird, mit ihrer öffentlich-rechtlichen Seriosität sozusagen ein gefälschtes Glaubwürdigkeits-Zertifikat.

Ich habe stapelweise Bewerbungen bekommen von Leuten, die da mitmachen wollten bei der nächsten Folge.

Tom Toelle

Regisseur und Co-Autor von „Das Millionenspiel“

Der größte Casting-Coup des Films ist aber die Besetzung der Rolle des Millionenspiel-Showmasters mit dem ZDF-Hitparaden-Moderator Dieter Thomas Heck. Dessen Performance rangiert irgendwo zwischen Brillanz und Horror. Ein aalglatter Show-Roboter, zwischen Person und Maske ist kein Unterschied erkennbar, ein Mensch ‚dahinter‘ existiert eigentlich gar nicht, und daraus erwächst eine brutale Kälte. Daneben wirken die drei Auftragskiller (einer davon: Dieter Hallervorden, bevor er zu Didi wurde) regelrecht human. Die grobgestrickten Halbwelt-Typen zeigen wenigstens noch gewisse Regungen, wenn sie danebenschießen, haben ein altmodisches Berufs-Ethos und betreiben ein vergleichsweise ehrbares Handwerk.

Dieter Thomas Heck als Showmaster Thilo Uhlenhorst
Jörg Pleva als Millionenspiel-Kandidat Bernhard Lotz
Dieter Hallervorden als Killer Köhler

Ein schlimmer Verdacht keimt auf: Dass auch die Hitparade so philanthropisch nicht war, dass hinter der munteren Volksbelustigung womöglich derselbe blanke Zynismus waltete wie in diesem Millionenspiel – dass die Akteure auf der Bühne ebenso wie das Publikum im Saal und vor den Mattscheiben nichts anderes waren als missbrauchtes Menschenmaterial, ähnlich wie der arme Lotz im Film…

The Show must go on – und das Spektralfarben-Ballett tanzt dazu: 1970er Jahre-Design auf der Höhe der Zeit.

Der wird gespielt von Jörg Pleva (1942 – 2013), und dass der Film uns auch emotional zu packen weiß, ist seiner Darstellung zu verdanken. Eine ausgearbeitete ‚Charakter-Psychologie‘ hat dieser Bernhard Lotz so wenig wie die anderen Figuren, er wird auf keine ‚Heldenreise‘ geschickt, wie sie die gängigen Storytelling-Rezepte von einem ordentlichen Drehbuch verlangen, seine Geschichte ist keine von Auftrag, Anfechtung, Bewährung und Erlösung. Lotz hat keine ‚Mission‘, er will ganz einfach nur lebend ans Ziel kommen. Der Film treibt sein Spiel auch mit unserem Identifikationsbedürfnis und macht uns kein eindeutiges Angebot, wie wir unsere Sympathien verteilen sollen. Aber immer wieder holt uns die Kamera in Großaufnahmen Plevas Gesicht heran, das von Anspannung und Todesangst, in den wenigen ruhigen Momenten aber auch von einer großen Schwermut gezeichnet ist. Als sei schon längst alles verloren, noch bevor über Sieg oder Niederlage entschieden ist.

Angst & Melancholie: Jörg Pleva in Das Millionenspiel

Als der Film entstand, war 1968 erst zwei Jahre her. Das ikonische Datum und alles, was wir damit verbinden, spielt in ihm scheinbar keine Rolle. Er zeigt ein Land, in das (wieder) eine gespenstische Ruhe eingekehrt ist, eine bedrückende Normalität. Sollte es hier tatsächlich einmal Dissidenz, Systemkritik, Opposition, Protest, Aufruhr oder irgendeine Form von ‚Gegenkultur‘ gegeben haben, dann sind die Erinnerungen gelöscht, die Folgen verdaut und die Spuren getilgt. Diese Gesellschaft hat offensichtlich (wieder) verlernt, sich von außen, aus einem alternativen Blickwinkel zu betrachten – ein re-formiertes Gemeinwesen, das von allen Utopien glücklich geheilt ist.

Und falls einmal ein Clash der Generationen, ein Aufbegehren der Söhne gegen die Väter stattgefunden haben sollte, dann scheint auch dieser Spuk vorbei. Im Millionenspiel sind die Jungen zur Raison gebracht und die Alten immer noch (oder wieder) am Ruder. Die Kriegs- und Aufbau-Generation sitzt wie ehedem an den längeren Hebeln und bestimmt die Spielregeln. Im Film hat sie die Gestalt des bulligen TV-Managers Robert Moulian, als „Leiter der Abteilung Wettbewerbsspiele“ zuständig für die Kandidaten-Rekrutierung. Sein Job ist es, den jungen Freiwilligen eine Grundausbildung zu verpassen und sie zu tauglichem Kanonenfutter zu formen, das sich möglichst gut für höhere Zwecke verheizen lässt.

Friedrich Schütter als Robert Moulian
in Das Millionenspiel

Er wird verkörpert von Friedrich Schütter, Jahrgang 1921, den Zuschauern damals bestens vertraut als die deutsche Stimme von „Pa“ Cartwright, dem gütig-strengen Patriarchen aus der Serie Bonanza. Auch im Millionenspiel ist er derjenige, der den Nachwuchs auf Vordermann bringt, notfalls im altbekannten Kasernenhof-Ton: „Reißen Sie sich zusammen, Mensch, wir haben einen Vertrag!“, herrscht er den Kandidaten an, als dieser vorzeitig schlapp zu machen und von der Fahne zu gehen droht.

Kriegs- und Nazizeit gehören nicht zu den Themen, die im Millionenspiel offen ausgespielt werden. Wie 1968 liegt auch 1933-1945 nicht an der Oberfläche der Geschichte, die hier erzählt wird. Aber man kann sagen: Wolfgang Menge und Tom Toelle haben einen Hohlraum geschaffen, in dem die Echos dessen, was nicht zur Sprache kommt, umso deutlicher zu hören sind.

Vielleicht liegt es an diesen historischen und politischen Subtexten, an diesem ‚gesellschaftlichen Unbewussten‘, das klug und hintergründig zum Vorschein gebracht wird, dass der Film, bei aller Action, die er bietet, eine so trostlose Stimmung verbreitet. Und hier ist wohl auch der Grund zu suchen, weshalb der Kandidat nicht bloß notgedrungen hyperaktiv ist, sondern auch diese melancholisch-resignativen Züge trägt. Den Jungen ist beigebracht worden, dass Aufbegehren zwecklos ist. Wer das kapiert hat, darf auf die Gratifikationen hoffen, die das System denen gewährt, die sich von ihm instrumentalisieren lassen. Und damit das auch alle sehen, merken, wissen und spüren, wird dieser ‚Generationenvertrag‘ in Form des Millionenspiels auf einer öffentlichen Plattform buchstäblich vor aller Augen inszeniert und gleichzeitig vollstreckt. Damit jetzt und in Zukunft keiner mehr auf den dummen Gedanken kommt, es wären außerhalb der Welt der „Wettbewerbsspiele“ eventuell noch andere Arten von Freiheit und Glück zu haben.

Das Deutschland, das hier porträtiert wird, ist jedenfalls keines, in dem man wirklich leben möchte. Das dicht besiedelte NRW, das Lotz auf seinem Leidensweg zu durchqueren hat, ist zwischenmenschlich gesehen eine Wüste, ein a-sozialer Raum, wo es zwar auch einige „brave Samariter“ gibt (wie es der Showmaster ausdrückt), aber deren Mildtätigkeiten gegenüber dem Kandidaten sind nicht von einem gemeinsamen Moral-Code oder von zivilen Tugenden getragen, die von der ganzen Gesellschaft geteilt würden, sondern abhängig von den wechselnden Gefühlslagen der Leute, die ansonsten ungerührt ihren jeweiligen Privatgeschäften nachgehen. Die Menschen auf der Straße haben ihre Meinungen über das, was gut oder schlecht, was recht oder unrecht ist, was man seinen Zeitgenossen antun darf oder besser unterlassen sollte, und alle sagen ihre Meinungen auch gerne in die Mikrofone, daran liegt es nicht. Aber es scheint, als hätten sie keine Worte, kein gemeinsames Vokabular für so etwas wie Gemeinwohl und dafür, wie es zu gestalten wäre.

Das alles hat auch, aber nicht nur mit Fernsehen zu tun. Möglicherweise ist der Film, aus heutiger Sicht betrachtet, ja noch auf eine tiefergehende Weise ‚prophetisch‘, als die Rede von der ‚Mediensatire‘ vermuten lässt. Liegen wir wirklich so falsch, wenn wir im Millionenspiel einen ‚Strukturwandel‘ am Horizont heraufziehen sehen, der 1970 noch Social Fiction war, in den Jahrzehnten danach aber die Ökonomie, die Politik und die Kultur, unsere Gefühle und unser Zusammenleben noch einmal umfassend re-formiert hat? Die Menschen und die Verhältnisse im Millionenspiel sind ein bisschen schon so, wie eine neo-liberale Wirtschafts- und Weltordnung sie sich als Geschäftsgrundlage erträumt.

Zu den Menetekeln, die der Film an die Wand malt, gehört auch die Vision einer entsolidarisierten Gesellschaft, die neben einigen unliebsamen Vergangenheiten auch ihren Common Sense entsorgt hat, weil er dem Marktgeschehen hinderlich ist. Kann es sein, dass hierin sein eigentlicher ‚Skandal‘ besteht, der uns heute noch so nachhaltig irritiert?


Manfred Etten

Autor & Leser, verfertigt Schriftstücke & Bilder. Wenn er das nicht tut, wandert er am liebsten durch die offene Landschaft. Motto: „Ain’t talkin‘, just walkin'“ (Bob Dylan).
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Die ARD Mediathek zeigt Das Millionenspiel im Rahmen eines Programmschwerpunkts zu Ehren des Autors Wolfgang Menge, der am 10. April 100 Jahre alt geworden wäre,

darunter die 1972 – 1976 in der ARD ausgestrahlten Folgen der Kultserie Ein Herz und eine Seele und den vom damaligen Süddeutschen Rundfunk produzierten Tatort: Stuttgarter Blüten (1973). Weitere Geburtstags-Beiträge gibt es auf der kostenpflichtigen Plattform ARD plus.

Mehr zur Person: Wolfgang Menge: Visionär der TV-Unterhaltung, NDR Info 10.04.2024

Der Wikipedia-Artikel zu Das Millionenspiel bietet u.a. eine kommentierte Liste von Filmen und Serien zum Thema Menschenjagd im Film, darunter die 1987 entstandene Stephen-King-Verfilmung Running Man mit Arnold Schwarzenegger, die, angesiedelt im Jahr 2017, wie ein aktualisiertes Hollywood-Remake (bzw. Plagiat) des Millionenspiels wirkt. Übereinstimmungen bis hin zum Set-Design sind jedenfalls unübersehbar. Hatte auch Stephen King 1970 das ARD-Programm eingeschaltet?

Bildnachweise

Briefmarke Das Millionenspiel: © Bundesfinanzministerium / WDR, Design: Thomas Steinacker

Dieter Thomas Heck, Jörg Plewa, Dieter Hallervorden, Wolfgang Menge: © WDR

„Guten Morgen, meine Damen und Herren…“, The Show must go on – und das Spektralfarben-Ballett tanzt dazu, Angst & Melancholie: Jörg Pleva in Das Millionenspiel, Friedrich Schütter als Robert Moulian, Bernhard Lotz im Netz einer ‚landesweiten Fahndung‘: © WDR (Screenshots aus Das Millionenspiel, ARD-Mediathek)

Fahndungsplakat des Bundeskriminalamtes: © Historisches Lexikon Bayerns https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/index.php?curid=3311

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