Alles Gute, Jurij!
Schon immer gegen Krieg: der russische Sänger Jurij Schewtschuk und seine Rockgruppe DDT in Deutschland
von Achim Forst
Zwischen Hunderten von russisch sprechenden Menschen aller Generationen gehen wir auf die Jahrhunderthalle in Höchst bei Frankfurt zu. Dort beginnt gleich das Konzert der russischen Rockband DDT. Warum habe ich ausgerechnet jetzt ganz andere Szenen im Kopf? Ich muss dauernd an die heute show und Außenreporter Fabian Köster denken, wie er vor kurzem in Bonn Putin-begeisterte Russen auf dem Weg zur Präsidenten-,Wahlʻ befragte. Russische Staatsbürger, die wie die Mehrheit der hier lebenden Türken geschützt vom deutschen Rechtsstaat mit viel Nationalstolz ihre Kreuzchen für ihren jeweiligen Autokraten, respektive Diktator machten. – Solchen Menschen, denke ich, werden wir hier ganz bestimmt nicht begegnen.
Seltsame Gedanken vor einem Rockkonzert? – Aber DDT ist eben keine normale Rockgruppe und ihr Mitgründer Jurij Schewtschuk mehr als nur ihr Leadsänger. Seine Karriere und die von DDT war schon in der sowjetischen Zeit untrennbar verbunden mit Unbotmäßigkeit gegenüber den Herrschenden – der ,Machtʻ, wie es auf russisch heißt – mit Protest, politischen Meinungsäußerungen und Konzertverboten. 1980, im Jahr der Gründung, muss Schewtschuk für 15 Tage ins Gefängnis, weil er einen Polizeihauptmann geschlagen hat, zwei Jahre später versucht er vergeblich, in Gorki den verbannten Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow zu besuchen.
Geschützt vom Erfolg
Parallel dazu kommen die musikalischen Erfolge und die wachsende Popularität im Sowjetreich, die DDT und Schewtschuk relativen Schutz geben. 1982 gewinnt die Gruppe die Goldene Stimmgabel, den Hauptpreis eines landesweiten Musikwettbewerbs der Gewerkschaften. Aber schon 1984 bekommt Schewtschuk wieder Ärger mit den Behörden, weil er in seinem Album Peripherie das Leben seiner Stadt Ufa allzu trist gezeichnet hat. Die Zweigstelle des KGB und die KP-Jugendorganisation Komsomol lassen weitere Konzerte und Studioaufnahmen verbieten und legen ihm nahe, die Stadt zu verlassen. Begleitend dazu wird Schewtschuk in der Presse wegen seines Liedtextes „Lasst uns den Himmel mit Güte füllen“ als „Agent des Vatikans“ bezeichnet.
Dem weiteren Aufstieg von DDT kann das alles nichts anhaben, die Reibereien mit den Mächtigen machen die Band noch populärer, weil sie ihr nonkonformistisches Image verstärken.
Jurij Schewtschuk: Ich sah Tragödien, Horror, Albträume, zerstörte Häuser, Kinder, Großeltern, Militärs. (…) Seit 20 Jahren gibt es im postsowjetischen Raum Kriege. Der erste ethnische Krieg begann im Februar 1988 in Karabach, dann in Fergana, Transnistrien, Tschetschenien, Tadschikistan und so weiter. Seit nunmehr 20 Jahren wird Blut vergossen, Menschen töten Menschen, Frauen, Alte, Kinder leiden.
Den Krieg, der uns alle beschäftigt, die wir jetzt die futuristische Kuppel der Halle in Höchst betreten, hat Schewtschuk sofort nach Putins Überfall im Februar 2022 öffentlich in einem Konzert verurteilt. Genauso wie die anderen Kriege Putins: den gegen Georgien und die beiden in Tschetschenien. 1995 reist Schewtschuk dorthin und gibt drei große Konzerte. Irgendwann wird die Autokolonne beschossen, ein Fahrer schwer verletzt. „Wir sind als normale Bürger dorthin gegangen, wir waren von keiner Partei engagiert“, sagte Schewtschuk damals im Interview: „Bei den Konzerten waren sowohl die tschetschenische als auch die russische Seite mit Waffen anwesend, aber sie schossen nicht aufeinander. Das ist es, was wir wollten. Das war großartig.‟ (Jugend Moldawiens, 23.11.1996)
Von hinten betritt ein unscheinbarer älterer Mann in einem blauen Sweatshirt die Bühne der Jahrhunderthalle, ohne Bühnenlicht, ohne Effekte. Von den Roadies, die eben noch die letzten Mikrofone aufgestellt haben, unterscheidet er sich nur durch sein Alter und die runde Metallbrille.
Plötzlich von allen begeistert beklatscht, begrüßt Jurij Schewtschuk auf Russisch kurz sein Publikum – „meine lieben Freunde‟ – und los geht‛s: DDT spielt wie immer schon eine wilde Mischung aus harten, kantigen Rocksongs – die subwoofer-mäßig verstärkte Bassdrum bringt dabei die vorderen Stuhlreihen zum Hüpfen – und Schewtschuks sanften, manchmal melancholischen Balladen in der Tradition der russischen Barden, vor allem des legendär-ikonischen Liedermachers Wladimir Wyssozkij.
Schewtschuk and Friends
DDT – das ist seit Jahrzehnten eine Marke, und doch ist DDT vor allem ‚Schewtschuk and Friends‛: Die hervorragenden jungen Musiker (Posaune, Gitarre, Keyboard, Bass, Schlagzeug) dürfen in Soli ihre Fähigkeiten beweisen, aber am wichtigsten ist, dass sie Schewtschuk, seinen Songs und dem musikalischen Erbe von DDT dienen. Nur die Sängerin Aljona Romanowa bekommt ein Solo-Feature mit zwei starken eigenen groovig-folkoristischen Songs.
Neben den neuen Stücken gibt es natürlich DDT-Klassiker in neuer Bearbeitung, zum Beispiel den Song Schto takoje osen (Was ist Herbst), den manche ältere Fans in der aktuellen Version allzu ,hardrockigʻ empfinden. Im Netz gibt es ein Musikvideo des Songs von 1991, ein Spitzentreffen dreier russischer Rockgrößen verschiedener Bands – Schewtschuk mit Wjatscheslaw Butusow (Nautilus Pompilius) und Konstantin Kintschew (Alisa), die heute beide zu Putins ‚Z-Patrioten‛ gehören und den Ukraine-Krieg unterstützen. Trotzdem spricht Kintschew immer noch mit Respekt über Schewtschuk.
Musikvideo von 1991: DDT – Was ist Frühling
Jurij Schewtschuk sang mit seinen prominenten Kollegen: Wjatscheslaw Butusow (Nautilus Pompilius) und Konstantin Kintschew (Alisa) einen der bekanntesten Songs von DDT.
Was der dazu sagt, wissen wir nicht, aber Unterstützung kann er auf jeden Fall gut gebrauchen. Denn für sein politisches Engagement zahlt Schewtschuk inzwischen in Russland einen immer höheren Preis. Nachdem er in einem Konzert im Februar 2022 in scharfen Worten den Angriff auf die Ukraine verurteilt hatte, ging es ihm wie Tausenden anderen Russen: Wegen „Verunglimpfung der russischen Armee‟ wollten die Behörden ihn mit Aussicht auf eine Haftstrafe vor Gericht stellen. Doch das Gericht konnte in Schewtschuks Äußerungen keine Herabwürdigung der Armee entdecken, und so wurde der Chef von DDT nur zu einer Geldstrafe von 800 € verurteilt.
Auftrittsverbot für DDT
Doch was schlimmer war: Nach und nach wurden, teilweise unter Druck, die Konzerte von DDT abgesagt, und inzwischen hat Schewtschuk offiziell Auftrittsverbot in seinem Land. So spielt DDT jetzt Konzerte in Israel, Portugal, Österreich und – nur ein Mal – in Deutschland. Nach der Tournee wird Schewtschuk wie immer nach Russland zurückkehren.
Dabei bewegt er sich auf dünnem Eis, und das weiß er. Ein bisschen zurückhalten bei dem, was er sage, müsse er sich: Das sagt Schewtschuk, bevor er zwei Anti-Kriegslieder ankündigt. Aber er muss es gar nicht selbst aussprechen: Nach dem ersten Song skandiert ein Grüppchen im Saal den seit 2022 in Russland verbotenen Slogan „Net woinje!‟ (Nein zum Krieg!), und das gesamte Publikum schließt sich an. Den Song Nje streljai! (Schieß nicht!), heute Abend gesungen vor einem aktuell wirkenden Video mit schweigenden Soldaten an irgendeiner Front, schrieb Schewtschuk schon 1980 anlässlich des Afghanistankriegs, im ersten Jahr der Band.
In welchem Jahr haben Sie das Lied „Schieß nicht!“ geschrieben?
Jurij Schewtschuk: 1980. Wir erhielten den ersten Sarg aus Afghanistan, mein Freund Vitya Tyapin brachte ihn, mein Klassenkamerad, der dort seit den ersten Kriegstagen als Leutnant diente. Er brachte die ersten Särge nach Ufa, ich lebte damals dort. Wir haben dann die ganze Nacht mit ihm geredet. Und dann wurde uns gesagt, dass wir dort Kindergärten bauen würden … Aber tatsächlich herrschte dort Krieg. Ein Freund erzählte mir die ganze Nacht von diesem Krieg. Wir tranken und am nächsten Morgen war dieses Lied geschrieben und kam aus mir heraus.
Schieß nicht!
Schieß nicht! ist eins der Lieder, die Schewtschuks Karriere begleiten. Und „Nje streljai!‟ war auch das Motto der beiden Antikrieg-Konzerte, die DDT im September 2008 nach einer Kaukasus-Reise Schewtschuks in Moskau und Sankt Petersburg gab. Vorher hatte er sich noch an einem Protestmarsch gegen den jüngsten Wahlbetrug Putins beteiligt und bei einem Runden Tisch des Petersburger Wirtschaftsforums Russland kritisiert. Schewtschuk forderte damals einen Kampf der Meinungen, „kein Einiges Russland‟, wie Putin seine Partei benannt hatte.
Jurij Schewtschuk lebt bis heute gefährlich, denn zwei Jahre später, 2010, forderte er Wladimir Putin, damals in der Rolle des Regierungschefs, direkt heraus, indem er ihm in einer öffentlichen Rede zehn detaillierte, unbequeme Fragen stellte. Ähnliches hatte davor nur der geschasste russische Oligarch Michail Chodorkowskij gewagt, und der zahlte dafür mit zehn Jahren Lagerhaft.
Unbequeme Fragen an Putin
Schewtschuk fragte zum Beispiel nach den millionenschweren Barzahlungen an die Bosse der staatlichen Großunternehmen, warum die Gäste eines Ministers mit vergoldeten Betten ausgestattet wurden und warum der Geheimdienst FSB Millionen Rubel für Krawattenklammern ausgab – und das angesichts enormer Armut und unbezahlbarem Wohnraum im Land.
Man sagt, dass Russland von den Knien aufsteht und dass man Angst vor uns haben sollte.
Jurij Schewtschuk: Ich sehe dahinter, dass wir wahrscheinlich eine neue Phase des Militarismus und des Imperialismus erleben, der sich jetzt in prächtigen Farben im Land aufbläst und dem Volk Märchen erzählt: Dass wir schon mächtig sind, stark, den anderen voraus. Das sind wir in Wirklichkeit überhaupt nicht. Wir haben noch viel zu tun, zu erledigen und aufzubauen. Das Ganze ist eine Ablenkung der Massen von internen Problemen.
Schewtschuk fragte auch, warum „Staatsanwälte in coolen Autos‟ ungestraft einfache Bürger überfahren können, warum der europäische Teil Russlands nur durch eine einzige marode Bundesstraße mit Sibirien verbunden ist und warum der Eurovision Song Contest in Moskau doppelt so viel kostete wie im wohlhabenderen Norwegen. Der elfte Punkt der „Fakten und Fragen an W.W. Putin‟, die Schewtschuk in einem Blogbeitrag für den Radiosender Echo Moskwy (Echo von Moskau) veröffentlichte, hieß: „Fortsetzung folgt …‟
Heute, 14 Jahre später, ist Jurij Schewtschuk gesundheitlich angeschlagen, aber innerlich ungebrochen. Von seinem Herzinfarkt im September 2023 erzählt er in Höchst so beiläufig, als habe es sich um eine Wintergrippe gehandelt.
In einem Videointerview mit Katarina Gordejewa bezeichnete sich Schewtschuk 2022 als Pazifist und Anarchist. Wenn er das ist, dann ein ganz besonderer. Auf der Bühne der Jahrhunderthalle steht und redet Schewtschuk auch nicht wie ein Rockstar, der er ist, sondern wie ein väterlicher Freund, der durch diese dunkle Epoche Russlands begleitet. Dabei gibt er uns, seinem Publikum, das gute Gefühl, dass wir mit unserer Wut, Ängsten und Nöten nicht allein sind, sondern zu einer wunderbaren menschlichen Gemeinschaft gehören, die an das Gute glaubt und daran, dass es das Böse schließlich doch besiegen wird.
Jurij Schewtschuk: Meine Seele tut weh, ich habe Angst, dass wir bald einen Krieg mit der Ukraine beginnen werden. Nicht wir, unsere Politiker. Wir haben alles: Ich habe T-55-Panzer „Kalaschi“ in Zchinwali gesehen. … Wer wird kämpfen? Unsere Jungs, Dorfjungen. Ich habe oft gesehen, wie sie, diese unsere Kinder, einfach an „Hotspots“ getötet wurden. Und die arbeitenden Jugendliche aus den Randbezirken …
Alles in einem Lied
Ganz am Schluss singt Schewtschuk dann noch das eine Lied, auf das ich wie die meisten gewartet und gehofft habe – das Lied, durch das ich ihn und DDT vor 30 Jahren kennengelernt habe. Es beginnt als melancholische Ballade, die mitten ins Herz geht und sich dann zu einem hymnischen Rocksong zum Mitsingen steigert: Eto wsjo (Das ist alles). Darin geht es um Erinnerung, Vergebung und Abschied. Die Strophen sind poetisch und rätselhaft („Die Erinnerung sitzt mit uns am Tisch“, „Eine Möwe schreit auf einer weißen Wand“), doch der Refrain „Das ist alles, was von mir bleiben wird. Das ist alles, was ich mitnehme“ vermittelt klar, dass hier einer aus Überzeugung singt, einer, der es sich nicht leicht macht, mit dem, was er gesagt und getan hat.
Eto wsjo (Das ist alles) – aus dem einzigen großen DDT-Konzert 2020
Ich glaube, am Ende dieses langen Konzertabends dachten alle in der Halle, denen das Schicksal Russlands nicht egal sein kann, ungefähr dasselbe: Hoffentlich passiert ihm nichts! Dass Schewtschuk und sein Herz durchhalten und dass er diesen immer stalinistischer und faschistischer werdenden Staat, in dem inzwischen Folter, nationalistischer Hass und Mord öffentlich gutgeheißen werden, noch rechtzeitig verlassen kann oder zum richtigen Zeitpunkt klug genug ist, nicht dorthin zurückzukehren.
Wsego dobrogo, alles Gute, Jurij!
Bildnachweise
Aufmacherfoto Jurij Schewtschuk: © DedaSasha, CC BY-SA 4.0
<https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Zitat-Foto Jurij Schewtschuk: © Igo Wereschtschagin, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
Foto Jurij Schewtschuk in Höchst 2024 (blau): © Achim Forst, CC BY-SA 4.0
Fotoserie Wir tragen den Krieg zu Grabe: © Achim Forst, CC BY-SA 4.0
Foto Nje streljai! (Schieß nicht!): © Achim Forst, CC BY-SA 4.0
Foto „Für ehrliche Wahlen“: © Bogomolov.PL, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons