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Etwas über Frieder Nake

von Werner Biedermann

Im August des Jahrs 2000 saß ich im Tagungshaus-Foyer des DGBs in Hattingen und wartete auf den Beginn einer Veranstaltung zur Arbeitnehmerweiterbildung. Ich hatte mich vertieft in eine Tageszeitung, hinter der angeblich kluge Köpfe stecken, und blickte verstohlen über den Zeitungsrand. Da nestelte ein älterer Haustechniker an einem grazilen, spinnen-ähnlichen Gebilde herum, welches mich an eine Miniaturausgabe der riesigen Maman-Spinne von Louise Bourgeois vor dem Guggenheim-Museum in Bilbao erinnerte.

Maman von Louise Bourgeois

Auf einigen weißgetünchten Sockeln waren mehrere dieser feingliedrigen Objekte verteilt. Plötzlich begannen dieses Objekt und die anderen Drahtkonstrukte leise zu summen und sich zu bewegen. Der ältere Herr lächelte zufrieden und ging. Ich stand auf und schaute mir die ruckartigen Bewegungen dieser – augenscheinlich computergesteuerten – Maschinchen an. Sie fertigten mit dünnen Stiften Zeichnungen, die mich im weitesten Sinn an Arbeiten von Paul Klee erinnerten. Dieses war meine erste persönliche Begegnung mit Computerkunst. Zuvor hatte ich lediglich Fotos und Filme von Monitor-Installationen des Koreaners Nam June Paik gesehen und diese dem Thema Medienkunst zugeordnet.

Es war an der Zeit, mich mit den anderen Bildungswilligen in den Kursraum des DGBs zu begeben, und wir gruppierten uns um die Tischrunde. Die Referentin Frau Dr. Susan Grabowski kam in Begleitung des Haustechnikers, und sie bat uns, auf die bereitliegenden Kartons unsere Vornamen zu schreiben und zu Aufstellern zu falten. Auch der vermeintliche Haustechniker schrieb seinen Namen: „Friede“ – tat so, als ob der Platz in der Zeile für seinen Namen nicht ausreiche und setzte in die Zeile darunter ein „r“. Das war meine erste Begegnung mit Frieder Nake. Die im Foyer des DGB-Hauses ausgestellten Maschinchen waren die von ihm entwickelten computergesteuerten Zeichenmaschinen.

Frieder Nake: Hommage á Paul Klee, 13/9/65 Nr. 2 (1965)

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde der Seminarteilnehmenden: „Ich heiße…, ich komme aus…, ich bin…“, begannen die Referenten Susan Grabowski und Frieder Nake uns einen Überblick über die Seminarwoche zu geben. Im theoretischen Teil sollte es um Algorithmen gehen und im praktischen Teil um die grafische Umsetzung in Form von Plakaten.

Ich stellte eine Zwischenfrage: „Herr Professor Nake …“. Frieder Nake unterbrach mich: „Wenn Du noch einmal diese Anrede benutzt, muss ich dich aus dem Raum verweisen!“ Ach so, man war ja beim DGB, alle waren Kollegen und man duzte sich, dachte ich. Erst später erfuhr ich, dass Frieder Nake in den 1970er Jahren Mitglied des maoistisch verorteten Kommunistischen Bundes Westdeutschlands (KBW) gewesen war. Daher sein Menschenbild. Für den KBW kandidierte er 1979 sogar bei der Wahl zur Bremer Bürgerschaft. Allerdings erfolglos. Er musste jedoch infolge des sogenannten ‚Radikalenerlasses‘ ein Disziplinarverfahren überstehen.

Einer Mandelbrotmenge gleich entfaltete Frieder – in einer Mischung aus Anekdoten, dem verästelten Sinnzusammenhang von Chaos und Ordnung, Computern, menschlicher Wahrnehmung und Kunst – Gedankengebäude, kehrte aber von den gefransten Rändern seiner Erzählungen immer wieder zum Kern der jeweiligen Theorie zurück. Insbesondere das dialektische Denken war ihm wichtig, und er forderte uns auf, immer das Gegenteil eines Inhalts mitzudenken. Mit abstrakt anmutenden Zeichnungen illustrierte er am Flipchart den Bauplan seiner Gedankengänge.

Enigma-Chiffrier- und Dechiffriermaschine in der Ausstellung der DASA, Dortmund

Besonderes Augenmerk lenkte er auf den deutschen Erfinder und Unternehmer Konrad Zuse, der 1941 den ersten funktionstüchtigen und frei programmierbaren Computer der Welt entwickelt und gebaut hatte.

Auch der britische Mathematiker und Logiker Alan Turing, dem es maßgeblich gelang, die Chiffriermaschine Enigma aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu entschlüsseln, gehörte zu den anschaulichen Beispielen, mit denen er uns den Algorithmus erklärte.

Im praktischen Teil dieser Bildungszeit führte uns das Team Susan Grabowski und Frieder Nake in die Handhabung verschiedener Bildbearbeitungsprogramme ein. Die kreative Anleitung der beiden lenkte die Studierenden zu verblüffenden gestalterischen Lösungen. Nachdem Frieder uns bei seinen Ausführungen über das Lernen und die Lehre auch den tausendjährigen Muff unter den akademischen Talaren erläutert hatte, schien ihm das folgende Wortspiel eines Plakat-Slogans besonders gut zu gefallen: „Nur wer den Algorithmus kennt, gehört heut‘ zum Establishment“ – die Paraphrase auf einen Sponti-Spruch der 60er Jahre.

In den folgenden Jahren stellte sich heraus, dass es einen wiederkehrenden ‚Fanclub‘ der Teilnehmenden des Seminar-Teams Grabowski/Nake gab. Im Herbst 2023 leiteten die beiden ihr letztes Medienseminar beim sogenannten Hattinger Mediensommer des DGB.

Im Jahr 2018 ergab es sich, dass Frieder Nake und ich beim Mittagessen allein zusammensaßen, und ich fragte ihn ironisch, ob er mir nicht mal kurz den Sinn des Lebens erklären könne. Aus dem Stegreif hielt er mir einen zwanzigminütigen Kurzvortrag, der sich zwischen den Koordinaten der Logik und Dialektik von Friedrich Hegel, Immanuel Kant, Karl Marx und Friedrich Engels bewegte: Auch wenn der Sinn des Lebens das Leben selbst ist, muss allerdings jeder Mensch den Sinn oder die Sinnlosigkeit seines Daseins individuell füllen.

Frieder Nake und Werner Biedermann

Schon lange reifte in mir der Plan, einen Kurzfilm über das Phänomen ‚Zeit‘ zu drehen. Spontan fragte ich Frieder, ob wir nicht vor der Kamera ein Gespräch zu diesem Thema führen könnten. Im August 2019 drehten dann Ferdinand Fries und ich im Garten des Hattinger DGB-Tagungshauses den 14minütigen Kurzfilm Etüde über die Zeit. Frieder Nake erläutert im Film den Begriff der Zeit, ihren linearen Verlauf, subjektives und objektives Zeitempfinden, den Einfluss der Digitalisierung auf unser Zeitempfinden und anderes.

Etüde über die Zeit – Ein Solo mit Frieder Nake

Am 30. Januar 2024 nun ging Frieder Nake, der dienstälteste Professor der Universität Bremen, in den Ruhestand. Das Wintersemester 2023/24 war das 103. Semester des mittlerweile 85-jährigen Informatik-Professors.

Frieder Nake studierte an seinem Geburtsort Stuttgart Mathematik und promovierte 1967 über die Wahrscheinlichkeitstheorie. Von 1968 bis 1972 forschte der Informatiker an den Universitäten Toronto und Vancouver über Computerkunst und hatte sich parallel schon einen Namen als Pionier der Computerkunst gemacht. So war er beispielsweise 1970 in der Sonderausstellung Vorschlag für eine experimentelle Ausstellung auf der Biennale in Venedig vertreten. 1972 folgte er dem Ruf auf eine Professur für Grafische Datenverarbeitung und interaktive Systeme an die Universität Bremen.

Frieder Nake: Matritzenmultiplikation Serie 32 (1967)
Frieder Nake: Walk-Through-Raster Serie 7.3-1 (1966)

Zur Vollständigkeit dieses Artikels gehört es, dass ab jetzt alle Lesenden über das Gegenteil des Gelesenen nachdenken sollten! Das ist jedenfalls die Quintessenz meiner Lernerfahrungen bei Frieder Nake.


Werner Biedermann

Dipl.-Designer, Autor von Filmfachpublikationen, Regie bei vier abendfüllenden und zahlreichen Kurzfilmen, 20 Jahre Leitung des Kommunalen Kinos in Essen, zwei Amtsperioden im Vorstand des Filmbüro NW e.V.
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Frieder Nake auf Wikipedia (deutsch)

Frieder Nake auf Wikipedia (englisch)

Die Frieder-Nake-Kollektion der Gesellschaft für Informatik: T-Shirts und Kapuzenpullis mit ausgewählten Computerkunst-Motiven von Frieder Nake

The Art of Being Precise Frieder Nake im Gespräch (ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, 2021).

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Was ist Computerkunst? Frieder Nake erklärt es in anderthalb Minuten.
Artificial Intelligence & Artificial Art or: Humans & Computers: Vortrag von Frieder Nake (Merz Akademie, 2016).
Bildnachweise

Porträtfoto Frieder Nake, Maman von Louise Bourgeois, Enigma-Chiffrier- und Dechiffriermaschine: © Werner Biedermann

Frieder Nake, Hommage á Paul Klee: © Frieder Nake

Frieder Nake und Werner Biedermann: © Mariele Rupieper

Frieder Nake, Matritzenmultiplikation Serie 32 und Walk-Through-Raster Serie 7.3-1: © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Franz J. Wamhof

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