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Eine Neue Gier

von Frieder Nake

Gierig? Nein, das sollen wir nicht sein. „Schling nicht so“, sagte die Mutter. Vielleicht schob sie damals eine Begründung nach, Gesundheit und Charakter könnten unter der Gier beim Essen und auch sonst leiden, so etwas, vielleicht.

Neugierig aber sollten wir schon sein. Vielleicht nicht allzu sehr. Neugierig sollen wir sein auf solches, wenn wir Kind sind, das die Erwachsenen den Kindern schon zuträglich finden. Aber dann gab es doch auch Zonen, die waren sehr tabu. Und stachelten deswegen die angeborene Neugier nur umso stärker an.

„Neugier lohnt sich“, heißt es bei einem der Programme von Radio Bremen seit geraumer Zeit immer wieder zwischendrin. Mindestens dem Wort nach muss die Neu-Gier eine Art von Gier sein. Wenn sie „sich lohnen“ soll, dann gibt es einen Lohn für sie. Womit wird der Neu-Gierige belohnt? Mit einer Lohnerhöhung vermutlich nicht. Dem kleinen Kind sagen manche Eltern gelegentlich: „Sei nicht so neugierig.“ Manches sollen wir offenbar erst irgendwann später erfahren, hören, sehen.

Wissenschaftler*innen sollen ungehemmt neugierig sein. Auch auf einen Film sind wir manchmal neugierig, auf die Landschaft irgendwo im Urlaub, auf das Verhalten der Leute dort. „Jetzt bin ich aber neugierig darauf, wie du das wieder hingekriegt hast. Verrätst du es mir?“

Wenn einer eine neue Software auf seinem Computer – Laptop oder Smartphone – installiert, ist er und auch sie oft genug gar nicht neugierig darauf, wie sie im Kern funktioniert. Die Gier aufs Neue erschöpft sich doch oft genug bereits damit, dass ein paar schicke Effekte gelingen.

Das Geschehen an der Oberfläche, dort also, wo die Wirkungen der laufenden Software sich zeigen, scheint für die Erkundung einer neuen Software oft schon auszureichen. Die Unterfläche soll ruhig im Verborgenen bleiben. Wir haben uns abgewöhnt oder haben uns noch nie so weit verstiegen, der Unterfläche Neugier entgegenzubringen.

Was soll das sein, wofür soll sie stehen, die Redeweise hier von einer Ober- und einer Unterfläche? Ich will es gern erläutern. Allzu weit brauche ich dazu gar nicht auszuholen. Auf ein Quäntchen Geduld aber darf ich schon hoffen, um ein bisschen begriffliche Neugier muss ich bitten.

Computer – von denen nämlich handelt dieser Text letztlich –, Computer sind Maschinen. Als Maschinen sind sie dazu da, etwas zu bearbeiten, ganz wie andere Maschinen auch. Allerdings ist der ‚Stoff‘, aus dem die Computerdinge sind, ein durchaus anderer als die Bleche und Hölzer und Flüssigkeiten, Schüttungen, Schrauben, Halterungen, Einrahmungen, Befestigungen und sonst noch vieles von materieller Art, das in stoffbearbeitende Maschinen eingebracht werden mag, damit aus Rohstoffen gewisse andere stoffliche Dinge werden, Geformtes, geformter Stoff.

Sind solche stoffbearbeitenden Maschinen vielleicht als ‚mechanische‘ zu bezeichnen, so gehören Computer zu einer Maschinerie ganz anderer Art. Es macht Sinn, sie als ‘semiotische’ Maschinen zu bezeichnen. Denn der Stoff, den sie bearbeiten oder den wir mit ihrer Hilfe bearbeiten, ist nicht primär Ding, sondern Zeichen. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Um ihn soll es in diesem kleinen Beitrag gehen. Und mit ihm möchte ich eine Aussage zur erneut entbrannten Hoffnung, Erwartung, Spekulation, zu den Heilserwartungen dessen machen, was man nun landauf, landab sich angewöhnt hat, die ‚Künstliche Intelligenz‘ zu nennen.

Was ich sagen werde, wird sein: Das Problem der ‚Künstlichen Intelligenz‘ ist nicht die Maschine, die intelligent werden soll, sondern sind die Menschen, die es bereits sind. Ich will mich solch einer Aussage annähern, indem ich mir selbst ein paar Fragen stelle. Vorweg aber muss ich eine Bemerkung machen zu den ‚Zeichen‘.

Zeichen

Zeichen sind erstens und vor allem nicht Dinge. Sie sind Relationen. Sie setzen zwei oder mehr Gegenstände in ein Verhältnis zu einander. Wir reden zwar sehr oft von Zeichen ganz so, als wären sie Dinge. Leider. Etwa so: „Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!“ lässt Goethe seinen Faust jubilieren, als er im Buch etwas sieht, das er als das Zeichen des Erdgeistes nimmt. Anscheinend besitzt das Zeichen hier die Fähigkeit, auf das Gemüt des Menschen eine Wirkung auszuüben. Jedoch, es ist, im Buch, nicht mehr als schnöde Druckerschwärze. Der deutungsbegabte Mensch selbst ist es, der der Druckerschwärze Wirkung abgewinnt, die ihn erschauern lässt.

Einer mag vielleicht auch sagen: „Gib mir ein Zeichen deiner Liebe.“ Das klingt zwar schon ein bisschen gestelzt, und bei wem er damit in heutiger Zeit Erfolg haben mag, wäre wohl fraglich. Doch wir können den Satz für möglich annehmen. Die Gabe, nach der hier als „Zeichen“ für Liebe verlangt wird, muss nicht unbedingt stofflicher Art sein, wie Dinge sie besitzen, die wir packen, um sie jemandem zu geben. Doch Zeichen ist das nicht. Es könnte jedoch durchaus zum Zeichen werden.

Anlass für Zeichen sind tatsächlich immer und notwendig wahrnehmbare Erscheinungen. So wie z.B. der Pfiff einer Lokomotive. Doch der Pfiff – ganz als Pfiff erst einmal – ist mehr nicht als nur Signal. Dieses Signal steht für die Lokomotive, die sich nähert. Das Verhältnis aber zwischen der Lokomotive, ihrem Pfiff und meinem Gedanken „Oh, Vorsicht, das kann beim Weitergehen gefährlich werden“ ist die Relation, die mir zum Zeichen wird, die ich zum Zeichen mache. Wenn ich weggehe, ist das Zeichen weg, so wie es entstand nur durch meine Wahrnehmung und Interpretation der Situation.

Ins Verhältnis zueinander werden hier gesetzt: der Pfiff – nennen wir ihn „R“; die Lokomotive – sie sei „O“; und mein Gedanke über die Bedeutung des Geschehens – ich schreibe „I“ für ihn. Mit diesen abstrahierenden Bezeichnungen will ich die semiotischen Grundannahmen von Charles Sanders Peirce (1839–1914) aufgreifen. Er nennt in seiner Semiotik (Lehre von den Zeichen) R: das „Repräsentamen“, O: das „Objekt“ und I: den „Interpretanten“.

Das Repräsentamen ist das, was bezeichnet, was also als wahrnehmbare Erscheinung zum auslösenden Moment für meine Zeichenbildung wird. Das Objekt ist das, was bezeichnet wird. Das Andere also, das abwesend sein mag, durch das Repräsentamen aber herbeizitiert, in Erinnerung gerufen, zum Gegenstand unseres Diskurses gemacht wird. Der Interpretant schließlich ist das Ergebnis meines je subjektiven Interpretierens jenes Bezeichnungs-Paares. Er ist, wie Peirce erläuternd sagt, selbst Zeichen. Nur so, indem wir das Bezeichnen eines O durch ein R interpretieren und das Ergebnis eines solchen Aktes explizit machen wollen, entsteht ein Zeichen. Und es gebiert im Moment seines Entstehens ein weiteres Zeichen.

Das wird, so steht zu befürchten, einigermaßen verwickelt wirken. Doch diese Wirkung ist nicht zu vermeiden. Weil eben Zeichen Dinge nicht sind, sondern Relationen. Im Peirce’schen Begriff ist diese Relation also auch noch rekursiv, d.h. selbstbezüglich. Ich kann ein Zeichen nur abschließen, indem ich ein neues Zeichen setze, eben den Interpretanten, und dies immerfort ohne ein Ende. Zeichen sind somit Prozesse. Und unsere Fähigkeit ist ohne Abschluss, das einmal Gesagte und Gesetzte fortzuführen.

Diesen kurzen Blick in die Semiotik von Peirce muss ich dem Leser und der Leserin zumuten, damit wir eine vielleicht zwar ungewohnte, jedoch sichere Grundlage für das Weitere schaffen. Es mag, ergänzend, vielleicht nützlich sein, mit Umberto Eco im bezeichneten Objekt die konventionelle oder kulturelle, die allgemein in einer Gesellschaft vorhandene ‚Bedeutung‘ des Zeichens zu sehen, im interpretierten Interpretanten hingegen die individuelle oder subjektive, die besondere ‚Bedeutung‘. Das Rot der Ampel an der Straßenkreuzung bezeichnet kulturell einen Paragraphen in der Straßenverkehrsordnung. Er ruft mich zum unbedingten Stillstehen auf. Meine subjektive Interpretation jedoch mag, nach gebührender Beobachtung der konkreten Situation, durchaus abweichend sein, nämlich „Weitergehen mit Bedacht“.

Semiotische Maschine

Wir können nun feststellen, dass die klassische Maschine es mit der Handarbeit zu tun hat, die transklassische hingegen (das ist der Computer) mit der Kopfarbeit. Maschinen werden – wie vor ihnen die Werkzeuge – dafür erfunden, konstruiert und eingesetzt, dass Menschen mit ihrer Hilfe Tätigkeiten vollführen, die ohne Maschine nicht oder nur mit großer Mühe und Anstrengung zu vollbringen wären. Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die klassische Maschinerie Triumphe feierte, kam es bei der Erzeugung von Stoffen für Textilien allmählich dazu, dass die dafür geeigneten Maschinen ganze Säle füllten, in denen sie munter, nahezu automatisch vor sich hin werkelten.

Wir kennen Bilder, auf denen an der einzelnen Maschine kein Mensch mehr sitzt, der die Maschine bedient, damit sie das tun kann, was sie tun soll. Im Saal aber sehen wir einzelne Gestalten, meist Frauen, die Überwachungsarbeit leisten. Sie schauen sich um und hören aufmerksam hin, um zu bemerken, ob und wo eine der vielen Maschinen aus dem Ruder läuft. Geschieht solches, so eilt eine der Frauen zum Ort des Geschehens, um das Malheur rasch zu beheben. Denn die Maschine darf nicht stillstehen.

Auf einem Höhepunkt der Entwicklung der mechanischen Maschinerie also taucht die Kontrollarbeit als besondere Arbeit auf: die Kopfarbeit. Davor gibt es sie nicht als eigenständige Arbeit. Alle Arbeit geschieht schon immer als Einheit von Hand- und Kopfarbeit. Nur analytisch können wir von diesen beiden Aspekten der Arbeit getrennt reden. Die Kontrolle von Maschinen ist jedoch einsichtig eine andere Art der Tätigkeit als die Bedienung von Maschinen. Der separaten Kopfarbeit nun aber kann es gar nicht anders ergehen als der Handarbeit zuvor: Sie muss unter der Regie des Kapitalverhältnisses, soweit es irgend geht, maschinisiert werden. Mitte des 20. Jahrhunderts wird mit dem Computer die dafür notwendige Maschinerie geschaffen.

Da die Gegenstände von Kopfarbeit mehr oder minder und unmittelbar oder mittelbar Zeichencharakter aufweisen (Diagramme, Skizzen, Vorschriften, Formeln, Berichte, Listen etc.), müssen die Maschinen der Kopfarbeit in die Lage versetzt werden, Zeichen und Zeichenprozesse zu bearbeiten. Sie müssen semiotische Maschinen sein – eine völlig neue Art der Maschinerie. Mit dem Auftreten und der Verbreitung der semiotischen Maschine geht die Epoche der Moderne über in die der Postmoderne.

Da nun aber die Menschen durchaus als semiotische Tiere gekennzeichnet werden können (wie der Mathematiker Felix Hausdorff es getan hat), kommt es seit gut fünfzig, sechzig Jahren zu einer erstaunlichen historischen Situation: zur Begegnung von semiotischem Tier und semiotischer Maschine. Darin ist die Ursache für die merkwürdige Rede von der Künstlichen Intelligenz zu sehen!

Schauen wir also die Begegnung ein wenig genauer an, die diesen merkwürdigen Namen trägt und derzeit den größten Rummel ihrer Existenz durchläuft, die mit Milliarden als neues Heilsversprechen gefördert wird und über die oft unverdächtige Junge und Alte in Verzückung verfallen, die religiösen Erwartungen nicht allzu fern liegt. Uns soll es eher um eine aufgeklärte Position der Ideologie der Künstlichen Intelligenz gegenüber gehen.

Berechenbarkeit

Sind wir denn wirklich neugierig auf den Computer? Im zarten Alter von drei oder sechs Jahren bekommen Kinder heute ihren ersten Computer in die Hand gedrückt. Sie haben ungeduldig auf ihn gewartet und werden ihn nun nicht mehr loslassen, werden sehr rasch lernen, geschickt auf seinem kleinen Bildschirm herumzuwischen. Sie werden dieses und jenes erscheinen und verschwinden sehen. Sie werden das nicht gleich verstehen, werden sich in diese eigenen Zeichenwelten aber schnell ein-sehen. Die Welt wird flach und bunt und flüchtig sein und ohne Anstrengung. Oberflächlich werden sie vertraut werden mit einer neuen Welt der Leichtigkeit. Ihre Neugier ist geweckt und wird bedient.

So wenig wie ihre Eltern – die sie kaum anders kennen als mit dem Wischfinger – ahnen sie, welch riesige Leistungen der Berechenbarkeit sie unschuldig in Gang setzen, hin und her schubsen, erscheinen und vergehen lassen. Sie rennen gern und hüpfen gern herum, auf der Straße draußen, denn sie spüren ihren Körper und wollen ihn erfahren. Ihr angeborenes Verlangen nach Körperlichkeit, aus dem sie unmerklich dem Denken nahekommen, wird drinnen beim Wischen auf dem Stückchen glatter Fläche semiotisch missbraucht in spielend leichter Beliebigkeit. Alles ist immer schon da in dieser Welt. Erstmals erfahren sie sich als Erwachsene, denn die machen auch nichts anderes, als Licht herumzuschubsen.

Das Berechenbare, ohne das hier nichts ginge, erfahren sie als spielend leicht, begriffslos, unendliche Neuigkeit in jeder Richtung. Die große Neugier, die sie prägt, wird ohne Ende so bedient, dass sie sehr leicht zu einer Gier werden kann, die stets auch schon erfüllt wird. Wunsch und Erfüllung liegen Millimeter auseinander. Die Gier des Neuen kennt nur noch unmittelbare Erfüllung. Die Welt der Zeichen ist ganz radikal das pure Gegenteil zur Welt der Dinge. In ihr gab es Verlangen und Verzicht.

All diese Oberflächlichkeit jedoch ruht auf der Unterfläche des Berechenbaren, worauf niemand noch Neugier kennt. Denn die semiotische Maschine, der Computer, ist auch nichts anderes als die Maschine der Berechenbarkeit. Das aber braucht man nicht zu wissen, nicht zu lernen und zu verstehen schon gar nicht. Es täte aber not zu lernen, dass alles, was Computer tun und können, im Auswerten von berechenbaren Funktionen besteht. Das ist sehr viel und reicht sehr weit. Doch es hat prinzipielle Grenzen, die von Mathematikern in den 1930er Jahren schon klar formuliert worden sind. Die Welt ist nicht berechenbar und wird das auch nie werden. Das Unberechenbare können wir zwar denken. Aber keine Maschine kann es berechnen.

Diese Einsichten von Kurt Gödel und Alan Turing und einigen anderen sind quasi Weltkulturerbe und müssten in geeigneten Formen allen Menschen so offenstehen wie der Kölner Dom. Das Gegenteil aber ist der Fall. Hinter einem Gerede von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz wird die Aufklärung bewusst und ungeheuerlich verdrängt.

Denn erstens ist es nicht die digitale Form der Speicherung, auf die alles derzeitige Trachten zielt. Es ist viel mehr die Reduktion menschlicher Tätigkeiten auf Algorithmen, um die es wirklich geht. Alle gesellschaftlichen Funktionen des Alltags, die mehr als private Bedeutung haben, sollen reduziert werden auf berechenbare Form. Dies ist der Kern hinter der ‚Digitalisierung‘. Es ist ein erstaunliches Faktum unserer Gegenwart, dass eine Physikerin mit den Nebelkerzen der Digitalisierung einen Schleier vor die Anstrengungen der Algorithmisierung zaubert. Und diese, noch einmal sei’s betont, ist dazu da, gesellschaftliche auf berechenbare Prozesse zurückzuwerfen.

Soziale Medien

Es zeigt sich das, wovon ich schreibe, sehr prominent in Einrichtungen, die große Neugier und Begeisterung erwecken und erhalten – in Facebook, Google, Twitter, Instagram und manchen mehr. In den sozialen Medien, in Suchmaschinen also und in Möglichkeiten, die es jeder und jedem ermöglichen, Bilder, Videos, Texte, Musik zu veröffentlichen.

Eine Studentin fängt gerade an mit ihrer Master-Abschlussarbeit. Bei der dritten Besprechung erwähnt sie beiläufig, dass sie ihre Arbeit veröffentlichen wird. „Und denkst du, dass jemand daran interessiert sein könnte?“ Ihr staunender Blick trifft mich. „Wie?“ Da jeder alles im Netz publik machen kann, tut dies auch fast jeder. Als ich studierte, wäre keiner von uns auch nur eine Sekunde lang auf einen solchen Gedanken verfallen.

Denn erstens hätte es geheißen, den ganzen Text noch einmal abzufassen. Ein öffentlich zugänglicher Text verlangt andere Formulierung und Gestaltung als einer für den Abschluss eines Studiums, der eine Prüfungsleistung darstellt.

Und zweitens hätte kaum einer von uns gedacht, dass das, was er da tut, irgendeinen anderen interessieren könnte. Die pure Möglichkeit des Publizierens, die billig genug gegeben ist, verführt die Menschen dazu, es auch zu tun. Pure Quantität trägt den Sieg über einfachste kritische Überlegungen zur Qualität davon.

‚Sozial‘ werden diese allüberall vorhandenen und verfügbaren Medien genannt. Vermutlich, um sie von Zeitung, Fernsehen oder gar Radio zu unterscheiden. Doch was für eine Begriffslosigkeit im Wort! Medien sind Medien, fungieren also als eine Art Kitt zwischen Menschen genau nur dann und insoweit, als sie sozial wirken. Der Begriff des Mediums (wie der des Netzes) beinhaltet und setzt voraus, dass die so benannte Einrichtung eine soziale Funktion erfüllt. Wenn solches dann noch einmal ausdrücklich ‚sozial‘ genannt wird, ahnen wir, was es mit deren Sozialität auf sich hat: nahezu nichts. Jede*r legt ihren/seinen Text dort ab. Wunderbar. Aber niemand liest ihn je, denn eine Neugier gibt es nicht dafür. Noch einmal wunderbar. Ein Punkt auf der Liste der Publikationen, eine Zahl, mehr nicht. Der Leerlauf, sozial.

Sind die Menschen, die doch heute nahezu alle mindestens ein Smartphone in ihrer Hosen- oder Handtasche mit sich herumtragen (wenn sie dieses nicht gleich die ganze Zeit in der Hand vor sich hin halten), sind diese Menschen noch neugierig darauf, wie der riesig leistungsfähige Computer funktioniert, den sie für geringes Geld besitzen? Er funktioniert doch, schau her! Ich weiß, was ich mit ihm machen kann. Und wenn einmal nicht, dann wende ich mich an meinen Freund Hans, der weiß das. Wie er funktioniert? Das ist mir doch egal. Er tut’s, das reicht.

Wir wissen eben nicht, dass er eine Maschine für die Berechenbarkeit ist und dass deswegen alles, was er kann, im Horizont der Berechenbarkeit liegt und nirgends sonst. Es gibt ein Schlupfloch, Peter Wegner hat darauf hingewiesen. Wenn wir das Smartphone zusammen mit dem Menschen, dem es gehört, als ein System auffassen, dann funktioniert dieses umfassendere System durch die Interaktion seiner beiden Komponenten, der Komponente Mensch und der Komponente Smartphone (gleich Computer). Diese beiden zusammen gelangen in Interaktion durch den Menschen über die pure Berechenbarkeit hinaus. Aber bedenken wir wohl: Das ist dann eine Funktion des Gesamtsystems. Das Teilsystem ‚Computer‘ bleibt der Berechenbarkeit und nur ihr verhaftet.

Künstliche Intelligenz

Sie nun aber, die KI – also die ‚Künstliche Intelligenz‘ –, bleibt doch wohl ein Faszinosum, ein Faszinosum ohne Grenze oder Zweifel, das lebendig gewordene Objekt unserer Neugier und also Lust und Be-geister-ung! Ist es nicht so?

Es heißt heute doch in der Industrie, „da bauen wir eine Künstliche Intelligenz rein“. Jede*r hat solche Sprüche in den letzten wenigen Jahren gehört.

Da bauen wir etwas rein. Aha. Wer so spricht, der hat irgendein technisches System vor sich, eine Einrichtung, ein Gerät. Das soll verbessert werden, weiterentwickelt. Eine Software muss her, was immer ihre besondere Funktion sein mag. Sie muss selbstverständlich für den Zweck taugen, den wir verfolgen. Als Software ist ihre Aufgabe stets und immer, eine bestimmte geistige Tätigkeit zu maschinisieren, also in maschineller Form auszuführen. Das System, mit dem wir es zu tun haben, soll also eine oder auch mehrere der Funktionen eingebaut bekommen, die bisher noch ‚draußen‘ waren, beim Menschen. Nun kommen sie hinein, in das System. Das ist alles.

Weil aber die Tätigkeit, die bisher draußen lag, bei uns, uns nun aus dem maschinellen System entgegenstrahlt, ist sie Fähigkeit des Systems geworden. Und weil sie vorher eine gewisse geistige Tätigkeit von uns verlangte, sind wir geneigt, dem verbesserten System nun ebendiese Geistigkeit zuzuschreiben. Es ist intelligent geworden.

Das nun gerade ist es nicht. Was nämlich tatsächlich geschehen ist, ist dies: Unsere bisher selbst vollbrachte Tätigkeit ist erstens zur Software geworden. Das heißt gnadenlos, sie ist berechenbar gemacht und auf die Maschine gebracht worden. Sie tut, was sie tut, und sonst nichts. Sie hat ‚Intelligenz‘ hinter sich gelassen, abgeworfen. Solches geschieht immer schon, wenn auf eine Maschine eine Tätigkeit übertragen wird, die bis dahin von Menschen ausgeführt wurde. Es ist nichts Unübliches oder Außergewöhnliches. Es ist der Gang der Kultur. Jetzt erst aber, wo diese Tätigkeiten weitgehend geistiger Art sind, werden der Maschine dann, der Software, geistige Fähigkeiten zugeschrieben. Warum nur? Es ist völlig unsinnig und überflüssig.

Das Problem der KI sind die intelligenten Menschen, die sie entwickeln. Ihre natürliche Intelligenz wächst in dem Prozess, in dem diese Menschen eine Software entwickeln, die bisher menschliche Tätigkeit maschinisiert.

Radikales Verhalten wäre es, anschließend die übertragene intelligente Tätigkeit allein nur noch von geeigneter Software ausführen zu lassen. Die bestimmte menschliche Tätigkeit wäre dann dem Menschen abgenommen und Gegenstand einer Maschine geworden. Die Maschine wäre dadurch nicht, der Mensch aber sehr wohl intelligenter geworden. Denn die Maschine hat nur eine weitere berechenbare Funktion bekommen. Der Mensch, der es getan hat, hat jedoch etwas gelernt – so möchte ich hoffen –, das er noch nicht kannte. So löst sich das Rätsel der KI in Nebel auf.

Oder: So verschwinden die Nebel, die interessierte Kreise nicht müde werden, um die Künstliche Intelligenz herumwabern zu lassen.

Letztlich könnten wir uns auch leise zurückziehen und bei uns denken: Lass die nur ihr ziemlich ungeschickt gewähltes Wort von der KI weiter als einen Mythos gegen den gesunden Menschenverstand schleudern, mehr als die Freude darüber, so etwas zu tun, können sie daraus kaum gewinnen. Dem einfältigen Menschen muss man eine Spielwiese lassen.

zum Weiterlesen

Wolfgang Coy et al. (Hrsg.): Sichtweisen der Informatik. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1992

Werner DePauli-Schimanovich: Kurt Gödel und die Mathematische Logik. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner 2005

Hubert L. Dreyfus: Die Grenzen künstlicher Intelligenz. Was Computer nicht können. Königstein i.Ts. 1985 (am. Original 1972)

Hans Dieter Hellige (Hrsg.): Geschichten der Informatik. Visionen, Paradigmen, Leitmotive. Berlin, Heidelberg: Springer 2004

Andrew Hodges: Alan Turing, Enigma. Berlin: Kammerer & Unverzagt 1989 (engl. Original 1983)

Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften. 3 Bände. Herausgegeben und übersetzt von Christian J. W. Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt a.M. 2000

Alex Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant. Frankfurt a.M.: Athenäum 1988

Dieser Beitragstext ist zuerst erschienen in Disruption – Jahresbericht der Stiftung Niedersachsen 2019. Danke an Frieder Nake.
über Frieder Nake

Frieder Nake auf Wikipedia (deutsch)

Frieder Nake auf Wikipedia (englisch)

The Art of Being Precise Frieder Nake im Gespräch (ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, 2021).
Artificial Intelligence & Artificial Art or: Humans & Computers: Vortrag von Frieder Nake (Merz Akademie, 2016).
Bildnachweise

Titelbild Artificial Intelligence Word Cloud: © Madhav-Malhotra-003, CC0, via Wikimedia Commons

Charles Sanders Peirce (1839 – 1914): © Napoleon Sarony, Public domain, via Wikimedia Commons

Spinnerei 1885: © Sammlung Dreiländermuseum Lörrach
 
ENIAC Mainframe Computer: © unbekannter U.S. Army-Fotograf, Public domain, via Wikimedia Commons
 
Kurt Gödel (1906 – 1978): © Kurt Gödel, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons
 
Alan Turing (1912 – 1954): Public domain, via Wikimedia Commons

Frieder Nake: © Werner Biedermann

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