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Vorschau mit den sechs Bildern – Fünf Beispiele: vier Tragödien und eine Tragikomödie

Bildbetrachtung

Versuch mit einem altmodischen Genre

von Ruth Fühner

Bilder wie Haken, an denen der Blick sich verfängt. Fotos, über die man nicht einfach wegblättert bei der morgendlichen Zeitungslektüre, die nicht zu übersehen sind im öffentlichen Raum – sie stehen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.

Dabei beschäftigt mich weniger die Frage, was ,das Leiden anderer betrachtenʻ bedeutet, die Spannbreite also zwischen der Lust des Voyeurs und dem Aufbegehren tätiger Fernstenliebe als Wirkung von Fotografie.

Es interessiert mich auch nicht so sehr, wie die Bilder entstanden sind, unter welchen Bedingungen und Restriktionen, oder die Absicht, die sich mit ihnen verbindet. Viel mehr kommt es mir auf die Mittel an, mit denen diese Bilder meine Aufmerksamkeit fesseln.

Dass jedes Foto einen bewusst gewählten Ausschnitt aus der Wirklichkeit zeigt, ist trivial. Was zeichnet ,meineʻ Fotos demgegenüber aus? Allesamt erfassen sie (bis auf eine signifikante Ausnahme) die Realität in einem Augen-Blick und aus einem Blick-Winkel, der in unserem immer neu durchfluteten kollektiven Bildgedächtnis Erinnerungen aufruft an oft scheinbar ganz fern liegende Ikonographien, zu Topoi geronnene Bild-Traditionen. An ihnen erweist sich, wie sehr der Blick des Fotografen und unser eigener geprägt sind von Ablagerungen der Kunstgeschichte. Jedes dieser Bilder könnte, wäre es gemalt, in einem Museum hängen: Sie folgen Gesetzen der Komposition, die unsere Vorstellungen davon geprägt haben, was wir als ’schön‘ empfinden – und zwar jenseits ihres Inhalts und darüber hinaus. Durch die fotografische Inszenierung des Wirklichen erzeugen sie eine Doppeldeutigkeit, die über das ’nackte‘ Dokumentarische hinausweist.

Und: sie haben alle direkt oder indirekt mit Gewalt zu tun.

Fünf Beispiele: vier Tragödien und eine Tragikomödie

Bildbetrachtung 1: Passion

Die Bildunterschrift am Fundort: A woman convicted of murder shouts as she hears the verdict before being taken to be executed in the southern chinese city Guangzhou, April 11, 2001. China is striking out against crime in response to rapidly mounting crime rates. – Wegen Mordes zum Tode verurteilt: Eine Chinesin aus Guangzhou auf dem Weg zu ihrer Exekution. Frankfurter Rundschau 10.6.2002, China Photo/Reuters

Fotografien zum Tode Verurteilter, die zur Hinrichtung abgeführt werden, sind in China keine Seltenheit. Inszeniert für eine Öffentlichkeit, der die harte Hand des Staates – warnend und triumphierend zugleich – vor Augen geführt werden soll, folgen die Abführungen einer immer ähnlichen Choreographie, die meist auf Entindividualisierung setzt. Aber an diesem Bild ist vieles anders.

Es ist zuerst das schmerzverzerrte Gesicht der Verurteilten, das gefangen nimmt: die Augen geschlossen, der Kopf mit dem gepflegten Pagenschnitt leicht nach oben gewandt, der Mund im Schmerz halb geöffnet. Als ob sie eine höhere Macht anriefe oder anklagte.

Auffällig auch der Gesichtsausdruck der beiden Polizisten, die sie festhalten. Sie schauen nicht starr und unbewegt geradeaus, wie ihre Kollegin links hinter ihnen. Stattdessen sind ihre Augen auf die Gefangene gerichtet, in einer Mischung aus Mitgefühl und Pflichterfüllung. Fast fürsorglich schaut der links, mit einem halben Lächeln der andere, dessen eine Hand beinahe zärtlich auf der Schulter der Verurteilten liegt, während die andere zupackend und fest ihren Arm fasst.

Ein seltsames Signal geht aus von der Kleidung der Todeskandidatin. Das gestreifte T-Shirt, die Kostümjacke mit dem weichen weiten Kragen – sie suggerieren, dass hier eine gepflegte Frau aus der Mittelschicht urplötzlich aus ihrem Alltag gerissen und zum Gegenstand eines wortwörtlich „kurzen Prozesses“ wurde.

Um ihren Hals liegt, schmerzhaft nach hinten gezogen, ein Strick – ein Hinweis auf die Art der bevorstehenden Exekution. Als wollte sich die Justiz zu ihrer Legitimation auf jahrhundertealte Tradition berufen, wirkt das Seil altertümlich, als wäre es aus Hanf gefertigt.

Die Komposition des Fotos erinnert an eine Bühnenszene. Dazu tragen vor allem die Blicke der beiden Polizisten bei. Sie kreuzen sich in der Mitte des Bildes – als wären sie Statisten, die angehalten wurden, die Konzentration des Publikums auf das menschliche Drama in ihrer Mitte zu lenken. Als wäre die Abgeführte eine Opernfigur, eine chinesische Tosca, die, flankiert von den Häschern eines Tyrannen, ihre letzte Arie singt.

Noch mehr allerdings drängt sich ein anderer Bildtopos auf: die christliche Passion. Legion sind die Darstellungen, in denen der gefangene Jesus, flankiert von Schergen der römischen Besatzungsmacht, zur Hinrichtung geführt wird. Auch dort steht meist eine Dreierkonstellation im Zentrum, mitunter angereichert durch Umstehende, die den Schauprozess bejohlen oder ihm ungerührt beiwohnen.

Das Bild der Frau aus Guangzhou wirkt subjektiv in einem doppelten Sinn. Mit seiner Passions-Inszenierung unterläuft der Fotograf die offizielle chinesische Bildregie, die die anonyme Massenchoreographie bevorzugt.

Und indem er ein einzelnes Subjekt in den Vordergrund rückt, ermöglicht es das emotionale Mitschwingen mit einem leidenden Individuum. Das Identifikationsangebot hebt das Foto heraus aus der alltäglichen Bilderflut und lenkt den Blick auf das Unsichtbare: eine übermächtige Justiz, die ihre Verachtung der Menschenwürde selbstbewusst zur Schau stellt. Und die damit in einem historischen Horizont steht, der über die Gegenwart hinausweist auf die Geschichte der Grausamkeiten, die Menschen einander antun.

Bildbetrachtung 2: Nicht vergessen

Die Bildunterschrift am Fundort: SZ Photo/Alfred Strobel. Wie weiter miteinander leben? Angehörige der Opfer am Ort der Penzberger Mordnacht 1950. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.3.2021

Eine Gruppe von Menschen füllt die untere Bildhälfte aus, die obere zeigt ihr Umfeld – eine ganz gewöhnliche Straße mit Bäumen im Winter. Aber dass und wie diese Menschen da stehen, ist alles andere als gewöhnlich. Schon dass sie stehen, in der Kälte, und nicht etwa gehen, irgendwelchen Geschäften nach oder ins Warme.

Sie stehen da wie lebende Skulpturen. In einem fast perfekten Kreis, einer ein bisschen verschoben im Mittelpunkt, ohne dass ihn das besonders hervorhöbe. Der Kreis verbindet sie miteinander – und doch stehen sie – bis auf die Frau mit dem Kind – alle einzeln da, mit viel Abstand zueinander. Sie scheinen zu schweigen. Der Blick durch die Kamera auf sie geht von oben herab. Jemand hat sie so als Denkmal auf Zeit arrangiert, für dieses Bild. Wie für eine stumme Anklage.

Am Rand einer Ortschaft allerdings, nicht in ihrem Zentrum. Als ob diese Randständigkeit auch sie selbst bezeichnete. Andere Bewohner der Ortschaft sind nicht zu sehen.

Die da stehen, sind die Angehörigen von Menschen, die ganz kurz vor Kriegsende im bayrischen Penzberg von Nazis ermordet wurden, weil sie ihre Stadt den anrückenden Amerikanern friedlich übergeben wollten. Den Mördern wurde 1948 der Prozess gemacht. Das Foto entstand zwei Jahre danach. Es wirkt, trotz der Isolation der einzelnen Figuren, nicht wie ein privates Totengedenken. Es wirkt wie eine trotzige Mahnung, nicht zu vergessen. Ab 1950 wurden die Strafen für die Täter nach und nach herabgesetzt.

Bildbetrachtung 3: Leeres Zentrum

Die Bildunterschrift am Fundort: Staatliche Aufseher und Soldaten sind allgegenwärtig bei der zweiten Runde der Präsidentenwahl in Ägypten. Hier weisen sie Wähler am Samstag in Gizeh, der drittgrößten Stadt des Landes, in den Wahlvorgang ein. Die Armee unterstützt den säkularen Kandidaten Schafik. Süddeutsche Zeitung 18.6.2012, Daniel Berehulak/Getty

Es ist eine unbestimmt komische Wirkung, die dieses Bild auslöst. Tatsächlich stellt sich beim flüchtigen Blick auf die qualitativ leider schlechte Abbildung hier im Text sogar die Frage, ob es sich wirklich um eine Fotografie und nicht um einen gezeichneten Comic handelt (wobei Comics, klar, nicht notwendig ‚komisch‘ sind). An einen Comic jedenfalls erinnert auch die Dynamik der einzelnen Szenen, die hier wie in einem Bühnentableau zusammenwirken.

Den gefühlten Mittelpunkt bildet der Tisch mit dem türkisfarbenen Tuch. Daran sitzt – neben der einzigen Frau im Raum – ein Mann in Anzug und Krawatte, der mit der Rechten den wie ein Bittsteller vor ihm gebeugten Djellabaträger in ein Nirgendwo außerhalb des Bildes zu verweisen scheint. Zugleich schickt der Soldat an der Tür rechts einen Eintretenden quer durch den Raum an den Tisch links im Bild, wo offenbar die Personalien anhand von Wählerlisten überprüft werden.

Aus dem Rahmen der relativ entspannten Routine, die das Foto vermittelt, fällt zunächst die körperliche Anspannung des Sitzenden ganz rechts im Bild. Er wirkt – trotz des Teeglases in der Hand – wie auf dem Sprung und erzeugt damit untergründige Spannung. Was ihn so brennend interessiert, wissen wir nicht. Aber sein Blick lenkt den unseren nach links – und dort, hinter dem Tisch mit den Wählerlisten, kommen wir der mehrfachen, untergründigen Komik dieser Fotografie auf den Grund.

Sie geht zum einen aus von der größten Figur im Raum. Mit – frontal zu uns – erhobenen Armen und Händen steht der Mann da wie die unübersehbare Verkörperung der Ratlosigkeit. Seine Haltung wirkt wie ein fatalistischer Kommentar auf das Geschehen im Raum, dabei bleibt er eigenartig isoliert – keine der vielen Personen um ihn herum nimmt ihn wahr.

Aber die Betrachterin rätselt. Was könnte der Gegenstand des Kommentars sein? Vielleicht der Mann, der, mit dem Rücken zu uns, vor einem hölzernen Klappgestell steht, wohl einer Art Wahlkabine. Die aber zieht durch ihre Aufstellung das Wahlgeheimnis in schönster Offensichtlichkeit ins Lächerliche: hier kann jeder dem Wählenden problemlos über die Schulter schauen.

Das geometrische Zentrum des Fotos aber ist leer. Beherrscht wird es von einem Whiteboard ohne Aufschrift. So, als ob es bei all dem Aufwand, der hier betrieben wird, in Wirklichkeit um nichts ginge – um eine theatralische Inszenierung vor den Augen der Weltöffentlichkeit, die wirkungslos verpuffen wird.

Noch deutlicher als die Präsenz des Militärs dekonstruiert die Bildkomposition mit ihrer untergründigen erzählerischen Komik die offizielle Version, es handele sich hier um freie und geheime Wahlen, die eine wirkliche politische Veränderung bewirken könnten.

Bildbetrachtung 4: Erbarmen

Die Bildunterschrift am Fundort: Bilder sind wirkungsvoll, aber Mehrheiten erzeugen sie so wenig wie Tweet-Lawinen und Forderungskataloge: Schlepper setzten Flüchtlinge und Migranten im Oktober 2015 am Strand von Lesbos ab. Foto: Imago Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.10. 2020

„Schiffbruch mit Zuschauer“ – diese Konstellation umreißt eine der ältesten Fragestellungen der Philosophiegeschichte. Was bedeutet es, vom sicheren Land aus Menschen in Seenot zu beobachten? Sind sie selbst schuld, weil sie aus Hybris von der Natur und den Göttern gesetzte Grenzen verletzten? Fordern sie den Zuschauer heraus, rettend tätig zu werden? Auch als malerisches Motiv hat der Schiffbruch eine lange Geschichte. Dieses Foto von der griechischen Insel Lesbos allerdings verzichtet auf die Dramatik bewegter See und verzweifelt in einer Nussschale Dahintreibender. Statt dessen zeigt es einen Moment geglückter Rettung.

In seiner dynamischen Komposition wie in der satten blau-rot dominierten Farbigkeit ruft es Erinnerungen wach an Darstellungen der christlichen Heilsgeschichte. Über der Mitte lichtet sich der düstere Himmel, der Griff der Retter reicht über den Abgrund wie die Hand Gottvaters nach Adam, bei der Bewegtheit der Körper lässt sich ebenfalls an Michelangelo denken, an sein Jüngstes Gericht in der Sixtina zum Beispiel.

Darüber hinaus hält das Foto Motive fest, die direkt der Ikonographie des Erbarmens entsprungen scheinen: die junge Frau auf dem Boot, die die Hand einer andren kraftlos in sich Zusammengesunkenen hält. Der kleine Junge in der Mitte, der über den Abgrund gereicht wird, das Kleinkind, das bergend davongetragen wird.

Heilsgeschichtlich grundierte Zuversicht und solidarisches Zupacken – das ist der starke emotionale Gehalt dieses Bildes, das den Schrecken durch Schönheit bannt. Vielleicht deshalb stellt sich die Bildunterschrift dazu in scharfen Kontrast. Sie nämlich spricht von den Rettern als „Schleppern“ und damit von lichtscheuem Gesindel, das nur um des Profits willen handelt und dem das Schicksal derer, die sich ihm anvertraut haben, egal ist.

Die Kluft zwischen dem, was die Unterschrift sagt, und dem, was das Bild erzählt, ist ähnlich tief wie die zwischen Boot und Ufer. Es ist ein Abgrund, nur überwindbar mithilfe zweier lächerlich dünner Seile. Hier abzustürzen, mag nicht tödlich sein, hoch gefährlich ist es immer noch. Und es signalisiert: keine Willkommenskultur erwartet die Ankommenden. Ihre Retter werden umgedeutet zu Agenten einer Unheilsgeschichte – zu Kriminellen, denen es das Handwerk zu legen gilt. Als wäre nicht eigentlich kriminell eine Flüchtlingspolitik, die auf Abwehr und Abschottung setzt.

Bildbetrachtung 5: Das Eigentliche

Linda Evangelista, Michaela Bercu und Kirsten Owen 1988 beim Shooting in Pont-à-Mousson, Quelle: Peter Lindbergh. Werbeplakat für „Peter Lindbergh. Untold Stories“, Ausstellung Hessisches Landesmuseum Darmstadt 2020/21

Klösterlich streng wirkt die schwarze Kleidung der drei Frauen auf den ersten Blick.

Das Haar verborgen, die Form ihrer Körper ebenfalls. Der zweite Blick nimmt wahr, dass der steife Stoff glänzt und auf eine Art geformt und in Falten gelegt ist, die weniger asketisch wirkt als opulent. Vergleichbare ernst dreinblickende Dreiergruppen kennen wir von den Parzen, den römischen Schicksalsgöttinnen, oder den Nornen der Edda, auch sie von weither begabt mit dem Blick in die Zukunft.

Als ich das Bild zum ersten Mal auf einer Litfasssäule sah, wusste ich nicht, wen es zeigt – wohl aber, dass mich etwas daran irritierte. Zum einen sicher das Oszillieren zwischen schwarz-weiß stilisierter Künstlichkeit und dokumentarischem Anschein. Und dann der Blick der Frau in der Mitte.

Ihre Begleiterinnen scheinen in ihrem Bildkosmos gefangen, sie hingegen schaut herausfordernd nach außen, so wie seit der Renaissance auf Gemälden manchmal eine Person, nicht selten der Künstler selbst, aus dem Bild herausblickt. Während aber die Gemälde das zeigen, worauf sich die Aufmerksamkeit der anderen richtet, die eigentliche ‚Story‘, wird uns hier die Teilhabe verweigert. Das ‚Eigentliche‘ findet anderswo statt, der Blick der mittleren Figur verweist uns auf unseren Platz: bitte draußen bleiben.

Die Bildunterschrift am Fundort: Pier Paolo Cito/P Bei der Trauerfeier im italienischen San Luca für Opfer des Duisburger Mafiamordes. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 13.12.2020

Kurz darauf fiel mir das Foto der trauernden Frauen von San Luca in die Hände. Komponiert ist es nicht weniger perfekt – ein leicht aus der Mitte verschobenes, sich nach oben verjüngendes Dreieck in dramatischem, geradezu barockem Hell-Dunkel. Auch hier ist das ‚Eigentliche‘, was sie zusammengeführt hat, nicht zu sehen. Trotzdem lässt das Foto emotionale Teilhabe zu. Gar nicht so sehr durch die Personen, die den stärksten Gefühlsausdruck zeigen. Bestimmend ist auch hier wieder die eine, die uns an (und also aus dem Bild heraus) schaut. Verschlossen, aber nicht verhärtet. Als ob sie überzeugt wäre, dass letztlich jede mit ihrem Schicksal alleine ist.

Natürlich spielt beim Vergleich der beiden Fotos und ihrer Wirkung das Wissen über den jeweiligen Entstehungszusammenhang eine zentrale Rolle. Auf dem ‚Nornen‘-Foto sind es drei Weltklasse-Models, die Peter Lindbergh (wohl in einer stillgelegten französischen Eisenhütte) zum Gruppenbild arrangiert hat. Wenn man das weiß, löst sich zum einen die Ambiguität zwischen Kunstcharakter und Dokument auf. Zum andern wird klar: ein ‚Ereignis‘, auf das sich die Aufmerksamkeit der drei Frauen richten könnte, hat es nicht gegeben. Sie tun lediglich, was ihr Job ist: sie posieren für die Kamera.

Das mag bei Personen, die Modell standen für vergleichbare Gruppen in der Kunstgeschichte – etwa die Anbetung der Könige, eine Fürstenhochzeit – ähnlich gewesen sein: sie waren nur Staffage, Statisten. Aber sie waren zugleich Bestandteile eines bedeutungsstiftenden Zusammenhangs, auf den das Gesamtbild verwies. Diesen Zusammenhang stiftet bei den Frauen von San Luca immerhin die Bildunterschrift, die bei Lindbergh lediglich benennt, was unmittelbar zu sehen ist. Gleichwohl wird ein Zusammenhang von der Bildkomposition behauptet – und auch vom Titel der Ausstellung, für die das Foto wirbt: Untold stories. Wenn wir aber die Gruppe als Bildausschnitt nähmen und den Blick der Kamera auf ihr Umfeld weiteten, käme wohl wenig anderes in Sicht als das Beleuchtungs-Equipment, mit dem der Fotograf gearbeitet hat.

So erkläre ich mir meine Irritation doppelt: mit der Zurückweisung durch die Figur in der Mitte – und mit der Tatsache, dass die story, die mir vorgegaukelt wird, nicht nur untold ist, sondern in Wirklichkeit nicht existiert. Hier wird Neugier nicht nur angestachelt und unbefriedigt gelassen – sie wird auch ins Nichts gelenkt. Diese Geschichte ist unerzählt, weil es nichts zu erzählen gibt.

Ruth Fühner

Arbeitete lange Jahre als Kritikerin, Moderatorin und Autorin für den Hessischen Rundfunk und andere Medien. Heute engagiert sie sich für das Frankfurter Naxos.Kino und sein Dokumentarfilm-Programm. Sie singt im Akademischen Arbeiterliederchor und arbeitet daneben an anderen Projekten rund um Brecht und Eisler. Sie hängt an Zeitungen auf Papier und sieht sich nicht ungern als altmodische Person.
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