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Auf den Schultern von Riesen

Neue Ideen und einige Image-Korrekturen zum 100. Geburtstag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

von Manfred Etten

Binnen kurzer Zeit trafen das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) zwei Großereignisse: Es bekam im Juli 2021 mit Stephan Lessenich einen neuen Direktor – und im März 2022 eine neue Website. Beides geschah im Vorfeld eines nicht minder großen Events: Im Februar 2023 feierte das IfS den 100. Jahrestag seiner Gründung. Neuer Chef, neues Erscheinungsbild: Das altehrwürdige Institut konnte also pünktlich zum Jubiläum gleich zweifach runderneuert an die Öffentlichkeit treten.

Frankfurt am Main, Senckenberganlage 26. Das Institut für Sozialforschung saß bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten in einem Haus in der damaligen Viktoria-Allee, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Nach der Rückkehr des Instituts aus der Emigration wurde das heutige Gebäude errichtet, die förmliche Wiedereröffnung erfolgte am 14. November 1951. Die Zentrale der sogenannten Frankfurter Schule wurde von den Studierenden „Café Marx“ genannt. (Foto: IfS-Website)

100 Jahre – so ein Geburtstag setzt die Betroffenen natürlich unter einen gewissen Druck. Die üblichen Fragen müssen beantwortet werden: Ist das Institut auf der Höhe der Zeit oder ‚in die Jahre gekommen‘? Haben Kritische Theorie und Frankfurter Schule noch den Stellenwert im philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Diskurs, den sie einst hatten? Kann das, was Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und die anderen Pionier-Denker des Instituts gedacht und geschaffen haben, den Herausforderungen der Gegenwart standhalten? Oder müssen die Klassiker korrigiert, revidiert, ‚modernisiert‘ werden? Brauchen auch sie, wie die Website des Instituts, einen Relaunch? Wenn ja, wie sähe das Update aus? Oder sind die Errungenschaften der Ahnen inzwischen nur noch ein Fall fürs Archiv – epochemachend in ihrer Zeit, aber für die Nachgeborenen bloß noch von historischem Interesse?

Frankfurter Schule mit Oberlehrer Max Horkheimer, der seine Schüler unter die Fittiche nimmt: Karikatur des Jazzmusikers und Cartoonisten Volker Kriegel (1943 – 2003), erschienen in der ZEIT vom 31.10.1980.

(© Eva Kriegel)

Sicherlich kein leichter Job für einen neuen Direktor, der auf den Schultern von Riesen steht und nun allerhand unter einen Hut bringen muss: einerseits das Bekenntnis zu einer in ihrem kulturellen Gewicht schier erdrückenden Hinterlassenschaft, die noch dazu immer schon umstritten war und bis heute kontrovers diskutiert wird, andererseits und gleichzeitig eine klare Positionierung im Heute, so wie man sie von einer Denkfabrik, die sich als akademische Avantgarde versteht, zurecht erwarten darf.

Vom „Grand Hotel Abgrund“ in die „Petite Auberge Aufbruch“

In einem Beitrag für die Zeitschrift Soziologie hat Stephan Lessenich im April 2022 beschrieben, wie er sich ein ‚IfS 2.0‘ vorstellt – und sozusagen einen Image-Umzug verkündet: vom „Grand Hotel Abgrund“ in die „Petite Auberge Aufbruch“. Er spielt damit auf ein berühmt-berüchtigtes Diktum des marxistischen Literaturwissenschaftlers Georg Lukács (1885 – 1971) an. Lukács hatte Theodor W. Adorno bezichtigt, er habe es sich wie vor ihm schon Arthur Schopenhauer in einem „Grand Hotel Abgrund“ bequem gemacht, ein „schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten und Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.“ (Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied: Luchterhand, 1962, S. 219) Adorno und die anderen Koryphäen des IfS also als Musterfälle „einer den politischen Zeitläuften enthobenen beziehungsweise sich enthebenden bürgerlich-liberalen Intellektuellenklasse“ (Lessenich). Neben diesem Stereotyp macht Lessenich noch ein zweites „Zerrbild“ dingfest: „Die Rede vom akademischen ‚Elfenbeinturm‘“ und die Vorstellung, das IfS sei von lauter „verkopften, sozialweltfremden Theorienerds bevölkert“.

„die Gesellschaftskritik der Leute ins Haus holen“

Nach Lessenichs Wunsch soll die „Petite Auberge Aufbruch“ nun solchen „Phantasmen“, mögen sie noch so „unkaputtbar“ sein, keinerlei Futter mehr geben. Zum neuen Programm gehört der Vorsatz, „den Kanon der Bezugstheorien um queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven zu erweitern. Wirkungspraktisch muss es heißen, auch mit Milieus und Sphären, Personen und Positionen ins Gespräch zu kommen, die nicht ohne Weiteres in Reichweite einer akademischen Praxis sind.“ Es gehe darum, „nicht im intellektuellen Verlautbarungsmodus eliten- oder volksbildnerisch tätig zu werden, nicht nur coram publico – vor den Leuten – zu agieren, sondern mit außerakademischen Publika in einen Dialog zu treten, der wechselseitig aufklärerisch wirkt“ – „mit der eigenen Gesellschaftskritik in der Öffentlichkeit hausieren zu gehen und sich die Gesellschaftskritik der Leute ins Haus zu holen“ – um eine „systematischen Arbeit an der Destabilisierung der Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen akademischer und nicht-akademischer Welt“. Das Institut soll sich „in Zukunft als offenes Haus verstehen und als solches auch wahrgenommen werden: offen für Neues, für Impulse von außen, für die Fragen der anderen. Offen für Studierende und für die Stadtgesellschaft, für Kulturproduzent:innen und Bewegungsakteure, für Gesellschaftskritik ‚von unten‘ und aus allen Winkeln der Welt. Den Bau in der Senckenberganlage ganz physisch und material als einen Möglichkeits- und Ermöglichungsraum zu begreifen, ihn auf eine Weise zu bespielen, die der politisch-sozialen Bedeutung kritischer Wissenschaft in Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche gerecht zu werden versucht“.

Am Rande des gesellschaftlichen Abgrunds, in Sichtweite – aber nicht im Schatten – der im gleichnamigen Grand Hotel absteigenden Intellektuellenmilieus, öffnet nun die Petite Auberge Aufbruch ihre Pforten: anregende Atmosphäre, hervorragendes Personal, anspruchsvolles Konzept. Ein alteingesessenes Haus unter neuer Führung und mit verändertem Auftritt, das jederzeit zu einem Aufenthalt einlädt.


Stephan Lessenich

Direktor des Instituts für Sozialforschung

„radikales Denken in Alternativen“

Nun kann man eine 100jährige Institution mitsamt ihren Traditions-Schätzen sicher nicht so umstandslos relaunchen wie eine Webseite. Was wird nach dem aktuellen Update von den vorherigen IfS-Versionen, vom Denken und Ethos der großen Vorgänger geblieben sein? Lessenich lässt da keine Missverständnisse aufkommen: Unangetastet bleibt auf jeden Fall der alte Markenkern, nämlich ein erkenntnisleitendes Interesse, „das die herrschende gesellschaftliche Verfasstheit grundlegend in Frage stellt“, ein radikales „Denken in Alternativen. Ein derartiges Denken zu praktizieren und zu befördern, wird das neue – alte – Ziel des Instituts für Sozialforschung sein.“

„Besuchen Sie uns – sei es vor Ort oder auf der vollkommen neu gestalteten Webseite des Instituts“, ruft uns der Direktor zu. Für einen physischen Besuch gibt es Gelegenheit am Samstag, dem 22. Juni 2024. Dann steigt nämlich auf dem Campus Bockenheim das Sommer- und Straßenfest des IfS, bei dem der runde Geburtstag noch einmal ausführlich gefeiert werden soll.

Die spätindustriellen Gesellschaften im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems sind als demokratisch sich legitimierende ökonomische Beutegemeinschaften verfasst. Ihre immense wirtschaftliche Produktivität, die keine Grenze ihrer zwanghaften Steigerungsdynamik kennt und kennen will, beruht in fataler Notwendigkeit auf einer sozialen und ökologischen Destruktivität, die seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten, zuallererst der Rest der Welt und der Weltbevölkerung zu spüren bekommt. Die Pseudo-Rationalität der in den ‚fortgeschrittenen‘ kapitalistischen Gesellschaften etablierten Produktions- und Konsum-, Arbeits- und Lebensweisen bringt systematisch jene Verwerfungen hervor, die die in falschem Universalismus beschworene ‚eine Welt‘ in Atem halten: Finanz- und Migrations-, Klima- und Pandemiekrisen. Eine strukturelle Konfiguration, bei der die nächste Krise immer schon vor der Türe steht – und die erwartungssicher, so wie es schon immer war, eben jene das größte Leid davontragen lässt, die zu ihrer Entstehung am wenigsten beigetragen haben.


Stephan Lessenich

Direktor des Instituts für Sozialforschung

mehr zum Thema

Petite Auberge Aufbruch: Beitrag von Stephan Lessenich in der Zeitschrift Soziologie Nr. 2/2022 (PDF).

100 Jahre Institut für Sozialforschung: „Widersprüche ins Zentrum stellen“. taz, 03.02.2023.

Ein Gespräch mit Institutsleiter Stephan Lessenich zum Jubiläum. SWR 2, 04.01.2023.

Interview mit Stephan Lessenich über das hundertjährige Jubiläum und das Selbstverständnis des IfS. Goethe-Universität Frankfurt, 25.10.2022.

Lehnstuhl-Philosophen, lebensuntüchtige Melancholiker und sexistische Nilpferdkönige – gut kaschierte Vorurteile in Stuart Jeffries launiger Geschichte der Kritischen Theorie: Wolfgang Bock über das Buch Grand Hotel Abgrund – Die Frankfurter Schule und ihre Zeit in Glanz & Elend , 29.11.2019.

Im Angstschweiß Adornos. Arno Widmann erinnert sich an die Besetzung des Instituts für Sozialforschung durch protestierende Studierende im Januar 1969. Frankfurter Rundschau, 20.01.2023.


Manfred Etten

Autor & Leser, verfertigt Schriftstücke & Bilder. Wenn er das nicht tut, wandert er am liebsten durch die offene Landschaft. Motto: „Ain’t talkin‘, just walkin'“ (Bob Dylan).
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