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Streaming-Tipp

Kopf in den Wolken

Eine Doku über Syd Barrett in der ARTE-Mediathek

von Manfred Etten

Zu den Musik-Dateien auf meinem USB-Player, mit denen ich mir beim Autofahren die Zeit vertreibe, zählt seit einigen Wochen das Pink Floyd-Album The Piper at the Gates of Dawn aus dem Jahr 1967. Ich lade mir gern ein paar Musiken aus der damaligen Epoche runter, um Altbekanntes, das ich früher mochte, noch einmal ‚selbstkritisch aufzuarbeiten‘, oder auch um Verpasstes in Ruhe nachzuholen. Vieles war damals ja nicht für jeden allzeit verfügbar. Alles hing davon ab, was wann im Radio lief oder wer welche LPs besaß, deren Erwerb sich nicht jeder leisten konnte – heute kaum noch vorstellbar, heute zum Glück ganz anders. Wir leben mit und in einem Retro-Archiv, das Historische ist nichts Versunkenes mehr, das mühsam ausgebuddelt werden müsste, es ist Teil unserer Alltags-Routinen geworden.

In dieser Hinsicht unterscheidet nur noch wenig das Historische vom Aktuellen. Was aus analogen Vorzeiten stammt und inzwischen digitally remastered wurde, genauso wie dasjenige, was immer schon nur in digitaler Form vorhanden war: Beides kommt heute aus einer einzigen großen Universal-Bibliothek, einer gigantischen Playlist, die immerfort und in bester Tonqualität on air ist. Sie befindet sich über unseren Köpfen in der Cloud. So denke ich es mir jedenfalls. Für mich kommt das alles immer noch von oben, so wie früher die Radiosignale, buchstäblich vom Himmel.

The Piper at the Gates of Dawn, 1967

The Piper at the Gates of Dawn: Ich hatte mir die Platte vor allem deswegen für meine Forschungen ausgesucht, weil sie als diejenige gilt, mit der Syd Barrett sein Coming Out als Jung-Genie des britischen Avantgarde-Pop jener Jahre hatte. Also ein sogenannter Meilenstein, an dem nicht vorbeikann, wer in Sachen Pop einigermaßen auskunftsfähig sein will. Syd Barrett war Gitarrist, Sänger, Frontman, kreativer Kopf und spiritus rector der Band von 1965 bis 1968, bevor er durch David Gilmour ersetzt wurde. The Piper… ist das erste Studio-Album von Pink Floyd und das einzige, auf dem Syd durchgängig zu hören ist. Es trägt seine Handschrift, acht der 11 Songs stammen nur von ihm. Sein Schicksal war ein trauriges: Wegen seiner LSD-Exzesse und/oder aufgrund einer psychischen Erkrankung (hier gehen die Meinungen auseinander) musste er die Band verlassen bzw. wurde hinausgedrängt (auch hier gibt es verschiedene Sichtweisen). Er zog sich aus dem Musikgeschäft zurück, verschwand in der Anonymität und starb 2006 mit 60 Jahren.

Mythen & Legenden

Also gleich in zweifacher Hinsicht Stoff für Mythen und Legenden: Ein viel zu schnell verglühter Meteorit am Pop-Himmel, „out of the blue and into the black“, wie danach Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison. Und damit verbunden das bekannte Stereotyp namens ‚Genie und Wahnsinn‘: Die wahren Kreativen müssen demnach immer mehr oder weniger durchgeknallt sein, auch wenn sie dafür am Ende einen hohen Preis zu zahlen haben.

Die Pink Floyd-Hinterbliebenen sind von diesen Narrativen heftig heimgesucht worden und haben sie später musikalisch verarbeitet. In Dark Side of the Moon (besonders: Brain Damage) und dann leitmotivisch in Wish You Were Here spukt das Gespenst von Syd Barrett als „grazy diamond“, als ein verlorenes Juwel, von dem man sich wünscht, es möge das gegenwärtige Schaffen der Band weiterhin mit Inspirationen bestrahlen: „Shine on“! Andere mutmaßen, die Band habe sich mit diesem Tribute das drückende Über-Ich endgültig vom Hals geschafft und symbolisch ein zweites Mal aus der Gruppe herausgekickt, um befreit aufspielen zu können für die kommenden massenkompatiblen Mega-Unternehmungen: Der Weg war frei von der Psychedelic-Combo Pink Floyd zur gleichnamigen Multimedia-Company. „Out oft he way, it’s a busy day“!

Pink Floyd 1967: Roger Waters, Richard Wright, Nick Mason, Syd Barrett

whimsical

So ungefähr war mein gefährliches Halbwissen, als ich, den Kopf in den besagten Wolken, über die Landstraßen kurvte mit The Piper… im Ohr. Schnell merkte ich, dass ich die LP schon seit 50 Jahren ganz gut kannte. Sie war bei mir nur unvollständig abgespeichert. Ich hatte, soweit ich mich erinnerte, seinerzeit nur Astronomy Domine auf eine meiner Mixtape-Kassetten überspielt. Die anderen Tracks waren damals anscheinend nicht in meinem altersbedingt beschränkten Fokus. Wahrscheinlich klangen sie mir zu sehr nach Sixties, noch zu wenig ‚pinkfloydisch‘: Relikte aus den Kindertagen der Band, als sie noch nicht sie selber war. Und mit dieser Lewis-Carroll-Welt aus Gnomen, Vogelscheuchen und Einhörnern, wie sie Syd Barrett in seinen Lyrics heraufbeschwört, hatte ich damals wenig am Hut.

Auch jetzt, beim ersten Wiederhören, hielt sich meine Zuwendung in Grenzen. Das Ganze wirkte auf mich unausgegoren, ziellos verspielt und angestrengt verschroben, whimsical, wie die Engländer sagen, unerwachsen, irgendwie pubertär. Vielleicht, so kam mir in den Sinn, war das auch der Grund, weshalb ich mich als Heranwachsender instinktiv davon ferngehalten hatte – eine Art Fremdschämen? Die Syd-Barrett-Nummern weckten mein Interesse, aber keine Begeisterung: ein pophistorisches Studienobjekt, mehr nicht. Den Download hätte ich mir genauso gut auch sparen können, dachte ich, zumal in den Wolken ja noch so viele andere tolle Sachen, die der Befassung Wert wären, auf meinen Abruf warteten.

hinter den Spiegeln

Dann aber begann ich, geduldiger hinzuhören – und geriet immer mehr ins Staunen. Interstellar Overdrive: kein space rock, wie der Titel suggeriert, sofern man damit fluffige Sphärenklänge verbindet, sondern eine neunminütige E-Gitarren-Performance, minimalistisch, monoman, aggressiv, laut und schmutzig, mit einem harten, fast brutalen Riff als Ausgangsmaterial, das sich mit Richard Wrights kreischender Orgel ein Duell liefert, bei dem sich die Kontrahenten wechselseitig in ihre Einzelteile zerlegen und dauernd neu und anders wieder zusammensetzten, als ginge es jeden Moment ums Ganze…

Überhaupt nicht fluffig auch der mysteriöse Siamkater in Lucifer Sam: Was zunächst anmutet wie der Soundtrack zu einem lustigen Pink Panther-Cartoon, erweist sich als durchaus creepy und der Kater als eine Art „Bucklicht Männlein“, ein Geschöpf aus dem Land hinter den Spiegeln. Ein Song mit einer Tag- und einer Nachtseite, glasklar und gleichzeitig obskur, so als führte der Kapellmeister E.T.A. Hoffmann im Hintergrund die Regie. „That cat’s something I can’t explain.“ Auch ich konnte mir diese Musik immer weniger erklären, je länger ich lauschte.

Illustration zu E.T.A Hoffmann: Nussknacker & Mäusekönig, 1880er Jahre

Meine Irritation wuchs noch bei Chapter 24: der Text (laut liner notes) inspiriert vom chinesischen I Ging – oh Gott, dachte ich, bitte nicht diese angelesene fernöstliche Spiritualität, verschwurbelte Guru-Poesie, wie sie damals schwer in Mode war. Was ich stattdessen hörte: ein betörendes Singgedicht, kreisförmig angelegt, reimlos, doch in strenge Form gefasst, schwerelos, aber vorgetragen mit einem heiligen Ernst, ausgebreitet auf einem arabesken Klangteppich aus asiatischen Gongs und Crashbecken und keltischen Melodiefragmenten. Und hinten raus ein Harmoniegesang, wie er davor und danach nicht von dieser Band zu hören war…

Geist & Maschine

Am Ende dann Bike: „I’ve got a bike, you can ride it if you like. / It’s got a basket, a bell that rings / And things to make it look good. / I’d give it to you if I could, but I borrowed it.” Ersetzt man „bike“ durch „heart“, wird daraus eine recht doppelbödige Liebeserklärung. Und eine wunderliche Liaison von Mechanik und Gefühl, Geist und Maschine. Die Verse sind Couplets, die Musik klingt nach Kirmes, nach Dampforgel, Lachkabinett und Kinderkarussell. Die letzte Strophe: „I know a room of musical tunes / Some rhyme, some ching, most of them are clockwork / Let’s go into the other room and make them work!” Und nach ein paar Sekunden Stille tut sich eine Tür auf, und wir sind plötzlich mittendrin, nicht mehr draußen vor der Kirmesbude, sondern im Innern des Uhrwerks, das clockwork-Klangwerk ist in voller Aktion, dazu Knochengeklapper wie von Geisterbahn-Gespenstern, und am Ende schnattert im loop eine aggressive Ente… Wir sind mit Kopf, Bauch, Haut und Haar im Abbey Road-Aufnahmestudio gelandet, im Laboratorium der unerhörten Sound-Basteleien, gewissermaßen im Innen-Ohr der Langspielplatte, in dem der Song entstanden ist und hier, gerade jetzt, sein eigenes Entstehen zum Thema macht. Welcome to the Machine.

Sound-Basteleien im „other room“: Jacques de Vaucanson (1709 – 1782) schuf den mechanischen Flötenspieler und, im Bild vorne rechts, sein Meisterwerk, die künstliche Ente.

Ich konnte mich nicht erinnern, Vergleichbares aus der damaligen Zeit anderswo schon mal gehört zu haben: diese Kombination aus Mystik und Humor, Coolness und Gefühlstiefe, Energie und Struktur, Poesie und Reflektion, schöpferischem Chaos und hohem Formbewusstsein – und das nicht abwechselnd und nebeneinander, sondern im selben souveränen Vollzug.

Kairos

Hier wusste jemand vielleicht noch nicht so genau, wohin die Reise gehen wird, welche der unendlich vielen Möglichkeiten, die uns das Leben, die Kunst und das Universum bieten, er ergreifen würde. Aber er wusste ganz genau, was er hier und jetzt, im entscheidenden Augenblick, machen wollte und zu sagen hatte. Es gibt einen altehrwürdigen Begriff dafür: Kairos. „Beim Bogenschießen bezeichnet Kairos den Moment, in dem ein Pfeil mit ausreichender Kraft abgeschossen werden kann, um ein Ziel zu durchdringen“, so lese ich auf Wikipedia.

Have You Got It Yet?

Umso neugieriger war ich, als ich mitten in diesen Hör-Erfahrungen auf den abendfüllenden Dokumentarfilm Have You Got It Yet? – The Story of Syd Barrett and Pink Floyd (Großbritannien 2023) aufmerksam wurde, der derzeit in der ARTE-Mediathek zu sehen ist.

Regisseur Ronny Bogawa (*1963) hatte sich schon 2011 in Taken by Storm: The Art of Storm Thorgerson and Hipgnosis mit dem Thema beschäftigt. Storm Thorgerson (1944 – 2013) war ein Schulfreund von Syd Barrett und hatte mit seiner Grafik-Agentur Hipgnosis seit The Piper at the Gates of Dawn die ikonischen Plattencover für Pink Floyd entworfen. Bogawa konnte für sein Barrett-Porträt auf dem damals gesammelten Material aufbauen, wobei Thorgerson für ihn offenbar eine Art Türöffner war, der ihm Zugang zu vielen weiteren Zeitzeugen aus der damaligen Szene ermöglicht hat. Thorgerson ist deshalb auch als posthumer Co-Regisseur von Have You Got It Yet? aufgeführt.

Tatsächlich ist der Film – als Summe einer mehr als zehnjährigen Recherche – wunderbar reichhaltig und bietet eine Riesenfülle an Dokumenten: private und öffentliche Fotos, seltene Film- und Musikausschnitte, persönliche Erinnerungen, Bekenntnisse, Statements, Anekdoten. Bogawa und Thorgerson haben nicht nur die überlebenden Pink Floyd-Mitglieder vor die Kamera geholt, sondern auch Verwandte, Nachbarn, Freunde und Freundinnen aus Schulzeit und Studium, Kumpels aus den Künstler-Cliquen der 1960er Jahre, die früheren Band-Manager Andrew King und Peter Jenner, Experten aus Psychiatrie und Philosophie, den Dramatiker Tom Stoppard, den legendären Pop-Fotografen Mick Rock, Pete Townsend von The Who, Graham Coxon von Blur und viele mehr.

Ohne Syd hätte es uns nie gegeben. Wir wären eine dieser unzähligen Bands gewesen, die Blues und „Louie Louie“ einspielen, ein paar miese Songs schreiben und dann wieder von der Bildfläche verschwinden. Jeder sucht sich einen richtigen Job, und das war’s.

Roger Waters

in „Have You Got It Yet?“

Auch formal ist der Film ausgesprochen High End, großformatiges Kino, ein „technicolor portrait“, wie das SPIN-Magazine es nennt, ein opulentes Bilder-Kaleidoskop mit eigenen ästhetischen Ambitionen. Zwischen den sprechenden Köpfen der Interview-Passagen und den oft ruppigen Archiv-Materialien sind surreal-allegorische Traum- und Alptraum-Sequenzen eingeschaltet, die Bogawa in einem upgedateten Hipgnosis-Stil gedreht hat und mit denen er sozusagen in Barretts Kopf hineingucken will, um herauszufinden, was sich dort mutmaßlich ereignet hat. Und die Tonspur wird, je länger man sich drauf einlässt, zu einer Klangwolke aus Stimmen und Musik, die einen beinah so umfassend umhüllt wie es seinerzeit beim berühmten Azimuth Co-ordinator der Fall war, den Pink Floyd in ihren frühen Shows benutzten, um einen 360-Grad-Raumklang zu erzeugen. Das Ganze ist sehr suggestiv. Der Film hat mehr als bloße Information im Sinn, er will selber eine Erfahrung sein, womöglich eine ‚bewusstseinserweiternde‘.

Beim Anschauen habe ich vieles wiedergefunden, was mir beim Anhören von Barretts Musik durch den Kopf gegangen war. Und einiges ist mir klarer fassbar geworden. Zum Beispiel liefert mir Roger Waters den passenden Begriff für Interstellar Overdrive: „psychedelic Heavy Metal“. Ich habe auch besser verstanden, wie tief Syd Barrett in der englischen Literaturtradition des 19. Jahrhunderts verwurzelt war: Der Filmemacher Peter Whitehead nennt ihn einen englischen Romantiker, einen „lake poet“, einen „Naturdichter“.

Lewis Carroll 1863
Syd Barrett 1969

Whitehead formuliert auch drastisch, wie der Umgang der anderen Pink Floyd-Musiker mit ihrem einstigen Mastermind zu deuten wäre: „Er war der perfekte Gott. Ein Gott muss getötet werden und gegessen – und dann wiedergeboren werden.“ Soviel zum Thema Wish You Were (not) Here.

Obscured by Clouds

Syd Barrett 1975 in den Abbey Road Studios

Besonders bewegt war ich vom Schlussteil des Films, der von einem langen Abschied erzählt. 1975 taucht Syd überraschend im Studio auf, wo die Band gerade Shine On You Grazy Diamond aufnimmt, „ein etwas beleibter Bursche mit abrasierten Haaren und im Regenmantel“. Die anderen erkennen ihn erst nicht, halten ihn für den Hausmeister oder einen irren Fan. Gefragt, wie er die aktuellen Aufnahmen finde, antwortet er angeblich nur: „sounds a bit old“. Danach bricht der Kontakt für immer ab.

„Ich bereue es, dass ich nie zu ihm nach Cambridge gegangen bin und an seine Tür geklopft habe,“ sagt David Gilmour. „Ich war nie dort, keiner von uns.“ Es hätte auch nichts gebracht. Daheim bei seiner Familie widmete sich Roger Keith Barrett (das war sein wirklicher Name) der Landschaftsmalerei, ging in den Pub zum Dart-Spielen, fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend, und wenn jemand bei ihm klingelte, ging er zur Tür und sagte: „Syd doesn’t live here anymore“.

Peripetie

Ich kam aber auch ins Grübeln. Hat der Film nun, wie es in den Ankündigungen so schön heißt, „mit der Legendenbildung aufgeräumt“ und uns ein wahres, echtes, vollständiges Bild vermittelt – eines ohne blinde Flecken? Er ist klassisch gebaut, folgt der symmetrischen Dramaturgie, wie wir sie aus den herkömmlichen Künstler-Biopics kennen: Genau in der Mitte, bei Minute 45, ist die Peripetie platziert, im Moment des größten Erfolgs (Plattenvertrag mit EMI, die beiden Singles Arnold Layne und See Emily Play sind in den Charts, großer TV-Auftritt bei Top of the Pops…) endet die Erzählung vom erstaunlichen Aufstieg und beginnt die vom unvermeidlichen Abstieg, als könnte es anders nicht sein.

Leerstellen

Der Wende- und Angelpunkt ist von einem Satz markiert: „Die ständigen Auftritte und der plötzliche Ruhm forderten ihren Tribut von Barretts Psyche.“ Aber wieso sollte der Ruhm einem den Geist verwirren, er ist doch gut fürs Ego? Und warum musste nur Syd diesen „Tribut“ entrichten und nicht auch die anderen Pink Floyds? Was waren die ‚wahren‘ Gründe für Syds Ausrasten? War es eine Art von Reizüberflutung, die den zartbesaiteten Jungen aus der Provinz überfordert hat, war er schlichtweg nicht resilient genug? Oder hat er sich bewusst und planvoll dem Kommerzdruck entzogen, weil dieser seinem künstlerischen Selbstverständnis widersprach – also eine Verweigerung aufgrund einer eigentlich ganz klugen und realistischen Erkenntnis? Oder ist er abgesprungen, sobald aus dem Spiel Arbeit und aus dem Spaß Ernst wurde – also Verweigerung aus kindlichem Trotz? Und war seine LSD-Psychose die Ursache oder die Folge von alldem? Der Film umkreist diese Fragen nahezu obsessiv, umschreibt in immer neuen Anläufen lauter Kreise ohne Zentrum. Er ist um eine Leerstelle herum organisiert, und diese Leerstelle scheint mir sein eigentliches Thema zu sein.

Phantomschmerz

Das Trauma ist eine Leerstelle, eine Lücke im Bewusstsein, die durch Anstrengungen des Gedächtnisses nur bedingt geschlossen werden kann. So definiert es die Medizin. Wenn dem so ist, dann ist Have You Got It Yet? ein Trauma-Film – einer über ein erlittenes Trauma und gleichzeitig der Versuch, dasselbe zu heilen. Ist der Versuch geglückt? Natürlich nicht. Wie sollte er auch? Die Anstrengungen des Gedächtnisses haben einen seltsamen Effekt: Sie schließen Lücken, aber im selben Zug produzieren sie neue. Ist die Leerstelle scheinbar gefüllt, poppt sie anderswo wieder auf. Der Film ist ein einziger großer Phantomschmerz.

Wenn ich jetzt mit The Piper at the Gates of Dawn im Ohr unter dem Frühlingswolkenhimmel über Land fahre, muss ich an die Episode denken, die Syds Schwester im Film erzählt: Eines Tages, als er schon keine Musik mehr machte, ist ihr Bruder zu Fuß den ganzen 80 km langen Weg von London nach Cambridge gegangen. Dann war er endlich zu Hause. Die Sache geht mir nicht aus dem Kopf.


Manfred Etten

Autor & Leser, verfertigt Schriftstücke & Bilder. Wenn er das nicht tut, wandert er am liebsten durch die offene Landschaft. Motto: „Ain’t talkin‘, just walkin'“ (Bob Dylan).

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Ein wunderschöner Animationsfilm von Steve Bobinski zu Syd Barretts Song Bike

Der Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Friedrich Kittler (1943 – 2011) war zeitlebens ein großer Syd Barrett-Fan. Er hat mehrfach über ihn und Pink Floyd geschrieben, u.a. in seinem berühmten Aufsatz Der Gott der Ohren .

Bildnachweise

Titelbanner Syd Barrett: © Abramorama/ Aubrey Powell

LP-Cover The Piper at the Gates of Dawn: © fair use, via Wikipedia

Pink Floyd 1967: © arte / Syd Barrett Music Ltd.

Illustration zu E.T.A Hoffmann Nussknacker & Mäusekönig: © Staatsbibliothek Berlin

Sound-Basteleien im „other room“: © Staatsbibliothek Berlin

Lewis Carroll 1863: © Oscar Gustave Rejlander, Public domain, via Wikimedia Commons

Syd Barrett 1969: © Mick Rock, fair use, via Wikipedia

Syd Barrett 1975 in den Abbey Road Studios: © Nick Masons Autobiografie Inside Out (2005), via https://en.wikipedia.org/wiki/Syd_Barrett

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