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Werner Herzog 2019 in São Paulo

Werner Herzog: Die Zukunft der Wahrheit

von Bernhard von Dadelsen

Werner Herzog macht nicht nur großartige Filme, er macht sich auch Gedanken: Seit langem ist er als Autor tätig und schreibt originell, streitbar, tiefgründig und immer sehr persönlich über das, was ihn antreibt, inspiriert, fasziniert: über Kunst, Poesie, Spiritualität, Wissenschaft und Philosophie. In seinem neuesten Buch geht es ihm um Die Zukunft der Wahrheit.

Werner Herzog

Die Zukunft der Wahrheit

München: Carl Hanser Verlag, 2024
112 Seiten
€ 22,00

Leseproben

Wir kennen ja Werner Herzogs Diktum zum Verhältnis von Fakt und Wahrheit: Nicht das realistische Eins-zu-Eins-Abgebildete sei wahr, sondern allein die Überhöhung, die Stilisierung, die Erfindung und die Poesie! Das ist ein provozierender, aber konstruktiver Gedanke. Er öffnet nicht nur die Tür zum eigenen ausufernden Werk, sondern auch zu anregenden Spekulationen über die Kunst, das Erzählen, das Filmemachen, also im Herzog‘schen Sinne: die Existenz schlechthin. Mit welcher Selbstverständlichkeit Herzog das in seinem Essay darlegt, ist mitunter höchst unterhaltsam und einleuchtend. In elf Kapiteln, sozusagen spannenden Kurzvorlesungen, blättert er seine Theorie der Wahrheit auf, referiert Weltgeschichte durch ihre schrillsten Protagonisten, beleuchtet fasziniert Internet und KI („Fake News?“) und schließt sein Buch mit einem lakonischen Satz: „Die Wahrheit hat keine Zukunft, aber Wahrheit hat auch keine Vergangenheit.“ Wie man ihr dennoch näherkommen könnte – darum geht es auf 110 Seiten in überzeugend erzählten Fallbeispielen.

Und natürlich spricht da Herzog als Film- und Opernregisseur! Die Persische Legende, die Herzog allem voranstellt, ist ein schönes Kick-Off für das Buch und überhaupt jeden Geschichtenerzähler:

Gott hatte einen großen Spiegel, und als Gott in den Spiegel sah, sah er die Wahrheit. Da ließ Gott den Spiegel fallen, und der Spiegel zersprang in tausend Scherben. Die Menschen rauften sich darum, einen der Scherben zu erhaschen. Sie blickten alle in ihren Scherben, sahen sich und glaubten, die Wahrheit zu erkennen.

Persische Legende

nach Werner Herzog

Gut erfunden, diese Legende, möchte man ihm zurufen… Doch das wäre ganz in seinem Sinne. Denn die Wahrheit ist für ihn immer individuell, Herzog sagt es ganz klar: „Aus der Debatte der Philosophie rund um den Begriff der Wahrheit will und muss ich mich heraushalten“ – und referiert vergebliche, erfolgreiche, gescheiterte Versuche, der Wahrheit im Leben, nicht in der Theorie, näher zu kommen.

Da wäre die „Wahrheit von Gefühlen“ – in der realen Welt darf man wenig auf sie geben, aber in der Opernwelt, zum Beispiel in Giuseppe Verdis Macht des Schicksals, werde eine undenkbare Story durch die Kraft der Gefühle wahr. Denn Gefühle schaffen Tatsachen: womit wir bei seinen eigenen Filmen wären. Er berichtet von Family Romance, den er 2019 in Japan gedreht hat. Da geht es um eine geschiedene Mutter, die einen Schauspieler mietet, der den abwesenden Vater ersetzen soll – um den Schein, das Gesicht zu wahren. Das geht so lange gut, bis sich die Mutter in den gefakten Vater verliebt und die Tochter ihn tatsächlich als Vater akzeptiert. Was ist nun eigentlich wahr? Herzog: „Alles in diesem Film ist Lüge… aber in all der Lüge sind die Gefühle immer wahrhaftig.“

Die „Bereitschaft zum Selbstbetrug als notwendiger Bestandteil unserer Existenz“ – Herzog liebt dieses Thema und präsentiert es uns in Stories, Aphorismen und Anekdoten. Dazu gehört, dass er rationale Erklärungsversuche für den Selbstbetrug rundweg ablehnt. Die psychologische Analyse ist ihm ein Graus: denn am Ende würde sie dem Menschen jedes Geheimnis nehmen.

Womit Herzog bei seinem Lieblingsthema wäre: dem Empfinden von Wahrheit durch Illusion. Er sieht sich da in guter Tradition, schon für Shakespeare war die Illusion die Mutter der Kunst: „The most truthful poetry is the most feigning – die wahrhaftigste Dichtung ist die, die am meisten vortäuscht.“ Damit öffnet sich der Blick auf die „ekstatische Wahrheit“: eine durch Überhöhung tief empfundene persönliche Wahrheit jenseits aller Fakten. Die Ekstase, das ‚Aus-Sich-Heraustreten‘ kann Herzog ganz klar mit Beispielen aus seinem Werk belegen, in dem die Wirklichkeit stets fragiler ist als die Träume und Illusionen. Klar – hierher gehört der Gnadenstoß, den er dem Cinéma vérité gibt, jener nutzlosen „Wahrheit der Buchhalter“, realitätsverblendet und blutleer.

In einer Zeit des überwältigenden Vormarschs von Fake News, von der Möglichkeit umfassender digitaler Fälschungen, von der von Lügen erfüllten Propaganda in der Politik, von einer Welt, aus der jede Manifestation von Wahrheit verschwunden zu sein scheint, wie können wir da noch die Orientierung behalten?

Werner Herzog

Da fällt der inhaltliche Sprung zur imaginativen Kraft von Internet und Künstlicher Intelligenz leicht. Herzog ist durchaus fasziniert von den illusionistischen Möglichkeiten der Technologie. Sein Rat zum Umgang mit Fake News: Wir müssen lernen, immer das „Gegenteil mitzudenken“. Das heißt: angesichts der Abgründe der digitalen Welt erwachsen zu werden, ohne sie als Feind zu betrachten.

Denn wir sind nun einmal dafür gemacht, nach der Wahrheit zu suchen. In Herzogs Worten: „Die Suche nach der Wahrheit ist es, die uns von den Kühen auf der Weide unterscheidet.“


Bernhard von Dadelsen

Geboren 1955, lebt in Mainz. Früher Reporter und Redakteur bei ZDF aspekte
und Terra X. Autor zahlreicher Filmbeiträge von den Filmfestpielen Berlin, Cannes, Venedig, Locarno.
Zuletzt Redakteur und Autor von Kulturdokumentationen zu historischen Themen.
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Bildnachweis

Werner Herzog 2019 in São Paulo: © Fronteiras do Pensamento / Greg Salibian, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons

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