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Entschiedene Persönlichkeit

Werner Herzogs Autobiografie Jeder für sich und Gott gegen alle

von Bernhard von Dadelsen

Werner Herzogs Erinnerungen heißen wie sein Film über den unglücklichen Kaspar Hauser: Jeder für sich und Gott gegen alle. Er hat sie zu seinem 80. Geburtstag veröffentlicht (München: Hanser, € 28,00): 350 Seiten interessanter Episoden und Bekenntnisse zu über 60 Filmen, 23 Operninszenierungen und Erfahrungen mit einem Dutzend treuer Wegbegleiter.

Ich träume nicht.

Werner Herzog

Zugegeben: Herzogs  unerschütterliches Selbstbewusstsein ist auf jeder Seite dieses erstaunlichen Buches spürbar – wer also damit nicht klarkommt, sollte es gar nicht erst zur Hand nehmen. Wer seine entschiedene Persönlichkeit aber als Teil seiner Kreativität akzeptiert, wird  das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollen. Dabei wird das Einzigartige seiner Kunst schnell klar: Er ist eben der umfassende Urheber seiner Filme, von der Idee zum Buch über den gesamten Produktionsprozess bis zur Botschaft. Er selbst hat jeden Satz, jede Location, jede Emotion gesucht, gespürt und in den Bildern ausgedrückt. So betrachtet er jeden Moment seiner Filme als einzigartig und weiß das in klaren, aber persönlichen Worten zu beschreiben. Diese umfassende Bedeutung des Autors Werner Herzog ist gerade heute so interessant:  Wo moderne Filmproduktion oft genug aus namenloser Serialisierung besteht, Stoffe und Stories nach Marktforschungserkenntnissen produziert werden und wo statt einer alles beherrschenden Vision Diversität und Gendergerechtigkeit die Zusammensetzung ganzer Filmteams bestimmen.

Zelebrieren des Unmöglichen

Schnell wird klar: Herzog, seine Filme und sein Leben sind ein Gesamtwerk. Nichts davon kann man einzeln und unabhängig begreifen, und so nehmen die Erinnerungen an seine populären Filme Aguirre und Fitzcarraldo eben auch nicht mehr Platz ein als die anderen Werke. Aber hier tritt er zurück, charakterisiert die Leistung des Teams, bejubelt die Arbeit des Kameramanns und der Cutterin. Und sein Anteil? Beim Drehen von schwierigen Filmen habe er immer die Martin-Luther-Ausgabe der  Bibel bei sich und finde „Tröstung im Buch Hiob und auch in den Psalmen“ – dazu Livius‘ Bericht über „Hannibals Überquerung der Alpen“ (S. 191). Die große zeitlose Geste, das Zelebrieren des Unmöglichen, das pompöse Scheitern – in gehobener Diktion, aber nie ohne Humor zelebriert Herzog seine großen Themen.

Verschlossenes Kind, zum Jähzorn neigend

Was sind die wichtigen Stationen seiner Jugend? Familie und einige enge Freunde – Herzog bietet genaue, sehr persönliche Skizzen. Die unvorstellbare Armut der vaterlosen Familie in Sachrang im Chiemgau, der ständige Hunger, die nie aufgebende Mutter, die Dorfschule prägen den Jungen: „Ich war ein stilles Kind, eher verschlossen, zum Jähzorn neigend, in gewisser Weise gefährlich für meine Umgebung.“ (S. 37) Die Menschen, die ihm nahe sind, schildert er in liebevollen Episoden: „Meine Heroen sind alle artverwandt.“ Sein (Halb-)Bruder Luki Stipetic, der bis heue sein Produzent ist, „Siegel Hans“, ein eigenwilliger Holzfäller aus dem Dorf, sein Großvater Rudolf, Archäologieprofessor aus Tübingen, dessen Arbeit in ihm die Abenteuerlust weckt. Nach dem Abitur: eine Reihe wilder Trips nach Griechenland, in den Kongo, die USA und Mexiko und ein Scheinstudium der Geschichte verdecken nicht seinen Traum, Filme zu machen: „Mir war bewusst, dass ich – aus fast völliger Unkenntnis des Kinos – auf meine Weise Kino selbst zu erfinden hatte.“ (S. 130)

Alles an Katastrophen, die man sich ausdenken kann, nicht einfach Filmkatastrophen, sondern wirkliche, kam über mich.

Werner Herzog

Sich den Themen aussetzen

Warum machte er das alles? Herzog wird nicht müde zu erklären, was ihn an seinen verschiedensten Stoffen faszinierte, sei es im Spielfilm, in der Oper oder in den Schurkenrollen, die ihn mit seinem bayrischen Englisch in den USA zu einem  Kultstar machten, zuletzt im Lucasfilm The Mandalorian aus dem Star-Wars-Universum.  Seine Mission: sich den  Themen aussetzen, nicht neutral dokumentieren, sondern sie am eigenen Leib erfahren. „Alles an Katastrophen, die man sich ausdenken kann, nicht einfach Filmkatastrophen, sondern wirkliche, kam über mich.“ (S. 196) Manche dieser Katastrophen sind ja von Herzog-Biographen und -Rezensenten bereits endlos kolportiert und ausgeschmückt worden: Wie das peruanische Flugzeug, das ihn und das Team eigentlich nach Cusco bringen sollte, über dem Dschungel abstürzte. Oder wie Hauptdarsteller Jason Robards in Fitzcarraldo auf halber Strecke des Films wegen Krankheit durch Klaus Kinski ersetzt wurde, und der Dreh noch einmal von vorne begann.

Leseproben aus Werner Herzogs Jeder für sich und Gott gegen alle

Ekstatische Wahrheit

Bei der Fülle an Katastrophen, magischen Rettungen und ihrem Einfluss auf seine Filmwelt beginnt man als Leser zu spüren, was Herzog mit der „ekstatischen Wahrheit“ meint: „Die Wahrheit muss mit den Fakten nicht übereinstimmen. Das Telefonbuch von Manhattan wäre sonst das Buch der Bücher“ (S. 284), beschreibt er lapidar die berühmte Herzogsche Filmpoetik, nach der die veränderten Fakten, die erlebte Fälschung, eben die Poesie der Wahrheit näher kommt als jeder nackte Realismus.

Und wem diese grundsätzliche Abrechnung mit dem Cinéma vérité und überhaupt dem schulmäßigen Realismus zu kühn sein sollte, der kann sich an Herzogs Schilderungen all jener anderen Wahnsinnigen des Kinos erfreuen, von denen Kinski nicht der einzige ist. 


Bernhard von Dadelsen

Geboren 1955, lebt in Mainz. Früher Reporter und Redakteur bei ZDF aspekte
und Terra X. Autor zahlreicher Filmbeiträge von den Filmfestpielen Berlin, Cannes, Venedig, Locarno.
Zuletzt Redakteur und Autor von Kulturdokumentationen zu historischen Themen.
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