| |

Begegnungen mit Lotte Reiniger

von Werner Biedermann

Um 1976, als Student an der Folkwang-Hochschule in Essen, hörte ich in einem Filmseminar des Dozenten Hartmut W. Redottée erstmals von der am 2. Juni 1899 geborenen Silhouettenfilm-Regisseurin Lotte Reiniger. Er zeigte uns ihren abendfüllenden Animationsfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed aus dem Jahr 1926 und erläuterte, dass dieser Film mit 65 Minuten Spieldauer der erste abendfüllende Trickfilm der Filmgeschichte sei. Das war lange, bevor zum Beispiel Walt Disney (ab 1928) zunächst kurze Micky-Maus-Zeichentrickfilme drehte, bis er dann 1937 mit Schneewittchen und die sieben Zwerge einen abendfüllenden Film veröffentlichte. Bemerkenswert ist, dass Lotte Reiniger sich als Frau schon so früh – und über Jahrzehnte – im Filmgeschäft etablieren konnte.

Die poetischen Handlungsmotive der Abenteuer des Prinzen Achmed sind in den Motiven der Märchen von Tausend und einer Nacht verortet. Die Bildmotive hingegen sind vom fernöstlichen Schattentheater und der Scherenschnitttechnik der Biedermeierzeit inspiriert. Der Film wurde zwischen1923 bis 1926 unter Mitwirkung von Walter Ruttmann, Bertold Bartosch und ihrem späterem Ehemann Carl Koch hergestellt. Die Musik zu diesem – noch stummen – Film mit Zwischentiteln komponierte Wolfgang Zeller. Die einzelnen, in schwarz/weiß gedrehten Szenen wurden nach Abschluss der Dreharbeiten im Labor in verschiedenen Farben monochrom eingefärbt.

Herr Redottée berichtete, dass Lotte Reiniger in der aufkeimenden NS-Zeit über Paris und Rom nach London emigrierte, obwohl sie und ihr Mann Carl Koch keine Verfolgten waren. Das politische Klima lähmte wohl jede wirklich kreative, unkonventionelle und avantgardistische Entfaltungsmöglichkeit.

Während einer Englandreise im Jahr 1976 blätterte ich ohne Plan und Absicht im Londoner Telefonbuch und fand die Nummer von Lotte Reiniger. Spontan rief ich sie an, und es meldete sich in fließendem Englisch Frau Reiniger. Ich stellte mich kurz als deutscher Design-Student vor, und wir wechselten sogleich in die deutsche Sprache. Ich fragte sie, ob wir uns mal „auf einen Tee“ treffen könnten. Ohne zu zögen, lud sie mich für den Folgetag in das Abbey Arts Center ein, einer Künstlerkolonie in New Barnet im Norden von London. Frau Reinigers Anweisungen folgend, fuhr ich am nächsten Tag mit der Piccadilly-Line U-Bahn bis zur Endstation, dem schon abgeschieden gelegenen Cockfosters. In diesem nördlichen Vorort von London fuhr die U-Bahn schon einige Stationen nicht mehr unterirdisch, sondern mutierte in eine Art S-Bahn, die sich durch Wiesen, Felder und eher ländliche Stadtteile bewegte. Von der Endstation waren es noch ein paar Kilometer bis zum Abbey Arts Center, die ich mit einem Taxi zurücklegte. Die Künstlerkolonie, in der sie wohnte, stellte sich als eine Ansammlung von Ateliers und kleinen Häuschen in einem verwilderten Garten heraus. Hier lebten und wirkten junge und ältere Maler, Musiker, Literaten und eben eine Filmregisseurin, die inzwischen verwitwete Silhouettenfilm-Regisseurin Lotte Reiniger.

Frau Reiniger begrüßte mich freudestrahlend wie einen langjährigen Bekannten, und wir plauderten bei Tee und Gebäck. In ihrem Wohnzimmer war man umgeben von Bilderrahmen mit Scherenschnitten aus ihren unterschiedlichen Filmen. Überall stapelten sich schwarze Fotokartons, ausgeschnittene Silhouetten und Kulissen für ihre Schattentheater, mit denen sie regelmäßig in britischen Grundschulen auftrat.

Dann führte Frau Reiniger mich in ihr Schlafzimmer: Und da stand er, der Tricktisch, an dem in den 20er Jahren Die Abenteuer des Prinzen Achmed und später zahlreiche andere Silhouettenfilme entstanden sind.

Frau Reiniger beschrieb mir die Konstruktion: Es war ein gewöhnlicher Esstisch, aus dem ein Teil der Tischplatte herausgesägt und durch eine Milchglasscheibe ersetzt worden war. Darunter befand sich eine Lichtleiste mit rund einem Dutzend Glühbirnen. Auf diesem Tisch befand sich eine Dachlattenkonstruktion, in deren Mitte – senkrecht mit dem Objektiv nach unten – eine 35mm-Filmkamera aufgehängt war. Von dieser Kamera hing ein Drahtauslöser hinunter, mit der man die Einzelbildschaltung der Kamera bedienen konnte. Auf die Milchglasscheibe wurden nun die filigranen Scherenschnittfiguren gelegt, deren einzelne Körperglieder mit Draht oder Ösen verbunden waren, damit diese beweglich sein konnten. Die einzelnen Glieder waren mit kleinen Bleistückchen aus einem Gardinenbleiband beschwert, damit sie sich bei der Hitzeentwicklung durch die Glühbirnen nicht wölbten. Mit der Kamera ‚fotografierte‘ Frau Reiniger Einzelbild für Einzelbild ab. Zwischen diesen ‚Fotos‘ wurden die Glieder der Silhouetten leicht verändert und erst im späteren Ablauf des Films mit 24 Bildern pro Sekunde (in der Stummfilmzeit noch mit 18 Bildern pro Sekunde) ergab sich der kontinuierliche Ablauf der Bewegungen im Film. So dauerte die Produktion der Abenteuer des Prinzen Achmed von 1923 bis 1926, da rund 250.000 Einzelbilder ‚fotografiert‘ werden mussten. Die Hintergründe des Films, die ornamentalen Kulissen und Möbel wurden aus transparentem Pergamentpapier geschnitten und lagen unter den Silhouetten. Eine räumliche Wirkung wurde durch mehrere Schichten Pergamentpapier übereinander erzeugt, da so unterschiedliche Grauwerte entstanden.

Ich war beeindruckt und ein ehrfürchtiges Gefühl ergriff mich. Da stand ich nun zusammen mit der Schöpferin vor lebendiger Filmgeschichte und dem Tricktisch, mit dem der erste abendfüllende Animationsfilm der Filmgeschichte entstanden war. In den Folgejahrzehnten produzierte Lotte Reiniger zahlreiche weitere Märchenfilme und Adaptionen von Opernlibretti. In meinen Gedanken reifte ein Plan, der allerdings von Frau Reinigers Frage: „Was wollen Sie denn mal werden, junger Mann?“ unterbrochen wurde. Ich, der noch keine konkreten Berufspläne hatte, – überrascht von dieser Frage – faselte etwas von Werbung und Marketing …

Ich verabschiedete mich und fragte, ob ich sie wieder einmal besuchen dürfe. „Kommen Sie immer wieder vorbei, wenn Sie mögen, aber rufen Sie vorher an!“, antwortete Lotte Reiniger. Trotz ihres Alters von fast 80 Jahren war sie noch häufig auf Reisen und eine gefragte Referentin in den USA, vornehmlich aber beim National Filmboard of Canada, wo sie Seminare für Filmstudierende leitete.

Bitte akzeptieren Sie YouTube-Cookies, um dieses Video abzuspielen. Dadurch werden Sie zu Inhalten von YouTube, eines externen Anbieters, weitergeleitet. Wenn Sie diese Mitteilung akzeptieren, wird Ihre Auswahl gespeichert, und die Seite wird aufgerufen.

Die Datenschutzbestimmungen von YouTube:

YouTube privacy policy

Im Harry-Potter-Universum: ein Märchen im Reiniger Stil

Eine Reiniger-Hommage?
In Harry Potter und die Heiligtümer des Todes – Teil 1 (GB/USA 2010) wird das Märchen der drei Brüder in einer Animations-Sequenz erzählt, die an die Scherenschnitt-Filme Lotte Reinigers erinnert.

Zurück in Deutschland, suchte ich verschiedene Museen auf und trug den jeweiligen Leitungen die Idee vor, zum bevorstehenden 80. Geburtstag von Lotte Reiniger eine Ausstellung mit ihren Silhouetten, Filmvorlagen, Drehbüchern und dem Tricktisch sowie parallel dazu eine Filmretrospektive mit ihren Filmen durchzuführen. Bei Enno Patalas, dem Leiter des Münchner Filmmuseums, und Dr. Wolfgang Till vom Münchner Puppentheatermuseum fand ich offene Ohren für das Projekt. So wurde vom 2. Juni bis zum 17. August 1979 die Ausstellung Lotte Reiniger – Silhouettenfilm und Schattentheater in München präsentiert. Im Rahmen der Ausstellung sollte ihr das Große Bundesverdienstkreuz überreicht werden. Dies scheiterte jedoch an organisatorischen Schwierigkeiten, und so wurde es ihr zu einem späteren Zeitpunkt vom deutschen Botschafter in London verliehen.

In dem zur Ausstellung herausgegebenen gleichnamigen Katalog erschienen – erstmals in deutscher Sprache – eine umfassende Bio-Filmografie, einige Fachaufsätze zu ihrem Werk und ich durfte ein auf Tonband aufgenommenes und transkribiertes Gespräch mit Lotte Reiniger beisteuern. Nach meinem Erstbesuch im Abbey Arts Center hatte ich sie dort noch einige Male besucht, und wir führten ein zweistündiges Gespräch über ihr Leben und Werk, welches ich mit dem Tonbandgerät aufzeichnete.

So habe ich erfahren, dass sie als 16jähriges Mädchen anlässlich eines Vortrags des Theater- und Filmschauspielers, Filmregisseurs und Produzenten Paul Wegener im Jahr 1915 erstmals Kontakt zur Filmwelt bekam. Dieser erwähnte sie in seinem Vortrag Trickfilme und Filmtricks, und die junge Lotte versuchte alles, um Paul Wegener kennenzulernen. Sie schrieb sich an der Schauspielschule von Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin ein und lernte dort Paul Wegener näher kennen. Während des Unterrichts schnitt sie immer wieder Silhouetten von anwesenden Schauspielschülern und lenkte so Wegeners Aufmerksamkeit auf ihre Arbeiten. Der erkannte ihr Talent und ließ sie 1918 die Titelvignetten zu seinem Spielfilm Der Rattenfänger von Hameln gestalten. Ihr erster Schritt ins Filmgeschäft war getan.

1919 machte Wegener sie mit Dr. Hans Cürles vom Institut für Kulturforschung bekannt, der eine Gruppe von Filmenthusiasten um sich versammelt hatte. Dort konnte sie 1919 ihren ersten Kurzfilm in eigener Regie mit dem Titel Das Ornament des verliebten Herzens unter Mitarbeit ihres späteren Ehemanns Carl Koch und Berthold Bartosch realisieren.

Film auf Film folgte, sie gehörte schnell zur Avantgarde des deutschen Stummfilms, und ihr ungewöhnlicher Silhouetten-Filmstil wurde schnell über die deutschen Grenzen hinaus bekannt. 1926 lernte sie, anlässlich der Pariser Premiere ihres Films Die Abenteuer des Prinzen Achmed, Jean Renoir kennen und gestaltete eine Schattentheatersequenz für seinen Spielfilm La Marseillaise (1938). Zu diesem Zeitpunkt war sie schon auf dem Weg in die Emigration.

In den 1950er und 60er Jahren produzierte sie weitere Silhouettenfilme für das britische und amerikanische Fernsehen, war aber in Deutschland fast vergessen. Diese Fernseh-Kurzfilme wurden in Farbe gedreht. Lotte Reiniger verwendete für die farbigen Hintergründe buntes Transparentpapier. Es gab auch einige Varianten, in denen auf dem Tricktisch mit farbigem Tonpapier gearbeitet und die Szenerie von oben beleuchtet wurde.


(Ausstellungsplakat © Münchner Stadtmuseum)

Die Münchner Ausstellung und spätere Ausstellungen im Tatkreis Kunst der Ruhr in Essen und im Filmmuseum Düsseldorf holten Lotte Reiniger aus der Vergessenheit nach Deutschland zurück.

Ihr legendärer Tricktisch, an dem so viele wundervolle Filme entstanden sind, steht heute in der ständigen Ausstellung des Filmmuseums Düsseldorf. An diesem produzierte sie 1980/81 – im Rahmen der dortigen Ausstellung Licht, Träume und Schattenbilder – ihren letzten zweiminütigen Silhouettenfilm Düsselchen und die vier Jahreszeiten.

Für die Reiniger-Ausstellung in Essen 1980 entwarf Werner Biedermann unter Verwendung eines Lotte-Reiniger-Scherenschnitts das Plakat.

Bitte akzeptieren Sie YouTube-Cookies, um dieses Video abzuspielen. Dadurch werden Sie zu Inhalten von YouTube, eines externen Anbieters, weitergeleitet. Wenn Sie diese Mitteilung akzeptieren, wird Ihre Auswahl gespeichert, und die Seite wird aufgerufen.

Die Datenschutzbestimmungen von YouTube:

YouTube privacy policy

Ein Google-Doodle für Lotte Reiniger
Zum 117. Geburtstag Lotte Reinigers am 2. Juni 2016 ehrte Google die Künstlerin und Filmemacherin auf der Startseite mit einem sogenannten Doodle, ein Scherenschnitt-Video, das an Reinigers Schaffen erinnert.


Lotte Reiniger verstarb am 19. Juni 1981 in Tübingen, wo sie ihre letzten Lebensmonate in einem Altenheim verbrachte.

Aus Anlass ihres 125. Geburtstags, am 2. Juni 2024, würdigt die Deutsche Post nunmehr Lotte Reiniger mit einer Sonderbriefmarke.



Werner Biedermann

Dipl.-Designer, Autor von Filmfachpublikationen, Regie bei vier abendfüllenden und zahlreichen Kurzfilmen, 20 Jahre Leitung des Kommunalen Kinos in Essen, zwei Amtsperioden im Vorstand des Filmbüro NW e.V.
weitere Beiträge