Web-Porträt
Raus aus der Einbahnstraße
Interaktive Theaterkritik mit nachtkritik.de
von Ruth Fühner
Am Anfang war das Unbehagen. Unbehagen an der Macht von drei oder vier Großkritikern (Männern, selbstverständlich), die Theaterkarrieren machen oder vernichten konnten. An Redaktionen, die der Theaterkritik immer weniger Platz einräumten. An einer Textgattung, die festzementiert schien, während ihr Gegenstand, das Theater, seine Grenzen immer mehr erweiterte.
Als Theaterjournalist (und ehemaliger Dramaturg) hatte Nikolaus Merck seine eigenen Erfahrungen mit dem Betrieb gemacht. Doch statt über das Schrumpfen der Print-Nischen zu klagen, erkannte er die Chancen, die das interaktive Web 2.0 bot. Zusammen mit den KollegInnen Petra Kohse, Esther Slevogt und Dirk Pilz sowie mit dem Künstler Konrad von Homeyer gründete er im Jahr 2007 die erste unabhängige überregionale Theaterplattform im Netz.
Die Idee dahinter: Raus aus der Einbahnstraße Kritik – auf in den Gegenverkehr. Ein Forum sein für streitbaren Austausch auf Augenhöhe. Die Kritikerin nicht als einsame Richterin, sondern als Impulsgeberin fürs lebendige Gespräch über Theater – der Leser als kommentierender Mit-Streiter.
Unser Ziel ist es, 1. das deutschsprachige Theater in seiner Breite und Vielfalt sichtbar zu machen; 2. das Gespräch über das Theater anzukurbeln, weil es eine umfassende Kunst ist, die, wenn sie gelingt, aber auch, wo sie misslingt, der Zeit einen Ausdruck verleiht; 3. dabei mitzuhelfen, das Theater als Institution und als Kunstform im deutschsprachigen Raum (in Deutschland, Österreich und der Schweiz) zu erhalten und in breit angelegten Debatten weiterzuentwickeln.
Heute sichtet eine zehnköpfige Redaktion die Theaterspielpläne in der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich und wählt vielversprechende Inszenierungen aus – bewusst auch in der sogenannten Provinz und abseits der großen Namen. Die KorrespondentInnen, sämtlich gestandene Profis, schreiben ihre Eindrücke von der Premiere noch in derselben Nacht nieder – ihre Berichte erscheinen direkt am Morgen danach und werden im Lauf der folgenden Tage ergänzt durch das Echo in lokalen und überregionalen Medien, soweit vorhanden.
Ein Herzstück von nachtkritik.de ist von Anfang an die Kommentarfunktion: Platz für Gegenkritik (und gar nicht so selten auch Zustimmung) von Seiten der Leserinnen und Leser. Dabei geht es mitunter mit harten Bandagen zu, nicht nur wenn sich Schauspieler, DramaturgInnen oder RegisseurInnen über Kritik ärgern und in den Kommentaren (die grundsätzlich anonym bleiben) zur Wehr setzen.
Nicht zuletzt deshalb stieß nachtkritik.de zunächst auf Skepsis bei den KollegInnen von den etablierten Printmedien. „Die Seite hat sich zu einem Ort des wilden Kunstkampfes entwickelt“, hieß es in Der Spiegel. Der Kritiker Christopher Schmidt sprach im Theater Heute-Jahrbuch 2007 von einem „skandalösen Zeugnis fortschreitender Entprofessionalisierung“.
Die Skeptiker verstummten schnell; Qualität und Bedeutung des einzigen online-Theaterfeuilletons im deutschsprachigen Raum waren bald unumstritten. Schon zwei Jahre nach der Gründung wurde nachtkritik.de geadelt durch eine Nominierung für den Grimme-Online-Award.
Dabei hat sich über die Jahre hinweg das Kerngeschäft immer mehr erweitert und das Angebot vervielfacht. Ein umfangreiches Archiv ist entstanden, in dem man nicht nur nach Orten, Stücken, Regisseurinnen und Schauspielern forschen kann. Es werden auch aktuelle ästhetische und kulturpolitische Debatten angeregt oder weitergetrieben und das Theatergeschehen außerhalb des deutschsprachigen Raums gespiegelt. Es gibt Buchkritiken, einen Theaterpodcast (in Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur), die App nachtkritik kompakt und einen wöchentlichen Newsletter. Über Festivals wie in Berlin, Mülheim, Osnabrück, Heidelberg wird in gesonderten Portalen berichtet, auf der jährlichen Konferenz Theater und Netz werden die Veränderungen von Öffentlichkeit und Kulturtechniken durch das Internet diskutiert.
Die neue Plattform nachtkritik.plus diskutiert über technische Herausforderungen, streamt ausgewählte Aufführungen und macht Live-Debatten überregional zugänglich.
Besonders wichtig für das Theater und sein Publikum wurde nachtkritik.de in der Corona-Krise. Das Streaming-Programm hielt das Theater im Lockdown sichtbar – teils live und mit aktuellen, teils mit historischen Inszenierungen – und gab damit auch Anregungen für neue theatralische Produktionsformen im virtuellen Raum.
Nachtkritik.de leistet nach wie vor das Beste, was es im deutschsprachigen – und im internationalen – Raum zu lesen und zu sehen gibt. Seit kurzem werden dort täglich wechselnde Livestreams und Aufzeichnungen angeboten. Wer Online-Spielpläne sucht, wer grundsätzlich über die vermeintlichen Kontrahenten Theater und Netz mehr erfahren will, auf diesem Forum wird er informiert.
Natürlich kostet all das Geld, viel Geld. Und viel von diesem Geld – Einnahmen etwa aus Werbung und Kooperationsprojekten – brach in der Pandemie weg. Einen „Ritt auf Messers Schneide“ nannte (der 2022 verstorbene) Nikolaus Merck die finanzielle Lage. Ein verzweifelter Spendenaufruf rettete der Plattform gerade nochmal die Existenz.
Was nachtkritik.de noch besser machen könnte? Vielleicht das Marketing. Dafür jedenfalls gab 2021 Holger Kurtz in einem „ungefragten Audit“ Anregungen. Tatsächlich ist das eins der wenigen Dinge, die nachtkritik.de zu wünschen übrig lässt: die Gewichtung der vielen Unterseiten könnte deutlicher ausfallen. Was ist wichtig, was weniger? Ein bisschen mehr Hilfestellung – und die Nutzerin wäre wunschlos glücklich.