Gespenster – Berlinale Blog 2024
von Achim Forst
26. Februar 2024
Der letzte Post: Rückblicke, Impressionen und Kritik an der Retrospektive
Die Berlinale ist vorbei: Das Leitungsteam Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben sich mit der 74. Ausgabe nach nur fünf Jahren verabschiedet. Die Stimmung danach und das Fazit der Kolleginnen und Kollegen ist – freundlich formuliert – ‚mittelgut‛. Und die Begeisterung darüber, dass jetzt für 2025 die US-Amerikanerin Tricia Tuttle die Leitung übernimmt, scheint nach ihrer begeisternden Vorstellung im Dezember noch zugenommen zu haben.
Goldener Bär: ein Jury-Kompromiss?
Die Entscheidung der Wettbewerbsjury, Dahomey, Mati Diops Dokumentarfilm über die Rückführung von Kunstwerken ins afrikanische Benin, den Goldenen Bären zu verleihen, wirkt wie ein letzter kleiner Coup des Künstlerischen Leiters Chatrian. Denn wie der Spiegel berichtet, war die Kenianerin Lupita Nyong’o, die erste schwarze Jurypräsidentin der Berlinale, mal selbst an einer Dokumentation über das Königreich Dahomey (heute Benin) beteiligt.
Nun ist ‚Jury-Schelte‛, also das wahlweise Sich-Wundern, -Entsetzen oder -Ärgern über die Bärenvergabe, so alt wie die Filmfestspiele selbst und ihnen seit den 70er Jahren sozusagen genetisch eingeschrieben, weil sich die Berlinale seitdem als ‚politisches Festival‛ profiliert und entsprechend die Wettbewerbsjurys besetzt und das Wettbewerbsprogramm gestaltet hat. Doch in diesem Jahr war die Ablehnung und Kritik in den Medien besonders einmütig. Nur als Beispiel: Dahomey sei ein typischer Jury-Kompromiss, und bei nicht nur dieser Entscheidung sei die „Filmkunst hinten runter gefallen‟ (Peter Claus und Anke Sterneborg im Sender RBB Kultur). Etwas gnädiger Lars-Olav Beier und Hannah Pilarczyk im Spiegel: „Thematisch war Dahomey daher wohl eine naheliegende Wahl, formal aber kaum.‟
Ich habe Dahomey nicht gesehen, ebenso wie viele professionelle Berlinale-Besucher, die sich nicht nur für die Angebote des offiziellen großen Schaufensters, den Wettbewerb, interessierten. Daran sollte man immer wieder denken und erinnern: dass alle Beurteilungen des Festivalprogramms mehr oder weniger subjektiv sind. Jede Zuschauerin, jeder Zuschauer hat durch seine pure Auswahl aus den Hunderten von Filmen sich als persönlicher Kurator seine eigene kleine Berlinale zusammengesetzt.
Festival-Kritik ist natürlich trotzdem erlaubt. Und angebracht: Wie meine Kolleginnen und Kollegen hoffe ich, dass Tricia Tuttle die Abschaffung der Nachwuchsreihe Perspektive Deutsches Kino rückgängig macht und auch die Kannibalisierung des Wettbewerb-Programms beendet, die Carlo Chatrian durch die Einführung des zweiten Wettbewerbs Encounters in Gang gesetzt hat. Und hoffentlich war die Retrospektive 2024 nur ein schlimmer Ausreißer nach unten (aus- und nachdrücklich gesagt: nicht die einzelnen Filme, sondern die Konzeption).
Ein Armutszeugnis
In der großartigen jahrzehntelangen Tradition der Retrospektive, die der 2023 verstorbene Filmhistoriker Hans-Helmut Prinzler begründet hat, war die Reihe diesmal nur ein Schatten ihrer selbst. Dass es schon länger keine fundierte filmografische Informationen zu den einzelnen Filmen und kaum noch Buchveröffentlichungen zur Retro mehr gibt – geschenkt. Klar: Das hat finanzielle Gründe, außerdem kann (muss) sich ja jede(r) im Netz informieren. Wenn er/sie denn die richtigen Quellen kennt…
Doch das im Berlinale-Programmheft 2024 veröffentlichte ‚Konzept‛ der Retrospektive grenzt, finde ich, schon an Arbeitsverweigerung: „Unangepasste Protagonist*innen, eigenwillige Filmsprachen und unkonventionelle Produktionen aus der deutschen Filmgeschichte jenseits des Kanons‟ werde man zeigen. – Das ist mehr als dünn. Wäre das Konzept eine Eisdecke – keinen einzigen Schritt würde man darauf wagen.
Rainer Rother, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek, begründete es wortreich, aber nicht überzeugender in einem epd Film-Gespräch. Doch fehlende Mittel für Untertitelungen entschuldigen nicht das Fehlen von Ideen. Die Retrospektive eines auch filmgeschichtlich so bedeutenden Festivals wie der Berlinale muss gedanklich mehr bieten als eine Filmrecherche im eigenen Archiv mit den Vorgaben ‚unkonventionell‛, ‚unangepasst‛ und ‚eigenwillig‛. Nicht nur für Rother, auch für den erklärten Cineasten Carlo Chatrian, der die Retro ja mitverantwortet und mitgetragen hat, war das bei seiner letzten Berlinale ein cineastisches Armutszeugnis.
Doch ich will diesen Berlinale-Blog nicht mit unfreundlicher struktureller Kritik abschließen, sondern mit zwei Berlinale-Filmen. Und der erste lief sogar in der Retrospektive.
Zeitlos aktuell und doch weit weg
Es ist immer spannend und erhellend, nach vielen Jahren einen Film noch einmal anzuschauen, aber so kann es einem auch mit einem Film ergehen, den man erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung zum ersten Mal sieht. Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen hatte 1991 bei den Hofer Filmtagen Premiere; ich hatte ihn damals verpasst. Die Kamera führte der große Thomas Mauch (wie auch in Edgar Reitz‛ Filmstunde, siehe Blog-Post 22. Februar). Drei Jahre zuvor hatte die Regisseurin Eva Hiller als Co-Autorin von Maria von den Sternen fungiert, Mauchs erstem Spielfilm als Regisseur. (Auf der Berlinale-Seite erfährt man davon nichts: Hiller wird nicht mit einer Biografie gewürdigt.)
Unsichtbare Tage ist ein dokumentarischer Essay, in dem die Autorin über den Zustand der Gesellschaft der Bundesrepublik reflektiert, unter anderem über die Simulation von Realität (in den Computern) und das Verschwinden der Nacht (im allgegenwärtigen künstlichen Licht), parallel geführt mit der Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Hiller bezeichnet ihre Arbeit im Film als „Traumdeutung‟, in der die realen Bilder neu zusammengesetzt werden. Thomas Mauch hat diese Bilder meisterhaft fotografiert; die Montage seiner kühlen Szenen des nächtlichen Frankfurt erinnert teilweise an Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von 1927.
Was wir hören und sehen, ist zeitlos aktuell (Simulation, Verlust der Realität) und gleichzeitig ganz weit weg. Der oft intellektuell hochgeschraubte Kommentar wirkt heute verstaubt, aber die Kraft der Bilder ist groß. Wir verfolgen erstaunt und fasziniert, wie Menschen in einem Postzentrum von Hand Briefe in hölzerne Schrankfächer sortieren oder Männer in irgendeiner Schaltstelle per Zuruf den Verkehr von S- oder Straßenbahnen regeln.
Und dann sehen wir plötzlich steil von unten hinauf zu zwei Zwillingshochhäusern, über die ganz oben am Himmel ein Verkehrsflugzeug fliegt. Und werden darauf gestoßen, dass in einem historischen Film, der uns (Ein-)Blicke in die Welt vor 33 Jahren ermöglicht, nicht nur die Realität eine andere ist, sondern auch unsere Wahrnehmung dieser Realität.
Im Bauch des Tigers
Und noch eine Empfehlung: Mit In the Belly of a Tiger (Sektion Forum) hat der junge indische Regisseur Siddartha Jatla einen Film über Armut und schreckliche Arbeitsverhältnisse in seinem Land gedreht. In einem Dorf werden immer mehr Einwohner von einem Tiger getötet, die Umstände sind blutig und rätselhaft. Erzählt wird die Geschichte einer Familie, die gescheitert aus der Stadt zurückgekehrt ist und nun ganz von der ausbeuterischen Arbeit in einer benachbarten Ziegelfabrik abhängig ist. Erst im dramatisch-tragischen Finale erfahren wir endgültig, wer der Tiger ist und was sein Bauch bedeutet.
In the Belly of a Tiger ist ein Film in der langen Tradition des unabhängigen indischen Kinos – sozialkritisch und realistisch, aber nicht dokumentarisch. Mit seinen bewegenden Darstellern, der sorgfältigen Kameraarbeit und ausgefeilter Licht- und Farbgestaltung erinnert er an die besten Werke des italienischen Neorealismus. In die deutschen Kinos wird der Film wohl nicht kommen. Aber vielleicht haben wir Glück, und ARTE kauft ihn oder er wird wie Siddartha Jatlas Spielfilmdebüt von Netflix aufgenommen.
24. Februar 2024
Der verlorene Zauber Atom Egoyans und ein feministischer Dokumentarfilm
Eine junge Opernregisseurin inszeniert Salome von Richard Strauss und erlebt das Übliche: Neid, Intrigen, unerwiderte Sehnsüchte, Eifersüchteleien, eine kapriziöse männliche Gesangsdiva. Also ein ganz normaler Theaterfilm – scheinbar.
Doch der Regisseur von Seven Veils heißt Atom Egoyan, Kanadier armenischer Abstammung, bekannt geworden in den 80er Jahren in Toronto als erfolgreicher Repräsentant der ‚Neuen Welle‘ des kanadischen Kinos. Auf seinen Debutspielfilm Next of Kin (Die nächsten Angehörigen, 1984) folgte eine Reihe von großartigen, berührenden Ensemble-Filmen, darunter The Sweet Hereafter (Das süße Jenseits, 1997). In dieser Zeit, bis in der 2000er Jahre hinein, war Atom Egoyan einer meiner Lieblingsregisseure. Danach verlor ich ihn fast aus den Augen. Seine neuen Filme waren nur noch selten im Kino zu sehen. Ich verfolgte, wie Egoyan mit sympathischen kleinen Produktionen nach seinen armenischen Wurzeln suchte, und erfuhr von Flops und harschen Kritiken. Die Berlinale präsentierte Seven Veils nun als ‚Special Gala‛, weil er schon im Herbst 2023 in Toronto seine Uraufführung hatte.
Flashbacks
Man könnte sagen, dass Egoyan in Seven Veils zu seinen Ursprüngen zurückkehrt, den verkorksten, tabuisierten Familiengeschichten, den Beziehungstraumata, die sich nur mit den medialen Mitteln Film und Video aufarbeiten lassen. Oder man sagt wie Anke Leweke in Deutschlandfunk Kultur, dass Egoyan wie schon viele Male zuvor denselben Film neu gedreht habe. – Beides stimmt wohl: In der fortschreitenden Arbeit an der Opernproduktion – Egoyan hatte 2023 selbst Salome inszeniert – durchlebt die Protagonistin Jeanine (Amanda Seyfried) anfangs inspirierende, dann immer schmerzlichere Flashbacks in ihre Kinderzeit, als ihr kunstbesessener Vater seine Tochter filmend kontrollierte und offenbar auch missbrauchte.
Wie schon damals in seinem ersten Spielfilm inszeniert und montiert Atom Egoyan die verschiedenen Elemente – Bewusstseinsebenen, Opernszenen und alte Schmalfilmszenen – flüssig, ästhetisch einleuchtend und handwerklich meisterhaft. Doch ich vermisste in Seven Veils das Spielerische und das scheinbar Spontane, das mich in vielen seiner Spielfilme tief berührt hat. Und so empfand offenbar nicht nur ich: Der Zauber von Atom Egoyan ist weg (zumindest in diesem Film).
Ein Ort und die Geschichte dreier Frauen
Wie viel verrät ein Ort über seine Geschichte? Wie viel können Vorfahren und Nachkommen voneinander wissen?. Das fragte sich die Filmemacherin Katharina Pethke, als sie Professorin auf Zeit an der Kunsthochschule Hamburg wurde.
Zuerst fragt man sich als Zuschauer ihres Films Reproduktion (im Forum), wohin sie und uns diese Fragen führen werden: Wir sehen perfekt kadrierte und fotografierte Bilder von leeren Fluren eines Gebäudes, dazu aus dem Off, angereichert mit Dokumenten und Fotoalben, die Erzählung mehrerer Lebensgeschichten: einer jungen Frau, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ihrer Leidenschaft folgen und Kunst studieren will und – noch weiter zurück – die des fortschrittlichen Architekten des Gebäudes, der in der direkten Nachbarschaft unbedingt noch eine Geburtsklinik bauen wollte. Dann erscheint die Tochter der ehrgeizigen Künstlerin, die in den 1970er Jahren noch eigensinniger ihren Weg in die Welt der Kunst sucht. Schließlich kommt die Enkelin ins Spiel: die Autorin Katharina Pethke.
Ein kluger Filmessay
Und so passiert es, dass, je länger der Film dauert, er immer persönlicher und gleichzeitig bemerkenswert universell wird. Pethke erzählt die Lebensgeschichten der drei Frauen, die ihre Kunst nicht dem Muttersein, also der biologischen Reproduktion opfern wollen, ohne Sentimentalitäten, einfach, konzentriert und klar. Dabei bezieht Katharina Pethke klug, auch im Dialog mit einer Kunstkollegin, die Werke der Frauen (auch die einer Zeitgenossin ihrer Großmutter) in ihr Filmessay ein. Ein moderner feministischer Film, der nicht aktivistisch neue Gräben aushebt, sondern Fragen stellt, die auch in Zukunft Frauen und Männer gemeinsam beantworten müssen.
(Disclaimer: Der Autor war bis November 2020 Mitglied der Dokumentarfilm-Redaktion von ZDF/3sat, die diesen Film mitproduziert hat.)
Hm…
Ein, hm, interessanter Film: Wu Suo Zhu (Abiding Nowhere). Ein Mönch in roter Kleidung bewegt sich in Super-super-Zeitlupe millimeterschnell durch Washington – ohne Filmtrick, sondern per absoluter Körperbeherrschung. Man weiß schon: Yoga, Entschleunigung etc. Parallel schaut man manchmal einem sich normal bewegenden Asiaten an denselben Schauplätzen zu, zum Beispiel gefühlt fünf Minuten lang, wenn er sich Asia-Nudeln mit Saucenpulver, frischen geschnittenen Pilzen und Lauch kocht. Schön fotografierte Locations, innen und außen, insgesamt etwa 20 bis 30 Szenen, 72 Minuten.
Ich wollte über diesen Film eigentlich nicht schreiben, weil ich das Werk des malaiischen Regisseurs Tsai Ming-liang, der in Venedig 1994 den Goldenen Löwen und in Berlin mal einen Silbernen Bären gewann, nicht kenne. Während des Schauens dachte ich, dass hier der Begriff ‚Experimentalfilm‘ sich auf das Experimentieren mit der Geduld der Zuschauer(innen) bezieht. Aber erstaunlich: Die meisten Leute blieben sitzen und haben anschließend geklatscht. Ich ausnahmsweise nicht. Aber merkwürdig: Auch einen Tag später geht mir der sich mikroskopisch bewegende rote Mönch nicht aus dem Kopf. Hm…
22. Februar 2024
Edgar Reitz und die Filmbildung: zwei Dokumentarfilme über einen vergeblichen, aber fröhlichen Kampf
Heute wird auf der Berlinale der 91-jährige Regisseur Edgar Reitz für seine Verdienste für den deutschen Film mit der Berlinale Kamera 2024 ausgezeichnet. Mit seinem Lebensprojekt Heimat, in mehreren epischen Fernsehserien und Spielfilmen, hat Reitz über Jahrzehnte hinweg seit den 80er Jahren seiner Heimat im Hunsrück ein mediales Denkmal gesetzt und dabei Fernseh- und Filmgeschichte geschrieben.
Ein pädagogisches Experiment
Wie sein amerikanischer Kollege Martin Scorsese zur Verleihung des ‚Ehren-Bären‘ brachte Reitz einen sehr persönlichen Dokumentarfilm mit nach Berlin. Einen ‚kleinen‘ Film, in dem er auf ein unbekanntes Element seines Schaffens zurückschaut. Ein Film, der ganz widersprüchliche Gefühle auslöst: die Freude über ein ungewöhnliches Experiment und die lebendig gewordene Erinnerung daran, die Persönlichkeiten der Teilnehmerinnen und deren Entwicklung, aber auch die Enttäuschung über das Scheitern des Projekts, das Reitz mit diesem Film ins Rollen bringen wollte.
Es war das ikonische Jahr 1968, als der 35-Jährige in München vor eine Mädchenklasse trat und begann, sie mit den Grundlagen des Filmemachens vertraut zu machen. Reitz war damals schon ein erfahrener Regisseur, als Praktiker kannte er die industriellen Mechanismen und als medienwissenschaftlicher Theoretiker wirkte er an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Ein Jahr zuvor hatte er seinen ersten Spielfilm Mahlzeiten veröffentlicht.
Unterwegs mit Super8
Begleitet von seinem Team mit zwei Kameramännern (darunter Thomas Mauch), dokumentierte Reitz seinen vierwöchigen theoretisch-praktischen Filmunterricht in Filmstunde – ein vorbildloses und unerhörtes Vorhaben. Mit klugen Fragen und einfühlsamem Nachhaken führte er die 13- bis 15-jährigen Gymnasiastinnen heran an das Handwerk und die ästhetischen Entscheidungen beim Filmemachen. Und dann durften die Mädchen als Autorinnen auch noch eigene Super8-Filme drehen.
Nicht nur der Stoff, auch das pädagogische Vorgehen war damals – wohl nicht nur in Bayern –revolutionär: Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlten sich die Schülerinnen ernst genommen, wurden als Gesprächspartnerinnen akzeptiert und entwickelten dabei einen Klassenzusammenhalt, der bis heute nachwirkt.
Das erzählen die Mädchen, die jetzt Ende 60 sind, in dem neuen Film Filmstunde_23, den Edgar Reitz zusammen mit dem renommierten Dokumentarfilmer Jörg Adolph geschaffen hat. Angeregt durch eine der Schülerinnen von damals kam es zu einem faszinierenden Klassentreffen, bei dem die Frauen im Gespräch mit ihrem ebenfalls gealterten Filmlehrer auf die gemeinsame Zeit zurückblicken, auf die Filme und die Erkenntnisse, die sie damals für ihr Leben mitgenommen haben.
Als Zuschauer dieses fröhlichen Dokumentarfilms weiß man nicht, worüber man sich mehr wundern und freuen soll: die Spontaneität und Intelligenz der Mädchen von 1968 oder die Klugheit und Klarheit der Frauen im Jahr 2023. Die andere Seite bringt Edgar Reitz am Ende in seinem Kommentar zum Ausdruck: Sein damaliger Plan, mit dem 45-minütigen Film ein gesellschaftspolitisches Umdenken in Gang zu setzen, nämlich Film- und Medienbildung offiziell in die Lehrpläne der Schulen zu bringen, ist vollständig gescheitert. Und auch heute, 55 Jahre danach, in unserer Welt des audiovisuellen Overkills, in der es für Kinder und Jugendliche noch wichtiger wäre, die Sprache der Bilder wirklich zu verstehen, ist keinerlei Fortschritt in Sicht. Das ist die traurige und bittere Erkenntnis dieses schönen und im Grunde optimistischen Films, der im Auftrag des Bayerischen Rundfunks produziert wurde und deshalb demnächst, wie zu hoffen ist, auch einem breiteren TV- und Streaming-Publikum zugänglich werden wird. Die Gespenster werden dranbleiben.
20. Februar 2024
Zweimal Filmgeschichte: Lubitsch Touch mit Ton und Martin Scorseses Leidenschaft für das englische Kino
Gerade weil man auf großen Festivals wie der Berlinale einem Überangebot von Hunderten neuer Filme gegenübersteht, sollte man mindestens einmal einen Schritt zur Seite wagen und ein kleines Stück Filmgeschichte nacherleben, indem man sich einen alten, vielleicht sogar ganz alten Film anschaut – in Berlin angeboten in den Sektionen Retrospektive und Berlinale Classics.
Das mache ich seit vielen Jahren und lerne immer wieder dazu. Warum? Weil wir alle – in der Wissenschaft, der Kunst und eben auch im Kino – auf den Schultern von Riesen stehen und weil, wer die Gegenwart, auch das aktuelle Kino und die Medienkunst, wirklich verstehen will, wenigstens ein bisschen von ihrer Entstehung verstanden haben sollte.
Operetten-Monarchie
Bei der Berlinale 2024 also nun die Weltpremiere der digital restaurierten Fassung des ersten Tonfilms von Ernst Lubitsch: The Love Parade (1929) mit Maurice Chevalier. Lubitsch hatte, nach erfolgreichen Historiendramen in seiner Heimatstadt Berlin, schon 1922 seine Karriere in Hollywood fortgesetzt und sich dort als Experte für die Sophisticated Comedy etabliert. Sein Markenzeichen: der Lubitsch Touch, eine besondere Art, die Zuschauer zu Komplizen der Situation zu machen und durch Dialoge und visuelle Auslassungen ihre Phantasie, vor allem die erotische, zu provozieren.
Eigentlich ist The Love Parade eine völlig harmlose, weitgehend überraschungsfreie Film-Operette – damals ein Vehikel, um die neue Technik des Tonfilms zu promoten und das Publikum von den Entbehrungen der Weltwirtschaftskrise abzulenken. Lubitsch macht daraus ein ironisches Spektakel mit Hofstaat und Uniformen und mit dem doppelbödigen Kampfspiel der Geschlechter, das er dann in Trouble in Paradise (1932) und Design for Living (1933) zur Perfektion führte.
Elegant mit vollem Tempo
Lubitsch beginnt gleich mit vollem Tempo, so schnell wie später Hollywoods Screwball Comedies, und erzählt in den ersten fünf Filmminuten trotzdem elegant von der Eifersucht eines Liebespaars, dem Auftritt des gehörnten Ehemanns, vorgetäuschtem Selbstmord und versuchtem Mord (beides ungefährlich, weil mit Platzpatronen) sowie der Abberufung des Affären-belasteten Militär-Attachés Graf Alfred (Chevalier). Das ist nur der Prolog, nach dem sich die gleichfalls abberufende Königin Louise (Jeanette MacDonald) sofort in den charmanten Übeltäter verliebt, ihn heiratet und als Prinz zur absoluten Taten- und Bedeutungslosigkeit verurteilt. Damit beginnt der Teil des Plots, in dem Lubitsch so richtig wirken kann.
Die ausgestellte ‚Zuckergussmimik‛ Maurice Chevaliers, die Lubitsch dann in The Smiling Lieutenant (1931) noch gewinnträchtiger auf die Leinwand brachte, mag uns heute nicht mehr ansprechen – manchmal zieht Chevalier einfach ein Gesicht wie Stan Laurel, wenn er besonders ahnungslos wirken will –, aber das Ganze ist ein großer Spaß. Auch ein physischer: wenn der Diener und die Zofe (Lupino Lane und Lillian Roth) die sublim dargestellte Liebesgeschichte und den Streit ihrer Herr-/Damenschaft in sehr sinnlichen, furiosen Slapstick-Nummern spiegeln, die an die Marx Brothers erinnern.
in einem Essay der DVD-Criterion Collection: Lubitsch Musicals von Michael Koresky (engl.).
Fasziniert von Powell und Pressburger
Zufällig am selben Tag unternahm ich einen weiteren Ausflug in die Filmgeschichte: Martin Scorsese, der nach Berlin gekommen ist, um seinen ‚Ehren-Bären‘ entgegenzunehmen, hat einen neuen Film mitgebracht. Keinen Spielfilm, sondern eine von ihm mitproduzierte, sehr persönliche zweistündige Hommage an zwei große Filmschöpfer des englischen Kinos: den Regisseur Michael Powell und seinen langjährigen Partner, den Drehbuchautor Emeric Pressburger. Schon als zehnjähriger Asthmatiker, so sagt er im Film, hatte Scorsese die phantasievollen Großproduktionen der beiden fasziniert immer und immer wieder angeschaut, vor allem The Tales of Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen, 1951) und das Ballett-Drama Die roten Schuhe (1948).
Eigensinn mit System
Unter der Regie von David Hinton erzählt Martin Scorsese in Made in England: The Films of Powell and Pressburger die wechselvollen Produktionsgeschichten der beiden Autoren-Filmer, denen er sich auch deshalb so verbunden fühlt, weil sie, so wie er selbst, immer wieder eigensinnig ihren künstlerischen Weg innerhalb des ‚Systems‘ gesucht und gefunden haben. In Split-Screen-Gegenüberstellungen von Scorsese- und Powell-Pressburger-Produktionen zeigen Hinton und Scorsese, wie stark der filmische Einfluss aus England war. Als erfolgreicher Jungregisseur (nach Mean Streets, 1973) zu Gast in England, lernte Scorsese Michael Powell dann persönlich kennen, und die beiden wurden Freunde bis zu Powells Tod.
Aber das ist eine andere Geschichte. Mehr dazu bei uns, wenn dieser außergewöhnliche Dokumentarfilm über die Leidenschaft Kino – hoffentlich – in Deutschland veröffentlicht wird, im Kino, bei ARTE oder sonstwo.
Bis dahin hier der schöne offizielle Trailer:
19. Februar 2024
Keine leichte Kinokost: Matthias Glasners Sterben
Matthias Glasner ist kein Regisseur der leichten Stoffe: Seine bekanntesten Filme, die beide auf der Berlinale Premiere hatten, handeln von einem brutalen Vergewaltiger (Der freie Wille, 2006) und einer Fahrerflucht mit unterlassener Hilfeleistung und Todesfolge (Gnade, 2012). In beiden kämpft Schauspieler Jürgen Vogel als Protagonist: Im ersten ringt er kompromisslos mit sich selbst, im zweiten zusammen mit seiner Frau, der Täterin, um die richtige lebensverändernde Entscheidung.
Ein Film über fast alles
Zwölf Jahre später nun also Sterben, und wieder geht es um existentielle Entscheidungen: Matthias Glasner hat es sich hier als Autor und Regisseur noch einmal schwerer gemacht und schonungslos, analytisch und halbautobiografisch seine eigene Familiengeschichte in einen 3-Stunden-Film gepackt. Die teilweise sich überlappenden und aus den unterschiedlichen Perspektiven der Protagonisten erzählten Kapitel des Films lassen kaum etwas aus: (Über-)Leben mit Krankheit im Alter, Kindesmisshandlung, Alkoholismus, Rausch, Depression, existentielle Ziellosigkeit, Patchwork-Beziehungen und die Angst vorm künstlerischen Scheitern.
Gemeinsame Meinungen
Viele Kolleginnen und Kollegen haben nach der Premiere hier in Berlin ihre Meinungen zu Sterben schon geäußert (u.a. Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel ), und die meisten sind sich einig: quälend, aber eindrucksvoll; eigentlich zu lang, mit zu vielen Themen, doch mit enorm starken Szenen der Schauspieler(innen) des deutschen Starensembles.
Einig sind sich alle über den dramatischen Höhepunkt des Films: das Gespräch zwischen Lars Eidinger als Dirigent Tom, Glasners Alter Ego, und Corinna Harfouch als seine todkranke Mutter, in dem sich die beiden mehr als 25 Minuten lang gestehen und begründen, warum zwischen ihnen schon immer eine absolute Lieblosigkeit bestand.
Lars Eidinger sagte in der Pressekonferenz, er habe sich diese Szene nur ohne Vorbereitungen zumuten können, und er vermute, das sei auch gut so gewesen. Das bestätigte Matthias Glasner: Das Gespräch im fertigen Film stamme ausschließlich aus dem ersten Aufnahmetake.
Zum Filmstart mehr
Ich selbst schließe mich der fast uneingeschränkten Zustimmung der Kolleginnen Anke Leweke (Deutschlandfunk Kultur) und Anke Sterneborg (Radio Berlin Brandenburg) an. Doch über Glasners Film lohnt es sich, weiter nachzudenken und zu sprechen. Hier bei den Gespenstern zum Kinostart Ende April.
17. Februar 2024
Wichtiger Gegenspieler der Berlinale: die zehnte Woche der Kritik
Wir haben vergessen, dass das Kino, also die Filme, die wir anschauen, nicht immateriell ist. Früher, als die Farbe von Filmen noch ausbleichen, sie verkratzen und sogar reißen konnten, war uns das noch bewusst. Vor Jahren, als die Digitalisierung des Kinos begann, kritisierten viele von uns, dass die bewegten Bilder nun ‚kälter‛ wirken würden. Doch das wird inzwischen in der Postproduction immer perfekter korrigiert; jeder Film bekommt seinen speziellen Look, möglich auch in Retro-Technicolor.
Von der Materialität der Bilder
Die erste Filmveranstaltung der Woche der Kritik (WdK) erinnerte mit einem klug komponierten Doppelprogramm an diese Materialität und den Entstehungsprozess der Bilder, mit denen uns im Kino Geschichten erzählt werden. Und bewies damit wieder, wie wichtig es ist, dass die Woche jedes Jahr parallel und als widerspenstiger Gegenpart zur Berlinale stattfindet: Filme und Debatten mit insgesamt 40 bis 50 internationalen Gästen über Themen, die in den Programmen des Festivals im besten Fall durch einzelne Beiträge berührt werden. Denn die Filmfestspiele sind ein wichtiger Knotenpunkt in der Präsentations- und Verwertungskette von Filmen, für ihre ästhetische Zusammenführung und Reflexion sind sie aber kuratorisch nicht zuständig. Diese ergänzende Funktion übernimmt seit zehn Jahren die vom Verband der deutschen Filmkritik veranstaltete Woche der Kritik. Eine Institution, die Filmfestivals in Cannes, Venedig und Locarno schon Jahrzehnte zuvor hatten.
Das Weben von Filmen
Phantom Thread hieß das erste WdK-Programm und benannte damit die Stofflichkeit und die gleichzeitige Unfassbarkeit der Dinge und Personen der beiden Filme. Der indische Regisseur Amit Dutta verwendete für seinen Animations-Montagefilm Mother, Who Will Weave Now? hochauflösende Scans von historischen gewebten Stoffen, um aus diesem Material, den Bildern und Symbolen ganz unterschiedlicher Herkunft und Qualität, eine ganz eigene Geschichte zu entwickeln, seine persönliche Synthese verschiedener indischer Mythen.
Ähnlich frei ging Graham Swon in An Evening Song (For Three Voices) mit seinem biografischen Ausgangsmaterial um, dem realen Verschwinden der Schriftstellerin Barbara Newhall Follett im Jahr 1939. Bei Swon endet damit ein merkwürdiges Dreierverhältnis zwischen einem Schriftstellerpaar aus der Stadt und einem (offenbar) von Neurodermitis geplagten gläubigen Bauernmädchen, die den beiden den Haushalt führt.
Traumerzählungen mit Vignette
Der US-amerikanische Regisseur hat ein ähnliches und ebenso starkes Verlangen nach einer retrospektiv orientierten Filmästhetik wie der kanadische Regisseur Guy Maddin (*1956) mit seinen melodramatischen Stummfilmen. Der wohl zwei Generationen jüngere Swon entwickelte eine komplexe Kamera-Apparatur, um über die Projektion von hochaufgelösten Digitalbildern auf eine Glasplatte den bestimmenden archaisierenden Vignetteneffekt seines Spielfilms zu kreieren – mit helleren Bereichen ungefähr in der Bildmitte und sich verschiebenden Bildschärfebereichen. Dazu verwendet Swon (auch ähnlich wie Maddin) extensiv und experimentell Überblendungen und gibt damit seinem untergründig knisternden Dreiecks-Melodram eine traumhafte Atmosphäre.
Im Podiumsgespräch nach der Vorführung sagte Swon zu seiner Arbeitsweise: „Ich fragte mich, was wäre, wenn im Film nicht der Schnitt der ‚Normalfall‛ wäre, sondern die Überblendung?‟ – Ja, was wäre dann? Hollywoods Actionkino hätte dann wirklich ein Problem.