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Filmriss im Noir
The Chase – ein unbekannter Schwarze Serie-Klassiker und weitere Film noir-Filme von ARTE wieder entdeckt
von Achim Forst
Ein junger Mann im Anzug drückt sich die Hutkrempe platt an einem Schaufenster, hinter dem ein Koch Pancakes und Bacon brät. Sein Griff in die Jackentasche bringt kein Geld hervor, nur ein Glasfläschchen, aus dem er eine Pille nimmt. Beim Weggehen fällt der Blick des Mannes auf eine Brieftasche. Er hebt sie auf und findet darin eine Menge Geldscheine. Seine Probleme scheinen gelöst zu sein. Doch beim Bezahlen nach dem opulenten Mahl im Diner sieht der junge Mann eine Visitenkarte. In der nächsten Einstellung steht er vor einem palastartigen Anwesen und klingelt.
Der Anfang von The Chase (Die Flucht, Regie: Arthur D. Ripley) ist knapp, und die Geschichte entwickelt sich geradlinig nach den Regeln des Krimi-Genres. Der aus dem Krieg zurückgekehrte Ex-Soldat Chuck wird vom Eigentümer der Brieftasche, dem smarten Gangsterboss Eddie, als Chauffeur eingestellt. Dessen Ehefrau leidet seit Jahren unter den Demütigungen ihres Mannes und sucht einen Ausweg aus ihrem goldenen Käfig. Sie will ihn verlassen. – Was dann passiert, kann man sich denken.
Bis hierhin glaubt man nicht, dass dieser Film größere Überraschungen bieten könnte: ein Krimi aus Hollywoods Schwarzer Serie, mit hell ausgeleuchteten Studio-Interieurs, handwerklich solide geschrieben und inszeniert – ein Film noir, der Kontraste vor allem in Bewusstsein und Charakter der Figuren vorführt, mit einem Plot, der wie ein Uhrwerk abläuft.
Doch nach einer Stunde Laufzeit, nach mehreren Handlungstwists und mitten in der titelgebenden Jagd auf den Protagonisten, passiert plötzlich im doppelten Sinn ein ,Filmrissʻ. Denn scheinbar beginnt nun ein neuer Film, der mit dem vorigen nur durch das endlose Klingeln eines Telefons verbunden ist.
Wir Zuschauer erfahren erst jetzt mehr über den vorbildlichen, aber offensichtlich nicht unverletzlichen jungen Helden Chuck. Und wir verstehen, wie gut der Film eingebettet war in seine Zeit, als Millionen junge Männer in Gesellschaften heimkehrten, die nicht auf sie gewartet und ganz gut ohne sie funktioniert hatten. Mehr von der Handlung soll hier nicht verraten werden, denn dieses wenig bekannte Werk der Schwarzen Serie, das 1947 im Wettbewerb in Cannes lief, sollte man sich unbedingt anschauen.
Realitätssprünge à la Lynch
Erst nachdem ich den Film gesehen hatte, ausgelöst durch eine Bemerkung meines Co-Redakteurs, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich erkannte die Verwandtschaft von The Chase mit den rätselhaften späteren Spielfilmen von David Lynch, Mulholland Drive (2001) und Lost Highway (1996).
Im Gegensatz zu anderen bedeutenden Regisseuren hat Lynch nie offen den Bezug zu den Genres der Filmgeschichte gesucht und sich nur selten über den Einfluss einzelner Filme auf sein Werk geäußert. Allerdings wiesen seit der Veröffentlichung von Blue Velvet (1986) Filmkritiker wie Filmwissenschaftler auf die Bezüge zu den Werken von Hollywoods Schwarzer Serie hin. Lost Highway wird heute allgemein in die Genre-Kategorie Neo-Noir eingeordnet. Bei der Zusammenschau von The Chase und Lost Highway kann man sich tatsächlich fragen, ob die Handlungsparallelen und der Name der Gangsterbosse wirklich zufällig sind: Auch in Lynchs Film spielen ein Mr. Eddie und seine gewalttätigen Autofahrten eine wichtige Rolle, und wie auch in Mulholland Drive gehören die ,Filmrisseʻ und Gedächtnisverluste der Protagonisten zur filmischen DNA der Handlung. Bei einer Kinovorführung von The Chase in Chicago 2015 beschrieb der Präsident und Gründer der Film Noir Foundation Eddie Muller den Film „als etwas, das David Lynch inszeniert haben könnte“, wenn er schon in den 1940er Jahren aktiv gewesen wäre (zitiert nach einem Bericht von Eric Somer).
Wer ein bisschen mehr erfahren will, liest An Essential Noir Doubles Down on the Unsavory (Ein essenzieller Film noir verdoppelt das Unappetitliche) von Zachary Zahos, ein Text über The Chase, geschrieben zu einer Vorführung des Films in der Cinematheque der University of Wisconsin – Madison 2018. Angeregt wurde sie durch Reinventing Hollywood: How 1940s Filmmakers Changed Movie Storytelling, das damals neue Buch des langjährigen Film-Professors der Universität und international anerkannten Filmwissenschaftlers David Bordwell, der vor dem Film eine kleine Vorlesung gab.
Wer noch wesentlich mehr über The Chase erfahren will, sollte deshalb Bordwells faszinierenden Blogpost lesen (auf seiner Webseite Oberservations on film art, zusammen mit Kristin Thompson). Das aber unbedingt erst, nachdem man den Film gesehen hat, weil Bordwell, wie er selbst warnend voranstellt, in seiner detaillierten Analyse heftig spoilert.
Auf 19 (PC-)Bildschirmseiten führt In pursuit of The Chase mit zahlreichen Fotos durch die komplexen Bedeutungsebenen des Films und erzählt alles Relevante der Produktionsgeschichte. Die Romanvorlage The Black Path of Fear (1944) schrieb Cornell Woolrich, der „Erfinder und Meister des psychologischen Thrillers“ (so der Covertext einer englischen Taschenbuchausgabe). David Bordwell erklärt in seinem Essay überzeugend und genau, dass erst die handwerklich problematische Adaption der Vorlage sowie späte erratische Drehbuchänderungen The Chase zu dem rätselhaften, weitgehend vergessenen Film noir-Meisterwerk gemacht haben, über das wir uns heute noch wundern.
Unter diesem Label präsentierte ARTE in seiner Mediathek bis 1. April 2024 diese vier Hollywood-Klassiker:
Auf der Flucht – The Chase (USA 1946, Regie: Arthur Ripley): Mit Bob Cummings und Steve Cochran sowie der Französin Michèle Morgan prominent besetzter Film-noir-Klassiker nach einer Vorlage von Cornell Woolrich: Kriegsheimkehrer Chuck Scott bekommt einen Job als Chauffeur für den hartgesottenen Gangster Eddie Roman; doch Chucks Beziehung zu Eddies verängstigter Frau wird zu einem Albtraum. (YouTube-Link oben)
Die Falle – Pitfall (USA 1948): Vielen ein großer Film-noir-Vertreter, unter meisterlicher Regie von André De Toth, mit Dick Powell, Raymond Burr, Lizabeth Scott und Jane Wyatt: Der verheiratete Versicherungsangestellte John Forbes verliebt sich in die Femme fatale Mona Stevens, während ihr Freund im Gefängnis sitzt. Was für alle Beteiligten schwerwiegende Folgen hat, weil noch ein weiterer Mann im Spiel ist.
Informative Einleitung zur Ausstrahlung von Pitfall (englisch ohne UT) im TV-Kanal TCM (Turner Classic Movies) Noir Alley am 17. Juni 2018
Der Menschen Hörigkeit – Of Human Bondage (USA 1934): Oscar-nominierte Erstverfilmung der gleichnamigen Literaturvorlage von William Somerset Maugham und früher Film-noir-Vorläufer von John Cromwell mit Bette Davis und Leslie Howard. Ein junger Mann verfällt der selbstzerstörerischen Liebe zu einer Kellnerin, die ihn an den Rand des Abgrunds führt.
Straße der Versuchung – Scarlet Street (USA 1945): Film-noir-Klassiker von Fritz Lang, mit Edward G. Robinson und Joan Bennett: Chris, Buchhalter-Kassierer mit Künstler-Ambitionen, rettet in einer Regennacht die hübsche Kitty vor ihrem prügelnden Freund Johnny. Chris lässt sie glauben, er sei ein wohlhabender Maler. Johnny überredet daraufhin Kitty, Chris um sein angebliches Vermögen zu bringen.
Prof. Dr. Josh Matthews erklärt Scarlet Street — What Makes This Movie Great? (englisch)
Bildnachweise
Michèle Morgan und Robert Cummings in The Chase: anonym (United Artists), Public Domain via Wikimedia Commons
Filmposter The Chase: fair use via Wikipedia