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Im Labyrinth der Rezensionen

Einblicke in die Schatzkammern des Online-Magazins Glanz & Elend

Glanz & Elend – Magazin für Literatur und Zeitkritik

Das Online-Literaturmagazin Glanz & Elend (G&E) wurde im Oktober 2003 von Herbert Debes ins
Leben gerufen. G&E war der digitale Nachfolger einer gleichnamigen Rezensions-Zeitschrift, die Debes als monatliches Branchenblatt für den Buchmarkt bis 1993 herausgegeben hatte. Der Wechsel vom Printmedium ins Netz war einerseits aus der Not geboren, weil die analoge Publikation sich nicht mehr finanzieren ließ. Andererseits lag er ganz im Trend der Zeit: Zwischen 1997 und 2003 war in Deutschland die Zahl der Online-Nutzer von 4,1 auf 34,4 Millionen gestiegen, und als G&E erstmals in Netz ging, war das Jahrhundertthema der ‚Digitalen Revolution‘ auch in der Welt der Feinsinnigen angekommen. In den Feuilletons war allenthalben die Rede von der heraufziehenden Herrschaft der ‚Neuen Medien‘ und vom drohenden ‚Ende der Schriftkultur‘. Im selben Jahr erhielt der Perlentaucher (dazu siehe unser Web-Porträt: Perlentaucher – die Mutter aller Kulturplattformen) den Grimme Online Award, der 2001 geschaffen worden war, um dem digital turn auch im Kulturbereich Rechnung zu tragen bzw. nicht völlig von ihm überrollt zu werden. G&E gehört wie der Perlentaucher zu den frühen Pionieren der ‚elektronischen Kulturberichterstattung‘, die den Medienumbruch Anfang der 2000er Jahre als Herausforderung angenommen und als Chance begriffen haben.

Literaturkritik im Heimwerker-Modus

G&E arbeitet „barfuß“, wie Herbert Debes es nennt – im Heimwerker-Modus, auf low budget-Basis und mit „veralteter Technik“. Umso erstaunlicher ist die enorme Produktivität, die G&E in den letzten 20 Jahren an den Tag gelegt hat. Im G&E-Archiv haben sich inzwischen mehr als 4.000 „Relikte“ (Debes) sedimentiert. Wer in diese Unterwelten hinabsteigt, gelangt in eine wahre Schatzkammer.

Herzzerreißend old school

Vorher muss er allerdings eine Zugangsschwelle überwinden: den optischen Ersteindruck. Die Webseite ist alles andere als cool & clean. Sie präsentiert sich in ihrem anachronistischen MicrosoftFrontpage-Design nahezu herzzerreißend old school und wirkt in ihrer Überfülle und Kleinteiligkeit wie ein aus dem Ruder gelaufenes Buchverlags-Prospekt aus den 1990er Jahren. Klickt man sich in die Tiefe (oder ist tollkühn genug, die Freefind-Suchfunktion in Anspruch zu nehmen), verliert man rasch die räumliche und zeitliche Orientierung. Herbert Debes spricht selbst in schöner Offenheit von einem „Labyrinth“.

Wunderbare Wucherungen

Besonders kurios: Zusammen mit den älteren Beiträgen wird auch die ganze Historie der Webseite abgebildet. Je nachdem, in welcher Zeitschicht man sich gerade befindet, stößt man auf nostalgische Seiten-Layouts aus vergangenen Jahrzehnten, auf nicht mehr aktive Menüleisten und Rubriken, damit auch immer wieder auf Links, die folgerichtig ins Nirwana führen. G&E ist insofern nicht nur ein Archiv der Rezensionen, sondern auch die Dokumentation der eigenen Entstehungs- und Wachstumsgeschichte seit 2003. Das ist einerseits natürlich der „veralteten Technik“ geschuldet, die niemals upgedatet wurde, macht andererseits aber auch programmatisch Sinn und ist eine schöne Analogie: Die Seite lebt, hat sich längst zu einem eigensinnigen Geschöpf verselbständigt, das sich in seinen wunderbaren Wucherungen eigentlich nur staunend beobachten, aber nicht bevormunden oder zur Ordnung rufen lässt – und genauso verhält es sich ja bekanntermaßen auch mit Literatur & Poesie.

aus den Angeboten von Glanz & Elend: Infos & Tipps

Rezensiert werden Neuerscheinungen aus den Bereichen Belletristik (Romane, Erzählungen etc.) und Sachbuch, (Philosophie & Theorie, Gesellschaft & Soziologie, Geschichte & Politik), in der Rubrik Krimis, Thriller & Agenten auch Kriminal- und weitere Genre-Literatur sowie, in einer separaten Kategorie, Biografien, Tagebücher & Briefe. Bei der Auswahl folgt G&E nicht den Steilvorlagen der einschlägigen Bestseller- oder Besten-Listen, will auch keinen repräsentativen Überblick über den aktuellen Output der Verlage liefern. Vielmehr lassen sich die Autorinnen und Autoren von ihrem persönlichen Qualitäts-Kompass und ihrer jeweiligen Fachkenntnis leiten. Rezensiert wird mit Vorliebe, was dem eigenen Temperament entgegenkommt (oder auch: ihm eklatant zuwiderläuft) und was hinreichend Substanz enthält, um die eigene Expertise auf lohnende Weise daran messen zu können. Lesetipps: Gregor Keuschnig über Florian Illies‘ Caspar-David-Friedrich-Buch Zauber der Stille („Passagen verblasener Pseudo-Gelehrsamkeit“, „peinlicher Prosakitsch“) und, von demselben Autor, Das Regime Putin: Sechs lesenswerte Bücher, die sich differenziert und hintergründig mit Putins langem Weg an die Macht und seinen Visionen vom großrussischen Reich auseinandersetzen.

Im G&E-Portfolio haben die Essays einen hohen Stellenwert, weil sich mit dieser flexiblen Textform die Leitideen von G&E besonders gut umsetzen lassen: freier Stil, undogmatische Herangehensweise – und viel Raum für gründliche Erkundungen und Exkurse, die andernorts in der durchformatierten Publikationsbranche sofort der Redaktions-Schere zum Opfer fallen würden. Dabei sind die Grenzen zu den anderen Beitragsformen fließend: Das Essayistische durchwirkt gewissermaßen die ganze Webseite, und viele Rezensionen sind eigentlich kleine Essays. Lesetipps: Kulturindustrie – zur Aktualität eines kritischen Begriffs von Peter Kern und Dieter Maier und der zweiteilige Essay über Bob Dylan und seine „Philosophie des modernen Songs“/ Zur Rolle der Kontrafaktur in Dylans Songwriting von Ulrich Breth.

Thematisch zusammengehörende Einzelbeiträge sind in der Regel leider nicht untereinander verlinkt, was zum Labyrinth-Charakter der Webseite beiträgt. Abhilfe schafft die Abteilung 30 Klassiker – Essays, Porträts und Originaltexte, dort ist handlich gebündelt, was zu den jeweiligen Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Laufe der Jahre auf G&E publiziert wurde. Hier können teils umfangreiche Archiv-Konvolute durchstöbert werden, u.a. zu Walter Benjamin – Leben & Werk, zu Ernst Jünger und Marcel Proust, zu Balzac, Goethe, Shakespeare, Kafka, Hermann Hesse, Karl May, Virginia Woolf, Büchner, Tucholsky, Erich Mühsam, Max Weber und vielen anderen. Hinzu kommt (mit Überschneidungen) eine Sammlung von Nachrufen und Artikeln, die aus Anlass von Jahrestagen erschienen sind.

Ein echtes showpiece unter den Autorenfeatures ist das Peter Handke-Archiv. Es enthält „die umfangreichste Linksammlung im Netz mit 371 internationalen Pressestimmen, über 20 Rezensionen zu Leben und Werk sowie Kommentaren, Glossen & Polemiken zur ‚Causa Handke‘“ (Herbert Debes). Maßgeblichen Anteil an diesem Projekt hat ein gewisser Gregor Keuschnig, bekannt als „der Mann, der alles über Handke weiß“. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Literaturkritiker und -wissenschaftler Lothar Struck, den wir ebenfalls als rührigen G&E-Autor kennen. In seinem Blog Begleitschreiben verfolgt Struck/Keuschnig seit 2005 kontinuierlich die Arbeit des österreichischen Nobelpreisträgers. Marc Reichwein hat ihn 2010 in der WELT porträtiert: „Anti-süffisant, anti-alarmistisch, einfach angenehm nüchtern ist sein Ton, den man im Handke-Feuilleton – zumal seit seiner Forderung nach ‚Gerechtigkeit für Serbien‘ – strukturell eher vermisst. (…) Qualitativ sind Strucks Buchbesprechungen allein von ihrer Länge her die pure Anmaßung gegen die etablierten Feuilletons, in Sachen Gründlichkeit können sie es sowieso mit der Großkritik aufnehmen. (…) Dem ganzen Blog ‚Begleitschreiben‘ liegt ein beinahe provozierend altmodischer Glauben an das Leitmedium Literatur zugrunde.“ Damit ist nicht nur das „Ein-Mann-Feuilleton“ Struck/Keuschnig gut beschrieben, sondern auch ein Alleinstellungsmerkmal, das Glanz & Elend generell auszeichnet.

Die Sammel-Schublade Philosophie & Theorie, laut Herbert Debes eine der beliebtesten bei G&E, bietet über 100 Rezensionen und Porträts u.a. zu einschlägigen Koryphäen wie G.W.F. Hegel, Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Karl Marx, vertreten sind aber auch Denkerinnen und Denker der jüngeren Zeit wie Hannah Arendt, Gilles Deleuze, Klaus Theweleit, Peter Sloterdijk, Thomas Fuchs und Slavoj Žižek bis hin zu aktuellen Trendsetzern wie Markus Gabriel oder Daniel-Pascal Zorn. Lesetipp: Jürgen Nielsen-Sikora über Christoph Menkes Entwurf einer Theorie der Befreiung („ein hochanspruchsvolles, im besten Sinne philosophisches Buch, das althergebrachte Denktraditionen gegen den Strich bürstet“).

Glanz & Elend kann als ein gelungenes Beispiel dafür stehen, daß Internet-Magazine nicht das gern besungene Ende der Literaturkritik sein müssen, sondern eine sinnvolle Ergänzung zu den etablierten Strukturen, die der Literaturlandschaft neue Stimmen von Format zuführen können, welche den Literaturbetrieb stilistisch wie inhaltlich bereichern.

BuchMarkt

Manfred Etten

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