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Web-Porträt

Die Mutter aller Kultur-Plattformen

Seit 2000 bietet der Perlentaucher aktuelle Rezensionen und Empfehlungen

Anfang der 2000er Jahre erzählte mir ein immer gut informierter Filmfestivalleiter begeistert von einer Entdeckung im Internet: Perlentaucher heiße die Seite, die täglich über neue Themen und Medien informiere, über Bücher, Filme, Ausstellungen und überhaupt Kultur. Ich stellte damals fest: Er hat Recht, und das gilt bis heute. Also: Die Mutter aller Kultur-Plattformen im Internet ist in die Jahre gekommen. – Sollte man so ein freundliches Porträt des Perlentaucher beginnen? Wenn die Leser dann doch gleich mitdenken: „…und hat die besten hinter sich“?

Webdesign der 90er

Die abgenutzten Formulierungen passen immerhin ein bisschen zum altbackenen Webdesign des Perlentaucher, das man wie in den Printmedien im Jahr 2000 wohl noch „Layout“ nannte. Damals, genauer: am 15. März, hatte „das führende und unabhängige Kultur- und Literaturmagazin im deutschsprachigen Internet“, wie der Perlentaucher sich selbstbewusst vorstellt, seine Online-Premiere.

Thierry Chervel: Im Jahr 2000 Perlentaucher-Mitgründer und bis heute Geschäftsführer

Einen besseren, treffenderen Namen für ihr Projekt hätten die vier Gründer Thierry Chervel, Adam Cwientzek, Anja Seeliger und Niclas Seeliger damals nicht finden können. ‚Perlentauchen‘ beschreibt genau das, was die Redaktion und die Mitarbeiter(innen) bis heute tun: im täglichen aktuellen Kulturangebot, das schon damals für jeden einzelnen Menschen unüberschaubar war, nach wertvollen Dingen zu suchen.

Das Konzept war so einfach wie überzeugend: Die Perlentaucher lesen so früh und so schnell wie möglich, was in den Feuilletons kritisiert, vorgestellt, diskutiert wird, und präsentieren ihre Auswahl kommentiert mit Zitaten in ihren Presseschauen.

Debatten-Motor

Die Perlen können Bücher, Filme, Theateraufführungen oder Ausstellungen sein, genauso wie neue gesellschaftliche oder kulturelle Themen, Trends, Meinungen. Der Perlentaucher hat seine Fundstücke oft so aktuell pointiert zusammengefasst, zitiert und miteinander konfrontiert, dass dadurch manche Debatten in den Feuilletons der ‚großen‘ Zeitungen und Magazine erst in Gang gesetzt wurden.

FAZ und SZ gegen den Perlentaucher

Auf diesen Panoramablick über die deutsche Kulturszene, die täglichen Anregungen, Denk- und Lektüreempfehlungen wollten viele kulturinteressierte Menschen ebenso wie Medien- und Kulturarbeiter und -arbeiterinnen bald nicht mehr verzichten. Doch der wertvolle Service gefiel nicht allen: Die überregionalen Zeitungen, die sich wie die Süddeutsche Zeitung (ab 1995) und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (ab 2001) online neu zu (er)finden versuchten, sahen im Perlentaucher einen illegitim schmarotzenden publizistischen Mitbewerber, der sich ungeniert an den stilistisch hochwertigen Hervorbringungen ihrer ‚Edelfedern‘ bediente und – angeblich – ihre im Aufbau befindlichen Geschäftsmodelle gefährdete.

Durch den Weiterverkauf von Zusammenfassungen aus den Feuilletons an Online-Buchhändler Amazon und buecher.de würde der Perlentaucher ihre Urheberrechte verletzen, klagten SZ und FAZ und starteten 2006 einen Rechtsstreit, der durch alle Instanzen ausgefochten wurde. Endergebnis nach sechs Jahren: Für einige Kritiken mit allzu ausführlichen Zitaten wurde der Perlentaucher verurteilt, aber grundsätzlich erklärte die Justiz die Zusammenfassungen von Rezensionen und deren gewerbliche Nutzung für zulässig.

Stimmen aus ganz Europa

Obwohl finanziell gebeutelt durch die Gerichtsverfahren, ließen sich die Perlentaucher um Thierry Chervel nicht von ihrem Kurs abbringen, sondern realisierten weitere Ideen: 2005 (bis 2008) beteiligte sich Perlentaucher an der Presseschau der Seite Eurotopics, einem Webangebot der Bundeszentrale für politische Bildung und gründete im selben Jahr eine englischsprachige Schwesterseite. signandsight.com bot Übersetzungen wichtiger Artikel von nicht-englischen Autoren für eine weltweite Leserschaft. Zum Fünf-Jahre-Jubiläum versammelte die Seite zu vielfältigen Themen Stimmen aus ganz Europa, mit dem Ziel, Debatten zu fördern und eine europäische Öffentlichkeit herzustellen.

Gefördert wurde das Projekt von der Kulturstiftung des Bundes. Schon vor dem Start nahm das die FAZ zum Anlass, Thierry Chervel bissig und irreführend vorzuwerfen, er habe die damalige Kulturstaatsministerin Christina Weiss persönlich zu der Subvention für das publizistische Europaprojekt des Perlentaucher überredet. Leider musste die Seite trotz regelmäßiger Spenden von Jakob Augstein aus finanziellen Gründen nach sechs Jahren eingestellt werden. Die Texte von signandsight.com stehen aber noch alle online.

Sammelplattform für Autoren-Blogs

Doch wie geht es dem Perlentaucher heute? – Obwohl Thierry Chervel mit seinem Unternehmen im Lauf von bald 25 Jahren wohl keine Reichtümer aufhäufen konnte, offenbar nicht schlecht: Seit einigen Jahren hat der Perlentaucher mit eichendorff21 einen eigenen Online-Buchladen. Perlentaucher bietet acht verschiedene Presseschauen und Newsletter an und betreibt parallel auf einer eigenen Webseite mit lit21 eine Art öffentlichen RSS-Reader, eine Sammelplattform für literarische Autoren-Blogs. „Einzeln sind diese Inhalte isoliert und verloren in den Weiten des weltweiten Netzes. Gebündelt bringen sie einen intensiven Strom literarisch interessanter neuer Inhalte.“ (Thierry Chervel)

Und das altmodische Webdesign des Perlentaucher? – Könnte man ändern, aber warum? Am wichtigsten sind ja die journalistischen Beiträge dahinter und deren Qualität. Und vielleicht will Thierry Chervel das Geld für ein neues Design sparen, weil er weiß, dass beim Retroeffekt die Zeit für ihn arbeitet.

Achim Forst

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