Festival-Bericht
Sich treu geblieben
Das 73. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg
Von Achim Forst
Nach Corona und einem Leitungswechsel konnte das 73. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg mit einem außergewöhnlich starken Wettbewerbsprogramm zum ersten Mal richtig an die eigene große Tradition anknüpfen: die Entdeckung von neuen Regie-Talenten.
„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu‟ – An diesen Spruch dachte ich beim 73. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg, im persönlichen Rückblick auf über 40 Jahre Festivalgeschichte. Dass der Satz nicht, wie ich glaubte, nur ein ungewöhnliches Sprichwort ist, sondern der Titel eines autobiografischen Lieds des deutschen Polit-Barden Wolf Biermann, passt gut zum zweitältesten deutschen Filmfestival.
Denn nach der Anfangsphase als brave Kultur- und Dokumentarfilmwoche war Mannheim in den 1960er und 70er Jahren Plattform und Schauplatz für ein junges internationales Kino, das ästhetisch Genres und Erzählweisen und politisch Herrschaftsstrukturen in Frage stellte. Legendär die Anekdote, derzufolge auf der Mannheimer Filmwoche 1970 vom revolutionären Publikum basisdemokratisch entschieden wurde, die Filmemacher Jean-Marie Straub und Danièle Huillet sollten doch das Preisgeld für ihren Film Othon nach Vietnam schicken, um damit Fahrräder für die nordvietnamesischen Vietcong zu kaufen.
Fokus auf Debüts
Lange bevor Saarbrücken und Hof gegründet wurden und nachzogen, war Mannheim mit seinem Fokus auf Spielfilmedebüts das deutsche Festival für internationale Newcomer auf dem Weg nach ganz oben: Rainer Werner Fassbinder, François Truffaut, Wim Wenders und Jim Jarmusch gewannen hier ihre ersten Festivalpreise, später Lars von Trier, Atom Egoyan und viele andere. 1993, als das Festival aus finanziellen Gründen am Abgrund stand, rettete es der damalige Leiter Michael Kötz, indem er die Nachbarstadt Heidelberg mit ins Boot holte.
Im Lauf seiner Geschichte hat das Festival einige Aufs und Abs erlebt, unter anderem wegen der Konkurrenz durch immer mehr Festivals deutschland- und weltweit. Es gab Symposien mit Filmemacherinnen und Filmemachern aus jungen Filmländern, über Gesellschaft, Politik und Philosophie sowie Film- und Produktionsmärkte, die wieder aufgegeben wurden, und natürlich zahlreiche Retrospektiven.
In der Festival-DNA: Lust auf Neues
Was bei all den Veränderungen in Mannheim und Heidelberg aber immer blieb, war die Neugier auf Neues, auf neue, auch radikale, verstörende filmische Stile und Formen. Und es blieb die Gastfreundschaft und Sympathie der Festivalmacher(innen) für die Autor(inn)en der eingeladenen Filme und deren Begeisterung und Dankbarkeit, selbst wenn sie nicht mit einem Preis nach Hause fahren konnten.
Verändern, um sich treu zu bleiben: Der für 2020 neu berufene Festivalchef Sascha Keilholz und sein Team mussten die Herausforderung des Biermann-Titels unter äußerst schwierigen Bedingungen annehmen – am Beginn der Corona-Pandemie und ohne Übergabe und Unterstützung durch die bisherige Festivalleitung. Keilholz veränderte und strich, wo es angebracht erschien, aber mit klarem Blick auf die Traditionen und die DNA des Festivals. Im Wettbewerb On the Rise werden weiterhin die ersten und zweiten Spielfilme internationaler Newcomer gefördert, und schon der Name der Sektion Pushing the Boundaries zeigt, dass es in Mannheim und Heidelberg noch immer um die Offenheit und die Aufmerksamkeit für das Neue im Weltkino geht.
On the Rise 2024: ein ausgezeichneter Jahrgang
Jeder, der schon einmal mit Filmauswahl zu tun hatte, weiß: Das Endergebnis hängt nicht nur von Fachkenntnis, Glück und Verhandlungsgeschick ab, sondern immer auch vom Angebot auf dem Weltmarkt. Bei der 2024er Ausgabe des Mannheim-Heidelberger Festivals haben offenbar alle diese Faktoren perfekt zusammengepasst: On the Rise hatte ein außergewöhnlich hohes Niveau, dazu ein Genre- und Stilspektrum, wie man es sich als Programmgestalter vielfältiger kaum wünschen kann. Und das bei einer geringeren Anzahl der Herkunftsländer, weil neben den USA (3 Beiträge) drei Länder mit Filmpaaren vertreten waren: Aus Marokko kamen ein queerer Autorenfilm (Cabo Negro) und das episch erzählte emotionale Flüchtlingsdrama Across the Sea, das den Publikumspreis gewann. Die beiden georgischen Filme: eine etwas flache folkloristische Loser-Komödie (Holy Electricity) und Panopticon, ein starkes Coming-of-Age-Drama über einen jungen Mann, den der Widerspruch zwischen seinen erwachenden erotischen Gefühlen und seinem vom halb abwesenden Vater geprägten streng katholischen Glauben fast zerreißt.
Das ebenso interessante und berührende Gegenstück dazu war einer der beiden indischen Beiträge: Auch in dem quasi-militärisch in englischer Tradition organisierten Internat des Films Girls Will Be Girls dreht sich alles um religiös begründete Regeln und Verbote. Die Musterschülerin Mira übernimmt hier mit Stolz eine Führungsrolle. Bis ein charmanter Mitschüler und Diplomatensohn nicht nur ihre Moralvorstellungen, sondern sogar die Beziehung zu ihrer geliebten Mutter ins Wanken bringt.
Eine Polizistin in Indien
Santosh, eine 28-jährige Frau, die nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes plötzlich vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens steht, ist die Protagonistin des gleichnamigen zweiten indischen Beitrags – für mich der herausragende Film im Wettbewerb des IFFMH 2024.
Ein wohlmeinender Beamter teilt der mittellosen Witwe mit, dass sie zwar keine Rente bekommen werde, aber nach einem neuen Gesetz in den Staatsdienst einsteigen und die Stelle ihres verstorbenen Mannes ‚erbenˋ könne. So wird aus Santosh über Nacht eine Polizistin, und wir Zuschauer machen zusammen mit ihr all die widersprüchlichen Erfahrungen, die dieser Job für eine Frau im heutigen Indien bereithält.
Die britisch-indische Regisseurin Sandhya Suri entwickelt in Santosh aus diesem Plot eine ganz besondere Genre-Mischung: Das manchmal sehr intime feministische Emanzipationsdrama wird zu einem hochspannenden Thriller, in dem sich viele dunkle Facetten der indischen Gesellschaft spiegeln: Herabwürdigung von Frauen, die Willkür des Polizeiapparats, das zutiefst ungerechte Kastensystem und der Rassenhass der Hindus gegen die muslimische Minderheit.
Am Anfang lernt Santosh die positiven Seiten kennen – den ängstlichen Respekt der Leute auf der Straße, den ihr die gelbe Uniform verschafft, wie auch das süße Gift der kleinen Korruption. Doch die Anerkennung der männlichen Kollegen bekommt sie erst einmal nicht. Für die muss man kämpfen, wie es die erfahrene Kollegin Sharma getan hat, die Santosh nach anfänglicher Ablehnung unter ihre Fittiche nimmt. Die scharfsinnige Santosh beobachtet genau und lernt schnell. So kommt sie dem mutmaßlichen Mörder eines Mädchens auf die Spur. Doch am Ende muss Santosh erkennen, dass sie selbst Bestandteil eines verbrecherischen Systems geworden ist.
Sandhya Suris Santosh, der dieses Jahr in Cannes Premiere hatte und mit deutscher Beteiligung produziert wurde (ZDF/ARTE), wurde von Großbritannien als Kandidat für den Auslands-Oscar nominiert.
Die Stärke der Auflehnung
Der brasilianische Spielfilm Manas von Marianna Brennand bekam zwei Preise, den mit 30.000 Euro dotierten International Newcomer Award für den besten Film im Wettbewerb sowie den Student Award (5.000 €) der Jungen Jury. Wegen ihres Themas – der weit verbreitete und totgeschwiegene Missbrauch junger Mädchen in der Familie – musste die Dokumentarfilmregisseurin die Gattung wechseln und ihren ersten Spielfilm drehen. Denn reale Zeugenaussagen von Mädchen vor ihrer Kamera, so Brennand, hätten das Leid der Opfer nur noch verstärkt.
So erzählt sie in Manas die fiktive, aber tausendfach wirkliche Geschichte des Mädchens Marcielle, die mit ihren Eltern und Geschwistern am Rand der Zivilisation im brasilianischen Dschungel lebt. Ein Leben in Armut, aber in einer liebevollen Familie, mit Schulbildung und einer Freundin. Erst allmählich erkennen wir, wohin die besondere Zuwendung des Vaters zu seiner Tochter führt.
Marianna Brennand erzählt in einem halbdokumentarischen Stil, sensibel und mit viel Sympathie für ihre Protagonisten, wie die folgsame Marcielle sich zu wehren beginnt und – während ihre Mutter schweigt – gegen den Missbrauch durch den übermächtigen Vater aufbegehrt.
Die Geschichte geht nicht gut aus. Doch indem sie die Stärke und das wachsende Selbstbewusstsein ihrer Protagonistin hervorhebt, vermittelt die Regisseurin den Mädchen in Brasilien und anderswo das Gefühl, vielleicht sogar die Gewissheit: Es lohnt und es ist richtig, sich zu wehren.
Tragödie mit Schafen
Ein Brite mit irischen Wurzeln drehte den bild- und emotionsstarken Spielfilm Bring Them Down, der den FIPRESCI-Preis gewann. Christopher Andrewsˋ Film ist ein blutiges archaisches Drama über den Kampf zweier unheilvoll miteinander verbundener Schafzüchterfamilien. Weil der Regisseur und Co-Autor seine Geschichte fragmentiert und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, erkennt der Zuschauer erst nach und nach, dass er einem Geschehen nach Art einer antiken Tragödie folgt. Zum Glück bleibt am Ende noch Raum für ein bisschen Hoffnung.
Bound in Heaven, der chinesische Beitrag im Wettbewerb, ist eine Art zeitgenössisches Remake von Love Story, kombiniert mit dem Thema von Pretty Woman, nur mit vertauschten Rollen. Weil sie unbedingt in das Popkonzert eines Superstars will, kommt die wohlsituierte, verlobte Businessfrau Xia Yo in engen Kontakt mit dem einfachen Straßenverkäufer Xu Zitai und verbringt eine leidenschaftliche Nacht mit ihm. Doch ihre unkonventionelle Liebesgeschichte hat einen begrenzten Horizont, weil Xu Zitai unheilbar krank ist.
Die erfolgreiche Drehbuchautorin Huo Xin beweist in ihrem ersten Film als Regisseurin, dass sie selbst und das ganze chinesische Kino inzwischen genauso universell, professionell und wirkungsvoll wie Hollywood ganz großes Gefühlskino produzieren können. Dafür wurde sie mit dem Preis der Ökumenischen Jury (2.500 €) ausgezeichnet.
Psychothriller im Retro-Look
Zwei weitere Filme von On the Rise, die mehr als nur eine Erwähnung verdient haben: Das Spielfilmdebüt Gazer ist ein von den Autoren selbst finanzierter kleiner Neo-Noir aus den USA. Gedreht wurde er – auf 16mm – von dem autodidaktischen Filmemacher und gelernten Elektriker Ryan J. Sloan und seiner Drehbuchpartnerin und Hauptdarstellerin Ariella Mastroianni – und bekam dann Einladungen zu sechs internationalen Filmfestivals, darunter in die Quinzaine in Cannes.
Mastroianni, nur weitläufig, aber doch verwandt mit den prominenten Schauspielern Chiara und dem unsterblichen Marcello, spielt mit schönem Understatement Frankie, eine Frau mit einer seltenen Krankheit, die es ihr schwer macht, sich auf ihre Umwelt zu konzentrieren. Mit selbst aufgenommenen Audiocassetten kämpft sie dagegen an. Und als sie eines Abends Zeugin einer Gewalttat wird, muss Frankie sogar als Ermittlerin in eigener Sache tätig werden.
Der atmosphärische Psychothriller im Retro-Look spielt in der Gegenwart, mit Zitaten aus Klassikern wie Hitchcocks Rear Window und Vertigo deuten die beiden talentierten Newcomer aus New Jersey aber weit zurück in die Geschichte des Kinos, ohne dabei die Originalität ihrer Story zu verlieren.
Stimmungsvolles Korsika
Anspruchsvolles Mainstream-Kino mit einem besonderen Debüt bot dagegen der französische Spielfilm The Kingdom, ein stimmungsvoller, authentisch wirkender Mafia-Thriller, der auf der Insel Korsika spielt, wo der erfolgreiche Kurzfilmregisseur Julien Colonna aufgewachsen ist.
So wie er, handwerklich überaus solide, den Genre-Plot erzählt und mit einer vielschichtigen Tochter-Vater-Beziehung verknüpft, wird Colonna bestimmt eine Karriere in der Filmindustrie machen. Herausragend schon, wie er seine junge Protagonistin inszeniert, aber atemberaubend ist, was die Laiendarstellerin Ghjuvanna Benedetti daraus macht. Im Film entwickelt sie sich als Lesia, Tochter eines Mafiabosses, von einer scheu beobachtenden Jugendlichen zur aufmerksamen Vertrauten des Vaters, die schließlich selbst zur Waffe greift. Im wirklichen Leben absolviert die 22-jährige Korsin Ghjuvanna, wie die französische Vanity Fair berichtet, gerade ihr erstes Jahr der Krankenpflegeschule in Bastia und ist Freiwillige bei der Feuerwehr. Benedettis Schauspieldebüt wird wohl bald auf der Plattform des Co-Produzenten Netflix zu sehen sein.
Vergessen mit guten Menschen
Eine Choreografin dreht ihren Debütfilm über eine alte Dame, die in die Demenz abgerutscht ist – ein Projekt, das leicht schiefgehen könnte. Doch die US-Regisseurin Sarah Friedland erzählt in Familiar Touch die Geschichte von Ruth so einfach und überzeugend, in klaren, sorgfältig gestalteten Einstellungen (hervorragend hinter der Kamera: Gabe C. Elder), dass es nie peinlich wird, außer in den Momenten, in denen auch das wirkliche Leben peinlich wird. Zum Beispiel für Ruths Sohn, der seine Mutter möglichst schnell und konfliktfrei in die gehobene Seniorenresidenz einliefern will.
Aber weder er noch die anderen Menschen in diesem Film, Pflegekräfte und Heimbewohner, werden als schuldig oder ihr Verhalten als fragwürdig denunziert: Alle behalten ihre Würde.
Wenn wir dann Ruth, die feine alte Dame mit den exzellenten Manieren, dabei begleiten, wie sie versucht, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden, erleben wir traurige wie auch komische Szenen. Manchmal blitzt in Ruth die erschütternde Erkenntnis ihrer Situation auf, aber mit ihr spüren wir auch die Gewissheit, dass die Menschen um sie herum es gut mit ihr meinen.
Ein Moment Festivalgeschichte
Als bei der Preisverleihung Familiar Touch sehr verdient den Rainer Werner Fassbinder Award für das beste Drehbuch (15.000 Euro) erhielt, wurde auf der Bühne die Vergangenheit des Festivals und ein Stück Filmgeschichte lebendig: Denn den Preis übergab im Namen der Fassbinder Foundation als Stifterindie geborene Mannheimerin Juliane Maria Lorenz, die – meist zusammen mit ihm – viele wichtige Filme Rainer Werner Fassbinders geschnitten hat. Noch acht Monate vor dessen Tod hatte sie Fassbinder im Oktober 1981 nach Mannheim begleitet, um im Rahmen des 30-Jahre-Jubiläums als Uraufführung ihren gerade fertiggestellten Dokumentarfilm Theater in Trance zu zeigen, zusammen mit Fassbinders Debütspielfilm Katzelmacher, der auf der Mannheimer Filmwoche 1969 den Interfilm-Preis gewonnen hatte.
Bildnachweis
© Szenenfotos – film stills
Bound in Heaven: Such a Good Film
Bring Them Down: MUBI, Patrick Redmond
Familiar Touch: Armchair Poetics LLC
Gazer: Telstar Films
Girls Will Be Girls: PLANTA
The Kingdom: CHI-FOU-MI PRODUCTIONS
Manas: Bendita Film Sales
Panopticon: Steps Productions
Santosh: Taha Ahmad
FIPRESCI-Preisverleihung: © Internationales Filmfestival Manneim-Heidelberg, Sönke_Dannemann