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Bulat Okudschawa (1924 – 1997)

Trolleybus, Pappsoldat und erste Liebe – Himmelblau

Glanz und Elend eines Liedermachers oder:

Bulat Okudschawas russische Lieder für Menschlichkeit und gegen den Krieg

von Barbara Gegenwind

Bulat Okudschawa (1924 – 1997), Dichter und Sänger, Romancier, sowjetischer Chansonier und Begründer der Gitarrenlyrik, dessen Eltern aus dem Kaukasus stammten, betrachtete sich Zeit seines Lebens als russischen Schriftsteller. Seine pazifistische Lyrik wurde in vielen Versionen ins Deutsche übersetzt, unter anderem von Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Kurt Demmler und Ekkehard Maaß. Zu seinem 100. Geburtstag werden die Antikriegs-Chansons und Liebeslieder von Bulat Okudschawa neu vorgestellt.

Am 9. Mai 2024 jährte sich der Geburtstag des in Moskau geborenen, georgisch-armenischen Dichters und Sängers Bulat Okudschawa zum 100sten Mal. Nicht nur in der Sowjetunion beliebt und geschätzt ob seiner lyrischen Antikriegs-Chansons und seiner melancholisch besungenen Liebe zu Moskaus altem Stadtzentrum, dem Arbat, wurde Okudschawa in den späten 1970er Jahren auch im Ausland bekannt.

Kurz nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR im Herbst 1976 gab er ein erstes Konzert im Palast der Republik im Osten Berlins. Aus diesem politisch heiklen Herbst der DDR, als viele Intellektuelle das Land aus Solidarität mit Wolf Biermann verließen, stammt Okudschawas bis zu seinem Tod 1997 in Paris währende freundschaftliche Verbindung zu dem angehenden Ostberliner Bürgerrechtler, Übersetzer und Sänger Ekkehard Maaß.

Bulat Okudschawa im Palast der Republik, Berlin 1976

Maaß gründete damals einen bis heute aktiven und vielbesuchten Literarischen Salon in seiner Privatwohnung im Prenzlauer Berg, der bis zum Ende der DDR staatsfernen und oppositionellen Künstlern, SchriftstellerInnen und Sängern eine gefragte inoffizielle Bühne bot. Im März 1982 trat auch Okudschawa erstmals in Maaß‘ kleinem, mit Künstler-Originalen und anderen haptischen Erinnerungsstücken zahlreicher Kaukasusreisen bestückten Wohnzimmer auf. Maaß hatte schon in den Jahren zuvor viele der beliebtesten Lieder und Gedichte des sowjetischen Barden ins Deutsche übertragen und, dem Vorbild seines Freundes Wolf Biermann folgend, sich dazu singend auf der Gitarre begleitet.

Ach, die erste Liebe –
macht das Herz mächtig schwach,
Und die zweite Liebe –
weint der ersten nur nach,
Doch die dritte Liebe –
schnell den Koffer gepackt,
schnell den Mantel gesackt,
und das Herz splitternackt.

Ach, der erste Krieg –
da ist keiner schuld,
Und beim zweiten Krieg –
da hat einer schuld,
Doch der dritte Krieg –
ist schon meine Schuld
ist ja meine Schuld,
meine Mordsgeduld.

Ach, der erste Verrat –
kann aus Schwäche geschehn,
Und der zweite Verrat –
will schon Orden sehn,
Doch beim dritten Verrat –
mußt du morden gehn,
selber morden gehn –
und das ist geschehn!

Ach, die erste Liebe –
macht das Herz mächtig schwach…

(Übersetzung: Wolf Biermann)

Der Name des Dichters und Chansoniers Bulat Okudschawa mag heute in Deutschland kaum mehr geläufig sein. Okudschawa, Sohn eines Georgiers und einer Armenierin, ein gutgewachsener, dunkeläugiger Kaukasier, war ein typischer Spross der Sowjetzeit. Rein russischsprachig sozialisiert, wuchs er als Sohn hoher KPdSU-Parteifunktionäre zunächst im vornehmen historischen Zentrum Moskaus direkt am Arbat auf. Als beide Eltern zur Zeit von Stalins großem Terror 1937 als Volksfeinde verhaftet, der Vater erschossen wurde, verlor der junge Okudschawa über Nacht sämtliche familiäre Privilegien.

Die Kinder der Volksfeinde

Dieses Schicksal, als Kind angeblicher Volksfeinde diskriminiert und plötzlich mittellos zu sein, teilte der bei Verwandten als Waise untergekommene Okudschawa mit anderen, später ebenfalls prominenten Sowjet-Intellektuellen seiner Generation. Auch der kirgisische Schriftsteller Tschingis Ajtmatow und die georgische Regisseurin Lana Gogoberidse hatten in ihrer Kindheit und Jugend das gleiche Los zu bewältigen. Dieser tragisch harte Bruch im frühen Leben befähigte und beflügelte sie später zu künstlerischer Durchdringung und emotionaler Tiefe. In lyrische Verse gefasste, vordergründig politisch unverfängliche Lebenserfahrung war für nach Seelennahrung gierende, mit sozialistisch-realistischer Einheitskost abgespeiste Ohren Labsal in trüben politischen Zeiten und zog Hunderttausende, ja Millionen in ihren Bann. Mit dem Aufkommen von Tonbandgeräten konnte Musik auch in der Sowjetunion seit den 1970er Jahren privat vervielfältigt werden. Im sogenannten Magnitisdat wurden Okudschawas Songs ungehindert von der Staatsmacht und unkorrigiert von der Zensur dupliziert und populär, obwohl sie weder im Staatsfernsehen noch im Radio gespielt wurden.

Was tu ich in Moskau, wenn ich traurig bin,
wenn Verzweiflung mir nachrennt im Dunkel?
Ich geh durch den Regen zum Trolleybus hin,
dem letzten, dem blauen.

Er schaukelt mit mir durch ein Meer von Beton
und wirft am Boulevard seinen Anker;
er nimmt jeden auf, bezahlt mit ’nem Bon
den Kummer, den Kummer.

Die Türen im Trolleybus schließen ganz dicht,
versperrn sich vor Nacht und Kälte.
Leis schnurrt der Motor; ich seh ein Gesicht
und bin nicht mehr einsam.

Ich stehe ja Schulter an Schulter an Bord
mit Matrosen, Liebenden, Alten.
Mein Herz ist ein Schlagzeug, es stützt den Akkord
im Chorus, im Schweigen.

Zu Mitternacht schwimm, blauer Bus, deinen Kreis!
wird’s hell, gleich verläuft sich das Wasser,
und Vogel Schmerz aus der Schläfe ist leis
verflogen, verflogen.


(Übersetzung: Sarah Kirsch)

Wohl auch deshalb wurde Okudschawas russisches Idiom in der DDR und anderen Staaten des früheren Ostblocks häufig und gekonnt in die Landessprachen übersetzt und schnell sehr beliebt, so beliebt, dass selbst Angela Merkel am Lagerfeuer in Masuren die Begeisterung für Okudschawa-Songs zu teilen lernte, wie die Süddeutsche Zeitung 2007 kolportierte. Inspiriert von den unterschwellig spürbaren Widerstandsgedanken in den Liedern des Kaukasiers, soll die Physikerin ihren Weg in die Politik gesucht haben.

Bulat Okudschawa

Mein Jahrhundert.

Lieder und Gedichte

hrsg. von Ekkehard Maaß, mit einem Vorwort von Wolf Biermann

Berlin: Lukas Verlag, 2024
140 Seiten
€ 20,00

Das zum 100. Geburtstag des Sängers vom Berliner Lukas Verlag publizierte schmale, himmelblaue Bändchen präsentiert eine kleine Auswahl der 50 bekanntesten Lieder Okudschawas. Herausgeber Ekkehard Maaß kommentiert den politischen Kontext persönlich in 20 Fußnoten-Anmerkungen und einem Nachwort. Wolf Biermann schildert in seinem launigen Vorwort die erste Begegnung mit Okudschawa anlässlich eines frühen Moskau-Besuchs zu Beginn der 1960er Jahre. Das zweisprachig auf Russisch und Deutsch gestaltete Büchlein, sorgfältig illustriert mit eindrucksvollen Schwarzweiß-Grafiken von Moritz Götze und ergänzt mit gut ausgewählten, ganzseitigen Schwarzweiß-Fotos, ist für Nichtkenner des Sängers und Dichters ein wichtiger erster Zugang zu Okudschawas melancholischer Gitarrenlyrik.

Wer dank der liebevollen Auswahl und Aufmachung des Büchleins Appetit bekommen hat, sollte unbedingt eines der zahlreichen Ton- und Konzertbeispiele auf YouTube anschauen beziehungsweise anhören. In den Aufzeichnungen offenbart sich der gesamte Charme und die Tiefe von Okudschawas Gesang.

Die Musik von Bulat Okudschawa im Netz

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Video: Bulat Okudschawas Antikriegs-Chanson Papiersoldat

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Video: Okudschawa-Konzert in Tokio, Japan, im Oktober 1989

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Video: Okudschawa-Konzert in Brno, Tschechien, im Oktober 1995

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Video: Bulat Okudschawa – Meine Sammlung (Булат Окуджава – Мой сборник) – 74 Minuten Songs von seinen Schallplatten, begleitet von Okudschawa-Fotos

Begonnen hatte seine beispiellose Karriere 1960, da war er gerade 26, in einer Moskauer Privatwohnung. Lyrische Lieder zur Gitarre vorzutragen, war damals noch verpönt, weil nicht heroisch und staatstragend genug. Das Singen zur Gitarre wurde dem in der Sowjetunion verfemten sogenannten Zigeunermilieu zugeschrieben und deshalb von der Öffentlichkeit verachtet, wie die Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Katja Lebedewa in ihrem aufschlussreichen Nachwort erläutert. Ihr kurzer Essay ist ein gelungenes Entree zu Okudschawas breitgefächertem Lebenswerk als Dichter, Sänger, Redakteur bei der Moskauer Literaturnaja Gazeta, Romancier und Drehbuchautor. Viele seiner Songs wurden auch durch populäre sowjetische Kinofilme bekannt.

Den Beginn der Perestrojka nutzte Okudschawa zu dezidiertem öffentlichem politischen Engagement. Im Sowjetischen Schriftstellerverband gründete er eine Gruppe „Zur Unterstützung der Perestrojka“. Im Vorstand der von Putin Ende 2021 verbotenen Gesellschaft Memorial engagierte er sich für die Opfer des Stalinismus, insbesondere für den Nachlass repressierter Autoren.

Reise in die Erinnerung

Schon Ende der 1970er Jahre hatte sich Okudschawa immer mehr von öffentlichen Auftritten mit Gitarrenlyrik zurückgezogen, um sich der Aufarbeitung historischer Stoffe zu widmen. Auf der Suche nach der Wahrheit in der russischen Geschichte schrieb er mehrere erfolgreiche historische Romane, die auf geistreiche und unterhaltsame Art Lügen und Intrigen im Russland des 19.Jahrhunderts geißeln. Das Schreiben von Prosa empfand Okudschawa als seine eigentliche Berufung. Mit treffsicherem Galgenhumor schilderte er in seinem großartigen Roman Reise in die Erinnerung. Glanz und Elend eines Liedermachers unter Pseudonym seine eigene Lebensgeschichte zwischen Ost und West, zwischen Sowjetregime und Exilrussen im Paris der 1990er Jahre.

Zur Gorbatschow-Zeit erlebten Okudschawas Lieder auch in der DDR einen Hype, denn einem nie ganz verbotenen Staatskünstler der Sowjetunion, auch wenn seine Inhalte nicht genehm waren, konnten sich die Behörden nicht verweigern. Mittels seiner Mitgliedschaft in der KPdSU gelang es Okudschawa, Auslandsreisen zu unternehmen und Kontakte zu russischsprachigen Emigrantenkreisen zu knüpfen, sodass seine Bücher und Platten gleichzeitig auch im Westen verlegt wurde – ein schwieriger Balanceakt bis zum Ende seines Lebens.

Seit Okudschawas Tod ist keine Neuauflage seiner zeitlosen Lyrik mehr bei uns erschienen. Im Scheinwerferlicht von Russlands Großkrieg gegen die Ukraine sind seine Lieder einer aktuellen Aufmerksamkeit wert. Okudschawa, der sich als Jugendlicher freiwillig in den Reißwolf des Großen Vaterländischen Kriegs gegen Hitlerdeutschland begeben hatte und nur aufgrund einer Verwundung heraus- und davonkam, sang Zeit seines Lebens gegen den Krieg an. Würden seine eingängigen, in die Seele dringenden Antikriegs-Verse von russischen Soldaten auf ihren Smartphones gehört, könnte ihre einfache und direkte Menschlichkeit als mächtige emotionale Waffe gegen die ideologische Indoktrinierung des Putin-Regimes wirken.

Barbara Gegenwind
Seit ihrer Jugend Menschen und Entwicklungen hinter dem Eisernen Vorhang persönlich, dann beruflich verbunden.  Zahlreiche Reisen und Aufenthalte in den heutigen Post-Ost-Staaten und in Russland. Zeithistorikerin, Übersetzerin und Autorin.

Bildnachweise

Bulat Okudschawa (1924 -1997): © IMAGO/ITAR-TASS/Juri Belinski

Bulat Okudschawa im Palast der Republik, Berlin 1976: © Bundesarchiv, Bild 183-R1202-0019 / Reiche, Hartmut / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons

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