Streaming-Tipp
„die komplexen und nichtlinearen Systeme, die wir sind…“
Andres Veiels früher Dokumentarfilm Die Überlebenden
von Manfred Etten
Der vielfach preisgekrönte Dokumentarfilmer Andres Veiel sorgt derzeit mit seinem neuesten Film Riefenstahl für Aufsehen in den deutschen Kinos. Doch schon vor 28 Jahren lieferte er mit Die Überlebenden ein eindrucksvolles Beispiel seiner Kunst. Der Film ist jetzt wieder zu sehen auf dem Streaming-Portal der Deutschen Kinemathek als Teil des aktuellen Programms Selects #10: Community.
Ein Schatten liegt über dem Klassentreffen. Den Schulfreunden von einst, die sich 15 Jahre nach dem Abitur zu einer reunion zusammengefunden haben, ist nach Feiern anscheinend nicht wirklich zumute. Eine seltsame Stimmung herrscht im Grünen Zimmer des Stuttgarter Schlosses Solitude an diesem Abend im Mai 1994, eine Mischung aus Erregung und Beklommenheit. Wir blicken in nachdenkliche, betretene Gesichter, am Nebentisch wird lautstark und fast wütend diskutiert. Die Mittdreißiger werden von irgendetwas heftig umgetrieben. Dann steht einer auf, klopft mit dem Löffel an die Wasserflasche und hält eine knappe Rede. „Ihr wisst, dass wir heut nicht vollzählig sind. Es fehlen drei, die in unserer Gemeinschaft nie mehr sein werden. Es sind der Thilo, der Rudi und der Tilman. Und ihr wisst, dass die drei sich das Leben genommen haben.“ Und dann, in robustem Schwäbisch: „I fänd’s schad, wenn wir die einfach vergesset.“
Der Dokumentarfilmregisseur Andres Veiel wirft uns in der lakonischen pre title sequence seines Films Die Überlebenden unvermittelt in ein Szenario, an dem er selber teilhat. Er ist mitbetroffen, Thilo, Rudi und Tilman waren auch seine Klassenkameraden. Ihr Tod lässt auch ihm keine Ruhe. Und ist es nicht so, dass auch die Toten keine Ruhe finden, bis jemand kommt und ihre Geschichte erzählt? Veiel übernimmt diesen Job, der – wie sich zeigen wird – kein leichter ist.
Auf der Suche nach der angemessenen Redeweise
„I fänd’s schad, wenn wir die einfach vergesset“: Der Satz aus der Exposition hängt dabei wie ein schräges Motto über dem Folgenden. Die zackige Formulierung lässt auf Gefühle schließen, die man sich wenigstens verbal ein Stück weit vom Leibe halten möchte, damit sie einem nicht zu nahe gehen. So machen es erwachsene Menschen, die mitten im Leben stehen. Eine zutiefst menschliche Reaktion, der wir später öfters wieder begegnen werden – in den Aussagen der Eltern, Geschwister, Freundinnen und Freunde der drei Toten. Wir werden im Film keine einzige Träne fließen sehen.
Der Satz hört sich aber auch so an, als stünde dem Klassensprecher gar nicht die Redeweise zur Verfügung, die der Sache angemessen wäre. Denn hier geht es ja immerhin und buchstäblich um Leben und Tod, um die ersten und letzten Dinge. Aber was wäre dafür die angemessene Redeweise? Veiel geht nicht nur auf die Suche nach Thilo, Rudi und Tilman, er sucht gewissermaßen auch nach dieser Redeweise, nach einer Form, die fassen könnte, was den Überlebenden (zu denen er selber zählt) so unfasslich scheint. Was auch heißt, dass er gar nicht genau wissen kann, was er denn sucht, bevor er es gefunden hat. Wenn überhaupt.
Als Aufhänger dient, noch ganz lehrbuchmäßig, ein schwarzweißes Klassenfoto aus dem Jahr 1977, das Veiel damals selbst aufgenommen hat und das die Kamera jetzt wie mit einer Lupe stückweise abtastet. Auch die daraus sich ergebende klare und klassische Gliederung (drei Protagonisten, drei Leben, drei Tode, drei Kapitel von jeweils einer knappen halben Stunde) erweckt den Eindruck, dass hier eine Instanz am Werk ist, die für Ordnung sorgt, die disparaten Teile miteinander verknüpft, die Beziehungen entwirrt, die Lücken füllt und Schritt für Schritt die bisher verborgene Logik des Ganzen zum Vorschein bringt. So machen es die handelsüblichen investigativen Dokus, so dürfen wir es auch hier erwarten. Aber der Eindruck täuscht, der Film geht seinen eigenen Weg.
Irritierend ist allein schon, dass er uns jegliche Zusatz- oder Hintergrundinformation verweigert – keine erläuternden Inserts, kein Fußtitel, kein Off-Kommentar sagt uns, wer da gerade spricht und wo wir uns gerade befinden. So bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Wissbegier einstweilen stillzustellen und uns einzulassen auf das, was im jeweiligen Moment zu sehen und zu hören ist. Und nach dem nächsten Schnitt, beim nachfolgenden Fragment, stehen wir wieder vor derselben Aufgabe. Jede Szene wirft Fragen auf, aber bevor diese auch nur ansatzweise beantwortet sind, steht schon die nächste Frage im Raum. Es ist, als ließe sich Veiel von seinem Material eher passiv leiten und treiben, anstatt ihm aktiv und von außen eine vorgefertigte Dramaturgie und die darin versteckten Sinnstrukturen aufzwingen zu wollen.
Brauchbare Aha-Erlebnisse werden von dieser Inszenierungsform nicht sofort und nicht automatisch mitgeliefert. Das ist für uns, das Publikum, eine Herausforderung, und uns wird bei dieser Gelegenheit bewusst, wie sehr wir doch auf ein (vor-)schnelles Kapieren programmiert sind. (Eine Herausforderung auch für den Rezensenten: Lässt sich über diesen fragmentarischen Film anders schreiben als wiederum fragmentarisch, ohne dass daraus ein anderer Film wird?)
Locations, Leerstellen
Der Film geht weite Strecken, seine Suchbewegung ist ganz dezidiert eine topografische und geografische. Schauplätze: Die Straßen, Häuser und Zimmer in Stuttgart-Möhringen, wo alles begann; der Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim, wo Thilo, der Rebell aus gutem Hause, die Prozesse gegen die RAF-Terroristen verfolgte; die schottische Küstenregion, wohin Rudi, der introvertierte Einser-Schüler aus sogenannten einfachen Verhältnissen, nach abgebrochenem Jurastudium geflüchtet war; die Medizinische Fakultät der Uni Heidelberg, wo sich Thilo durch ein ungeliebtes Studium quälte, bevor er bei der entscheidenden Klausur ein leeres Blatt abgab; das triste Hinterhofquartier in Berlin, wo Tilman, der nach der 11. Klasse das Gymnasium verlassen und ein Handwerk gelernt hatte, anonym und kontaktarm ein Dasein unterhalb der Armutsgrenze führte; die Polizeiwache in Heidelberg, wo ein geistig zerrütteter Thilo erschien, um sich des Mordes an Tilman zu bezichtigen…
Der Film befragt diese Orte genauso intensiv, wie er die Gesichter der Hinterbliebenen befragt, notiert das Ambiente, das Milieu, die Atmosphäre, die Sinnesdaten, das Licht, die Farben, die Geräusche. Man könnte fast meinen, die Schauplätze seien die eigentlichen Protagonisten. Viele Bilder dieser locations sind bedrückend menschenleer, so als wollte die Kamera die Toten abbilden, indem sie ihre Abwesenheit zeigt. An einigen Stellen nimmt sie sogar spekulativ deren Position ein, versetzt sich in ihre Perspektive und versucht vor Ort eine Art reenactment der vergangenen Ereignisse aus der Sicht der Betroffenen. Als ob das ginge, als ob wir die Welt tatsächlich mit den Augen anderer sehen könnten. Wir spüren die Anstrengung, die Bemühtheit bei diesen Wiederbelebungsversuchen mittels ‚subjektiver Kamera‘, und wir spüren gleichzeitig ihr Unvermögen. Einmal mehr stellt der Film sich selbst und uns die Frage nach der angemessenen Redeweise.
Unter den Schauplätzen sind zwei, denen eine besondere Rolle zukommt: zwei Garagen, die eine in Berlin, die andere in Heidelberg, in denen sich Tilman und Thilo auf dieselbe Art das Leben nahmen. Standen die beiden Suizide (und möglicherweise sogar alle drei) miteinander in Beziehung, und wenn ja, in welcher? Gegen Ende ruft der Film noch einmal ein paar erzähltechnische Mittel auf, die dazu taugen könnten, eine kohärente Story, eine in sich abgeschlossene Konstruktion zu schaffen – eine, wo die Fragmente endlich ineinandergreifen. Doch die sich anbahnende Zopfdramaturgie wird nicht weiter ausgereizt, gelangt an kein Ziel, dreht sich im Kreis, bleibt merkwürdig blind. So blind wie die Kamera, die, auch wenn sie noch so genau hinschaut, doch immer nur die Leerstellen abfilmen kann, welche die Toten hinterlassen haben.
Mehr an Verkettung kann ich nicht liefern.
Black Boxes
Die Empathie, die Trauerarbeit, das Herzzerreißende, aber auch das Wissen- und Verstehen-Wollen, das Detektivische, die professionelle Distanz, der Objektivismus des nüchtern registrierenden Aufnahmeapparats: all das steckt in den Bildern und Tönen des Films, teilt sich mit über die Form, insistiert in der Inszenierung, tut sein Werk und kommt doch zu keinem bündigen Abschluss. Die Recherche nach den verlorenen Freunden und nach ihrer verlorenen Lebenszeit beschert uns am Ende keine Epiphanie, zeitigt keinen Offenbarungs-Effekt. Thilo, Rudi, Tilman: Black Boxes, deren Inneres uns verschlossen bleiben wird und wohl auch bleiben muss. Auch wenn Psychologie und Soziologie gerne das Gegenteil behaupten: Wir können in diese Dunkelkammern nicht hineinsehen. Und wer unter den Überlebenden wäre anmaßend genug, es zu wollen?
Aber vielleicht geht es dem Film auch gar nicht in erster Linie um die nachträgliche Durchleuchtung des Seelenlebens von Verstorbenen, um die Rekonstruktion und Aufklärung ihrer Motive und Motivationen oder darum, handfeste Wirkursachen dingfest zu machen, mit denen sich die Freitode als Folge von was auch immer ‚erklären‘ ließen. Warum starben Thilo, Rudi und Tilman vor ihrem dreißigsten Lebensjahr von eigener Hand? Warum wollten sie lieber Nichts sein als Irgendwer? Musste alles so kommen, wie es kam? Der Film wendet diese und all die anderen Fragen, die wir den Toten nicht mehr stellen können, zurück auf die, die noch am Leben und „nicht mehr vollzählig“ sind. Er heißt nicht ohne Grund so, wie er heißt.
„Abschied von der Wahrheit“
Wir müssen „Abschied von der Wahrheit nehmen“: So die Kernthese eines polemischen Essays von Peter Krieg aus dem Jahr 1990. Peter Krieg, ein bedeutender innovativer Dokumentarfilmer der 1980er Jahre (Septemberweizen, Das Packeis-Syndrom, Vaters Land), konstatierte damals einen Epochenbruch, einen „Umbruch unserer Wahrnehmungen“, der die Grundlagen unseres Weltwissens und damit auch die eines Dokumentarfilms, der sich immer noch mehr oder weniger den Prinzipien des Cinéma Verité verpflichtet sieht, radikal in Frage gestellt, erschüttert, ja geradezu zertrümmert habe: „Was wir hinter uns lassen, ist, gerade weil es hinter uns liegt, ein gesichertes, also übersichtliches Bild von Realität. Die Moderne hatte der Geschichte einen ‚Sinn‘ verpaßt, ihr sogar eherne Gesetze verliehen, sie teilte die Welt sauber in Gut und Böse auf. (…) Kurz, es gab ein zwar mysteriöses, nebelhaftes, aber doch bei aller Auseinandersetzung darüber grundsätzlich niemals ernsthaft bezweifeltes Gemeinsames – DIE WAHRHEIT.“ Nun aber, nach der „Zäsur zwischen Moderne und Postmoderne“, müssten wir uns „eingestehen, daß Dokumentarfilm in Grunde genausoviel und genausowenig mit Wahrheit oder Realität zu tun hat wie jedes andere Medium – sei es nun die abstrakte Malerei, der Experimentalfilm oder der Science Fiction Roman.“ – „Vielleicht werden wir überhaupt von unseren vertrauten linearen und kausalen Weltbildern Abschied nehmen müssen, wenn wir die komplexen und nichtlinearen Systeme, die wir offensichtlich sind, die uns umgeben und die wir heute in immer größerer Komplexität auch wahrnehmen können, sinnvoll beschreiben wollen.“
Die „komplexen und nichtlinearen Systeme, die wir offensichtlich sind“: Ist das nicht eine schöne Formulierung für die Sichtweise, mit der Andres Veiel in seinem Film die Verstorbenen, aber auch die Überlebenden betrachtet, und für die er die dazu passende Beschreibungsmethode (die angemessene Redeweise) zu finden versucht?
„Dramaturgie der Enttäuschung“
In eine ähnliche Richtung wie Peter Krieg (und im selben ‚postmodernen‘ Diskursumfeld, wie es für die Kunstdebatten der 1990er Jahre typisch war) argumentiert Stefan Reinecke in seiner zeitgenössischen Rezension von Die Überlebenden. Er bescheinigt dem Film „eine raffinierte Dramaturgie der Enttäuschung, die Sinnversprechen aufbaut, um sie zu zerstören.“ Sehr plausibel zeichnet er nach, wie Andres Veiel den naheliegenden Musterbildungen aus dem Weg geht. Thilo und Rudi ließen sich noch einigermaßen zuverlässig etikettieren, nämlich als „Opfer der Verhältnisse: der eisernen Überanpassung der Außenseiter an die schwäbische Normalität“. Doch dieses Erklärungsmuster werde „um so brüchiger, je mehr man über die Figuren erfährt“, und spätestens bei „Tilman, dem Unscheinbarsten des Trios, versagen schließlich alle Muster. Keine Lüge, die aufzudecken wäre (…). Keine Tragödie, keine Erklärung, nur banale Leere.“
Reinecke lässt es aber nicht bei der „banalen Leere“ bewenden (sie ist anscheinend schwer auszuhalten) und legt seinerseits ein Erklärungsmuster über den Film, indem er ihn zeitdiagnostisch auf den Punkt bringt: Die Überlebenden sei „ein Dokumentarfilm über die thirty-something von heute, die schon mit 13 irgendwie zu spät kamen. Woodstock und die Studentenrevolte waren schon vorbei. So wurden die eigenen Revolteversuche zur Nachinszenierung eines Stückes, das schon einmal aufgeführt worden war. (…) Ganz und gar eigene Ideen oder Lebensentwürfe haben die thirty-something nicht zu Wege gebracht. Da waren, bis heute, die großen 68er-Geschwister vor.“
Der Abiturjahrgang 1979 stünde demnach beispielhaft für eine Generation, die unter der Last der Erbschaft, am Gepäck der ebenso großartigen wie abstrakten Ideale, die sie von ihren Vorgängern übernommen hat und mit denen sie gleichwohl nichts Gescheites anzufangen weiß, schwer trägt. In den 1980ern trennten sich die Wege: Die Robusteren und die weniger Ambitionierten fanden Entlastung, indem sie den Weg der Anpassung gingen. Den Angeknacksten und Labilen, die weiterhin von den Gespenstern der Freiheit heimgesucht wurden, den Thilos, Rudis und Tilmans wurde die Last schließlich zu groß, und sie machten sich vorzeitig davon.
Das ist eine kluge Analyse, so kann man es sehen. Aber sind damit der Film, sein Stil und sein Sujet hinreichend beschrieben? Im Rückblick wirkt das Urteil, das Reinecke über die Generation fällt, der er selbst angehört, sehr harsch. Und trifft es nicht die Falschen?
Im Sozialklima der späten Kohl-Ära
Im Oktober 1996, ein paar Wochen, bevor Die Überlebenden bei der Duisburger Filmwoche lief und Reinecke seine Kritik schrieb, war Bundes- und Einheitskanzler Helmut Kohl 5145 Tage im Amt, länger als jeder seiner Vorgänger. Wäre es nicht angemessener gewesen, Reinecke hätte die „banale Leere“, die er als Hintergrundrauschen im Film entdeckt, dem Sozialklima der späten Kohl-Ära zugeschrieben, anstatt sie unter der Hand der Post-68-Generation anzulasten? Thilo, Rudi und Tilman waren es jedenfalls nicht, die unter dem Etikettenschwindel der ‚geistig-moralischen Wende‘ die systematische Verödung der politischen Kultur betrieben haben, und sie sind schon gar nicht für die Verwüstungen im Sozialgefüge haftbar zu machen, für die Kollateralschäden einer vorgeblich ‚alternativlosen‘ neoliberalen Kahlschlag-Politik, mit dem die Kohl-Governance und ihre Profiteure dem Land und seinen Bewohnern noch die letzten verbliebenen, jetzt als überflüssig deklarierten Utopien (Altlasten, an die sich Thilo, Rudi und Tilman immerhin ihr kurzes Leben lang noch klammern konnten) endgültig auszutreiben nicht müde wurden.
Wir müssen uns auch fragen, ob Andres Veiel – trotz aller erkenntniskritischen Skepsis, die aus seinem Film spricht – tatsächlich jenen „Abschied von der Wahrheit“ nehmen wollte, den Peter Krieg als Motto für den Dokumentarfilm der Zukunft seinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg gegeben hatte. „Meine Kamera ist eine Art Seismograf, um Dinge aufzuspüren, die normalerweise nicht sichtbar sind: die tiefere, innere Wahrheit eines Menschen,“ hat Veiel später einmal in einem Interview gesagt. Er ist also weiterhin dieser ominösen Sache namens Wahrheit auf der Spur – oder wie immer man das nennen mag, was einen antreibt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Denn wozu sonst die ganze Arbeit, der Einsatz von Mühe, Energie und Sorgfalt, wenn es hinten raus nichts zu erkennen gibt? Dass wir dann meistens nicht nur eine, sondern mehrere Wahrheiten erkennen, dass also Wahrheit vielleicht nur im Plural zu haben ist, spricht nicht gegen sie.
Meine Kamera ist eine Art Seismograf, um Dinge aufzuspüren, die normalerweise nicht sichtbar sind: die tiefere, innere Wahrheit eines Menschen.
Triptychon
Die Überlebenden propagiert keine Thesen, betreibt keine Agenda, fällt keine Urteile, es lässt sich noch nicht einmal wirklich behaupten, dass der Film für oder gegen etwas argumentiert. So können wir ihn – aus der Distanz von fast 30 Jahren – auch ganz einfach als das sehen, was er ist: als Bild, zusammengesetzt aus Bildern, als ein Triptychon, das sich der ‚sinnenden Betrachtung‘ anbietet, wie man früher sagte. Triptychon: ein dreiteiliges Bild mit beweglichen Seitenteilen (Rudi, Tilman) zum Verschließen des Mittelteils (Thilo). Die Teile sind miteinander verbunden und gleichzeitig voneinander getrennt. Ein Flügelaltar, freilich ein profaner. Zu Beginn klappt Veiel sein Passionsbild auf, am Ende klappt er es wieder zu, mit der gleichen lakonischen Geste. Zum Schluss kehrt er noch einmal zurück zum Schloss Solitude. Er macht nicht den Fehler, das Klassenfoto von 1977, auf dem die Toten und die Überlebenden noch vereint waren, abschließend nochmal zu zeigen. Stattdessen sehen wir, wie die Autos der Überlebenden eins nach dem anderen vom Parkplatz fahren, die Auto-Karawane zieht davon und verschwindet langsam in der Nacht, bis die roten Rücklichter in der Dunkelheit verlöschen. Schwarzblende, Abspann.
Die verwendeten Zitate stammen aus:
Die Jagd nach dem Außergewöhnlichen. Dokumentarfilmer Andres Veiel über seine Arbeitsweise bei BLACK BOX BRD, Plattform 24vierundzwanzig.de der Deutschen Filmakademie, 2001
Peter Krieg: WYSIWYG oder das Ende der Wahrheit. Dokumentarfilm in der Postmoderne. In: Jürgen Felix (Hg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader. Marburg: Schüren Verlag 2002
Stefan Reinecke: Die Überlebenden, epd Film, November 1996
20. Duisburger Filmwoche – Diskussionsprotokoll vom 8. November 1996
Bildnachweise
Porträtfoto Andres Veiel: © zero one film/Arno Declair
alle anderen Abbildungen: © Deutsche Kinemathek (Screenshots aus Die Überlebenden)