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Tilo Jung auf der re:publica 2023 in Berlin © s.u.

Wer bist du und was machst du?

Tilo Jung und seine Interview-Plattform Jung & Naiv

von Achim Forst

Unspektakulärer geht es nicht: Ein junger Mann sitzt an der Querseite eines rechteckigen Tischs und stellt einfache, kurze Fragen, der/die Interviewte sitzt ihm gegenüber und antwortet – und das meist mehr als eineinhalb Stunden lang, manchmal auch drei. Wikipedia sagt über Tilo Jung und sein Webformat Jung & Naiv – und manche Journalisten wiederholen das -, er ,spieleʻ in den Gesprächen einen jungen Mann, der naive Fragen stellt.

Am Anfang hieß die Interview-Reihe im Untertitel noch Politik für Desinteressierte. Trotzdem wollte Tilo Jung schon damals keine Politikhäppchen reichen und gab sich nie mit der ersten Antwort des/der Befragten zufrieden. Immer hakte er nach. „Das verstehe ich nicht.“ oder „Kannst du das noch mal erklären?“ warf und wirft Jung dann ein. Weil er nicht mit der Strategie eines Politikjournalisten vorgeht, sondern immer seiner Neugier und seiner Intuition folgt, sind seine Interviews so wertvoll und nie vorhersehbar.

Jungs freundliche Hartnäckigkeit machten Jung & Naiv schnell bekannt und brachten Jung „für Idee und Moderation“ 2014 den Grimme Online Award in der Kategorie Information ein. „Eine Interviewreihe, die von unverblümten, eben ,naivenʻ Fragen und den damit entlockten, teils entlarvenden Antworten von hochrangigen Politikern, Experten und Bürgern lebt“, lobte die Jury in ihrer Begründung.

Vorbilder Jon Stewart und Stephen Colbert

Tilo Jung und seine Sendung sind voller kleiner Widersprüche. Von den etablierten Politkollegen grenzt sich der Journalist gerne ab und orientiert sich lieber an berühmten US-amerikanischen Polit-Talk-Hosts wie Jon Stewart und Stephen Colbert. Und doch drängte es ihn schon bald energisch in die Bundespressekonferenz (BPK). Weil er dafür keine Legitimation besaß, wollte man ihn zuerst nicht zulassen, und so bekam Jung erst nach Protesten von Journalisten und Politikern schließlich das BPK-Ticket.

Seine Interviews beginnt Tilo immer mit denselben schnell hingenuschelten Fragen: „Wer bist du?“ und „Was machst du?“, oft noch ergänzt durch ein kurz nachgeschobenes „Und warum?“ So begrüßte der Jung & Naiv-Host in Folge 597 im September 2022 auch Andreas Voßkuhle, den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und unterhielt sich dann mit ihm vier Stunden und sechs Minuten lang (einschließlich der Fragen der Netzcommunity). Das Gespräch mit Wolfgang Thierse (SPD) kam dagegen gar nicht zustande, so berichtete 2014 die FAZ in einem Artikel, weil dieser sich nicht duzen lassen wollte.

Und: „Steinbrück versuchte zurückzusiezen – ,ich werde mich nicht an das junge Publikum heranwanzenʻ, soll er vor dem Interview für Jung & Naiv noch gesagt haben. Nach sieben Minuten knickte er ein und war beim Du. Jung rückt den Leuten gnadenlos auf die Pelle. Noch so ein Prinzip.“

Tilo Jung als Moderator auf den Jugendmedientagen 2015 in Bonn © s.u.

Und noch ein Widerspruch: So einfach und puristisch Jung im Studio seine Gespräche führt, er ist auch gern unterwegs: Finanziell und geistig unterstützt von seinen Crowdfunding-Fans fuhr er mit seiner kleinen Crew 2014 anlässlich der Europawahlen nach Großbritannien und Rom und später wegen der Krim-Annektion in die Ukraine, um in Interviews vor Ort etwas über den Krieg zu erfahren.

Vom BWLer zum Antikapitalisten

Tilo Jung, 1985 geboren in der Kleinstadt Malchin in Mecklenburg-Vorpommern, schrieb schon als Jugendlicher für seine Regionalzeitung, den Nordkurier. Doch nach einem Auslandsjahr als Schüler in den USA, wo er die Möglichkeiten des Kapitalismus kennenlernte, wollte er erst einmal möglichst schnell reich werden: „Ich dachte: Ok, wie kann ich das werden? Ich studiere BWL – ich bin ja kreativ, dann kommt mir eine Idee, und damit werde ich reichʻ“, erzählte Jung im SPIEGEL-Podcast Moreno+1 (7. Juni 2023). Er fand aber gleich einen interessanten Job in Berlin: Tilo wollte und sollte International Business Administration studieren und parallel beim Pharma-Konzern Schering arbeiten. Doch plötzlich erschien den Verantwortlichen der junge Mann offenbar zu eigenständig, „zu weit“ im Vergleich zu den anderen in seiner Gruppe – und sie kündigten ihm.

So begann Jung tatsächlich ein BWL-Studium an der Humboldt-Universität und sammelte parallel Berufserfahrungen bei diversen Startup-Unternehmen und Online-Shops. In jener Zeit hatte er sein persönliches ,Saulus-Paulus-Erlebnisʻ: Tilo erkannte, dass seine Arbeitgeber, die angesagten neuen deutschen Internetplattformen von studiVZ bis Zalando, nur die Kopien US-amerikanischer Vorbilder waren. Kreative, neue Ideen waren überhaupt nicht gefragt: Denn die Investoren warteten nur, meist erfolgreich, auf den lukrativen Buy-out durch Google und Facebook. „Da ist mir aufgegangen: Die werden ja nur reich mit gestohlenen Ideen! Das konnte ich nicht mit mir vereinbaren.“ Tilo verlor den Glauben an den Kapitalismus und schmiss sein Studium.

Tilo Jung beim Forum: „Hauptsache jung, Hauptsache laut: Auslaufmodell Journalismus?“ auf der re:publica im Juni 2023 © s.u.

Nicht über Nacht, aber in ziemlich kurzer Zeit wurde dann aus dem kapitalismusaffinen BWLer ein engagierter kapitalistisch-kritischer Journalist. (Heute sagt Jung, er sei sogar mehr, nämlich „antikapitalistisch“.) 2011 stieg er als freier Mitarbeiter beim Medienmagazin des RBB-Senders Radio Einsein und produzierte Interviews und Reportagen über Social Media und Politik.

Selbsttherapie mit der Handykamera

Als Radiomann hatte der junge Reporter überhaupt keine Probleme, fremde, auch prominente Menschen zu befragen, aber wenn eine Kamera im Raum war, fing er vor Aufregung manchmal an zu stottern. Deshalb riet ihm ein Freund, sich bei seinen Interviews einfach mit dem Handy zu filmen und dadurch daran zu gewöhnen. Ob diese Geschichte wirklich stimmt, die Jung seinem verblüfften Podcast-Host Juan Moreno erzählte?

Wer Tilo Jung in seinen Gesprächen gesehen hat, kann das kaum glauben. Als er 2012 auf einer Bertelsmann-Gala, offenbar erstmals mit einem Handy gefilmt wird und Promi Günther Jauch Fragen der Facebook-Community stellt, wirkt er ein bisschen albern, aber überhaupt nicht aufgeregt.

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Seine Video-Podcast-Premiere: Tilo Jung interviewt Günther Jauch 2012 auf einer Bertelsmann-Gala.

Das verschwommene siebenminütige Interview lädt Jung in seinem neuen YouTube-Kanal AllYouCanAsk hoch.

Dort folgt ein ähnliches Gespräch mit Erika Steinbach, der Vorsitzenden des Bund der Vertriebenen, in dem Jung seinen Stil und sein Format schon fast gefunden hat. Unter dem Kanalmotto „Keep calm and ask anything“ stellt er der konservativen CDU-Bundestagsabgeordneten einfache Fragen der Community und hakt bei den routinierten Antworten der Politikerin scheinbar naiv nach – charmant, aber beharrlich. Mit seinem Partner Jörg Wagner schnitt er aus den knapp anderthalb Stunden Gespräch dann 36 kurze Clips für den Kanal.

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Jetzt mit zwei Kameras: Tilo Jung besucht 2012 Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bund der Vertriebenen.

Und das warʻs auch schon: Mit 68 Abonnenten (Stand: November 2023) blieb der YouTube-Kanal AllYouCanAsk bis heute, wie er war. Tilo wandte sich neuen Dingen zu: 2013 filmte er mit dem eigenen Handy das erste von bis Dezember 2023 fast 680(!) langen Jung & Naiv-Gesprächen.

Richtig & Wichtig: nicht im ZDF

Schon im folgenden Jahr kamen die Preise: neben dem Grimme Online Award auch der 2. Platz beim Axel-Springer-Preis in der Kategorie Internet. Nachdem Tilo jetzt das vielleicht wichtigste Karriereziel erreicht hatte, nämlich sein eigener Chef zu sein, wurde auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen auf Jung & Naiv aufmerksam. Der Medien-Dienst DWDL meldete im Dezember 2017: „Aufzeichnung im Januar – ZDF pilotiert journalistisches Format mit Tilo Jung.“ Der Name der Sendung, die auf ZDFneo in Serie gehen sollte: Richtig & Wichtig.

Danach 15 Monate Schweigen. Erst Mitte April 2019 berichtete DWDL unter der Dachzeile „Wir sind dem ZDF wohl peinlich“: „ZDFneo versendete neue Show mit Tilo Jung in der Nacht“. Genauer: Es war 4.55 Uhr morgens, als die Show bei der linearen Ausstrahlung im ZDF noch 60.000 Zuschauer hatte und danach noch 50.000 Abrufe auf YouTube. Doch das spielte keine Rolle mehr: Das ZDF hatte schon vorher bekannt gegeben, dass dem Piloten keine weiteren Sendungen mehr folgen würden.

Schaut man sich heute, Jahre später, die Pilot-Sendung auf YouTube an, ahnt man, warum damals so entschieden wurde, aber verstehen kann man es trotzdem nicht.

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Verhinderter Start beim ZDF: Tilo Jungs Pilot-Sendung Überwachungsstaat für das Format Richtig & Wichtig für ZDFneo

Ein Vorgänger von Böhmermann

Es ging um den Überwachungsstaat: Jung führte witzig, scharf und eloquent, mit allen visuellen Mitteln der Fernsehsatire vor, was die Datensammelleidenschaft des Staates bedeutet und wohin sie uns führen kann. In pointiert montierten Ausschnitten traten dabei Angela Merkel, Innenminister Mezière und Joachim Gauck auf. – So etwas bietet in ihren besten Momenten die heute show, und fast genauso arbeitet heute Jan Böhmermann in seinen investigativen ZDF Magazin Royale-Shows.

Moreno: Wieso bist du nicht beim Fernsehen?
Jung: Das musst du das Fernsehen fragen.
Moreno: Aber du würdest schon ganz gern?
Jung: Wenn ich das so machen könnte, wie ich das will. Dass ich entscheiden kann, mit wem ich rede, über welche Themen. Und ich höre eher: „Wir haben schon genug unkontrollierbare Typen bei uns. Wir brauchen nicht noch einen.“

Tilo Jung

im Interview mit Juan Moreno im Podcast
Moreno+1

Warum also schickte das ZDF damals, 2018, Tilo Jung wieder zurück ins Internet, statt sich über die Entdeckung eines jungen charismatischen Polit-Talk-Moderators zu freuen? – Vielleicht wollte Jung tatsächlich keine übergeordneten hierarchischen redaktionellen Entscheidungen akzeptieren oder seine Person und Persönlichkeit passten einfach nicht ins Polit-Comedy-Portfolio des ZDF. Statt Richtig & Wichtig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ging und geht es für Tilo Jung also Jung & Naiv im Netz weiter. Zum Glück.

Bildnachweise

Tilo Jung auf gelbem Stuhl, re:publica 2023: Jan Zappner, re:publica, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons
Tilo Jung, Jugendmedientage 2015: Florian Timpe, Jugendpresse, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Tilo Jung beim MONITOR-Forum, re:publica 2023, auch Zitat-Kasten-Foto: Jan Zappner, re:publica, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

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