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Web-Porträt

Die ganze Musik und mehr

Die Datenbank AllMusic.com und ihr Gründer Michael Erlewine

von Achim Forst

Wer hätte das gedacht: Die Gründung der größten Datenbank für populäre Musik und die Erfindung des Punk haben miteinander zu tun. Und nebenbei kommt auch noch Bob Dylan vor.

Musikhören via Radio oder CD ist ja seit Jahren nicht mehr angesagt: Wer sich für bestimmte Musik interessiert, will heute nicht mehr auf dem Sofa vor der Stereoanlage sitzen und hat auch keine Lust und Energie, Sendezeiten in den Radioprogrammen herauszufinden und dann auch noch zur richtigen Zeit sein Endgerät einzuschalten. So nutzen die meisten (?) mobil die Audiotheken der Radiosender oder gehen gleich zu den Audio-Streamingdiensten.

Informationen: Fehlanzeige

Wer aber nicht nur hören, sondern auch etwas über die Musik und die Künstler erfahren will, ist bei Spotify, Amazon Music, Apple Music, YouTube, Jamendo und last.fm meist an der falschen Adresse. Auf den Thumbnails der Dienste kann man zwar das art work der jeweiligen Alben bewundern und erfährt vielleicht noch das Datum oder Jahr der Veröffentlichung, aber das war’s auch schon. In den Heftchen der CDs und erst recht in den liner notes der alten Vinyl-LPs bekam man dagegen früher oft anspruchsvolle Texte bis hin zu kleinen Essays, dazu diskografische (auf die vorliegende „Scheibe‟ bezogene) Informationen zu Kompositionen und Künstlern – oder wenigstens ein freundliches Grußwort der Musiker. Die Streamingriesen Spotify & Co. verraten dagegen nicht einmal mehr die Namen der Mitwirkenden – Musiker, Komponisten – und den Ort und das Datum der Aufnahmen sowieso nicht. Und nur Stars oder kommerziell aufgehende Sternchen werden bei Spotify mit teilweise lobhudelnden bio-diskografischen Texten gewürdigt, die von ihnen selbst oder ihren Agenturen gepostet wirden sind.

Digital Natives finden das wahrscheinlich ganz normal. Schließlich kann ja jede(r) hartnäckige Musik-Nerd einfach ‚ergoogeln‛, was er/sie wissen will. Und überhaupt: Wer braucht schon sowas?

Also schauen wir selbst nach im Netz: Wenn es sich um eine(n) prominente(n) Künstler(in) handelt, hilft natürlich immer Wikipedia weiter, am besten die in der Sprache der gesuchten Musiker. Aber was ist mit den vielen anderen, die keine eigenen Wikipedia-Einträge haben?

Was man wissen will und noch viel mehr

Wer weiter sucht, stößt früher oder später auf die Datenbank AllMusic.com, die 1991 unter dem Namen All Music Guide gegründet wurde. Hier findet man alles, was man über Musiker(innen) und ihre Alben wissen will – und noch viel mehr. Auf jeden Fall mehr als all die CD-Faltblätter und Plattentexte zusammen bieten konnten. Und auf einmal ist man als ‚Vorgeborener‛ des digitalen Zeitalters froh, heute zu leben und die Informationsvorteile des Netzes für seine Leidenschaft nutzen zu können. Denn früher war eben überhaupt nicht alles besser.


Michael Erlewines Blues-Band The Prime Movers 1966 in Ann Arbor, Michigan, USA © s.u.

Wie alles anfing: Vorgruppe für Cream

Der Mann, dem wir das zu verdanken haben, heißt Michael Erlewine, ein Folk-Blues-Musiker der amerikanischen Flower-Power-Generation der 60er Jahre. Wie Bob Dylan, der 1941 zwei Monate vor ihm geboren wurde, interessierte sich Erlewine in seinem Wohnort Ann Arbor, Michigan, mehr für Folk und Blues als für den allgegenwärtigen Rock‛n Roll. Mit seinem Bruder Dan gründete Michael als Lead-Sänger und Gitarrist 1965 die Blues-Band The Prime Movers.

Die Gruppe spielte daheim in Clubs, später auch in Detroit und Chicago, bevor sie im Sommer 1967 dem Ruf der Hippies folgend nach San Francisco zog. Auch dort konnten die Mitglieder von ihrer Musik kaum leben, brachten es aber durch Zufall (als Vertreter einer anderen Band) immerhin zur Vorgruppe der gerade aufsteigenden Superband Cream. Und 1968 durfte Michael Erlewine auf dem Debütalbum des Rockmusikers Bob Seger Mundharmonika spielen. Doch der nationale Durchbruch der Prime Movers blieb aus, und 1970 löste sich die Gruppe auf.

Vom Blues-Rock zur Astrologie

Michael Erlewine kümmerte sich nun mehr um seine junge Familie und begann sich für Computer zu interessieren. Das passte zu seiner anderen Leidenschaft: 1977 gründete Erlewine Matrix, die erste Softwarefirma der USA für Astrologie, und schrieb im Lauf der Jahre Dutzende Bücher über Astrologie und Esoterisches aus Fernost. Mit einer Pause in den 90er Jahren leitet Erlewine zusammen mit seinem Bruder Stephen als Chef-Programmierer die Firma Matrix bis heute als Direktor.

Der unzufriedene Musiknerd

Aber auch die Leidenschaft für die Musik blieb: Nachdem Erlewine einen großen Teil seiner Plattensammlung verkauft hatte, begann er in den 80er Jahren CDs zu sammeln, um mit dem neuen Medium seine Lieblingsmusik wieder neu zu hören. Dabei wuchs in Erlewine der Ärger über die Vielzahl schlecht gemasterter und mehrfach überspielter Alben, die auf dem Markt waren. So beschloss er, eine Musikdatenbank zu gründen, die neben Biografien zuverlässige diskografische Daten, Besprechungen und Beurteilungen enthalten sollte.

Michael Erlewine, 2008 – © s.u.

Das Ergebnis war die Gründung von All Music Guide (AMG), einer Datensammlung, die Erlewine zusammen mit dem russischen Mathematiker und Datenbankexperten Vladimir Bogdanov sowie weiteren Redakteuren und Autoren erst einmal ganz altmodisch in gedruckter Form als Buch herausbrachte. Die erste Ausgabe des All Music Guide erschien 1992 mit einem Umfang von 1200 Seiten, einer beigelegten CD-ROM und dem Untertitel The Best CDs, Albums & Tapes: The Expert’s Guide to the Best Releases from Thousands of Artists in All Types of Music. Nach dem Umzug ins Internet (ab 1994) arbeiten heute mehr als 900 Autoren für den AMG, die weltweit größte Musik-Datenbank für populäre Musik.

Sie nannten ihn Iggy

Und was haben nun Punk und Bob Dylan mit All Music und Michael Erlewine zu tun? – Gleich am Anfang, Mitte der 60er Jahre, als die Prime Movers den Gipfel ihrer Popularität im südöstlichen Michigan erreichten, stieg ein 18-jähriger Drummer in die Band ein. Er hieß James Osterberg, doch weil er vorher in einer Band namens The Iguanas (Die Leguane) getrommelt hatte, gaben ihm die anderen den Spitznamen Iggy. Die zwei Jahre in der Band, schrieb sein Biograf, weckten in dem jungen Mann das Bewusstsein für Kunst, Politik und Experimente, das er später als Künstler Iggy Popp und als Godfather of Punk mit seiner Gruppe The Stooges weiter entwickeln konnte.

On the road mit Bob

Und Bob Dylan: Zusammen mit ihm teilte All Music-Gründer Erlewine die Erfahrungen, als unbekannter Musiker on the road zu sein, per Autostopp und ohne Unterkunft, unterwegs zu Konzerten, aber auch unterwegs zur eigenen künstlerischen Identität und zum Erfolg. Erlewine schrieb 2011 über seine Zeit mit Dylan: wie sie 1961 gemeinsam nach New York getrampt waren, dort mit Zigaretten, Kaffee und Alkohol herumhingen, bevor sie abends in Gerde’s Folk City den Folkies zuhörten, die es schon geschafft hatten. Und über seine Erinnerung an eine Fahrt von New York zu einem Konzert in Boston: Dylan am Straßenrand, mit einer großen akustischen Gitarre an der Schulter, während Erlewine den Daumen hochhielt:

I remember Dylan was singing the Eric Von Schmidt tune ‚Baby Let Me Follow You Down‛ in particular. Even though I did not know at the time that this was ‚Bob Dylan‛, it still was pretty cool. This is the life we all wanted to live back then. We were chasing the Beats.

Michael Erlewine

Blues-Sänger + -Gitarrist, Gründer von AllMusic.com

The review: Michael Erlewine waiting with Bob Dylan

Keep in mind that back then Bob Dylan was still trying to find out for himself who he was. This was before he recorded his first album. (…) We sat there for hours drinking coffee and smoking cigarettes while we waited for a review of a concert or ‘set’ that Dylan had done the night before.
This was Monday April 23, 1962 and Dylan had played at set the night before in the Michigan Union Ballroom as part of the U-M Folk Festival that had featured the incredible Jesse Fuller (from San Francisco). They even spelled Dylan’s name wrong, that’s how new he was to publicity, calling him “Bob Dillon.” (…)
I remember that Dylan was very concerned about how his gig went over. That is most of what we talked about. He wanted to know how he was received. (…)
When the local Michigan Daily paper finally came out and we got a copy, sure enough Dylan got a good review. With that he was soon at the edge of Ann Arbor and hitchhiking to Chicago and the folk scene there.

Bob Dylan am 28. August 1963 beim
Civil Rights March in Washington, D.C. © s.u.

Michael Erwine 2011 in einem Post auf seiner Webseite http://www.michaelerlewine.com

Achim Forst
Liebt Fahrradfahren und Filme-Editieren, Podcasts- und Musik-Hören und -Spielen. War 30 Jahre Redakteur der Filmredaktion 3sat des ZDF, Autor von TV-Dokumentationen, vorher freier Film- und Musikjournalist, Hörfunkautor und Programm-Mitarbeiter von Filmfestivals. Beschäftigt sich aus familiären Gründen seit Februar 2022 besonders mit der russischen und russischsprachigen Opposition gegen den Ukraine-Krieg.

Bildnachweise

AllMusic-Logo: © Allmusicderivative work CrissCross, via Wikimedia Commons
The Prime Movers: © Merlewine at English Wikipedia, via Wikimedia Commons
Michael Erlewine: © Michael Erlewine, at English Wikipedia, via Wikimedia Commons
Iggy Pop 1965: © Omega, Ann Arbor High School, at English Wikipedia, Public domain
Iggy Pop 2018: © Raph_PH, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons
Michael Erlewine, Zitatfoto: © Michael Erlewine, Merlewine, at English Wikipedia, Public domain, via Wikimedia Commons
Bob Dylan: © Rowland Scherman, Public domain, via Wikimedia Commons

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